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# taz.de -- Erinnerungspolitik in Polen: Den Krieg so zeigen, wie er war
> Zum ersten Mal stellt ein polnisches Museum die Zivilbevölkerung im
> Zweiten Weltkrieg ins Zentrum. Die Regierung verlangt mehr Patriotismus.
Bild: Im Zwiespalt der Geschichte: das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdansk
Gdansk taz | Die überdimensionale Hitlerbüste aus weißem Marmor ist ein
Zufallsfund: 2015 stießen Arbeiter auf die Skulptur, als sie den Garten des
Nationalmuseums in Gdansk, dem früheren Danzig, umgruben. Heute steht die
von Hitlers Lieblingsbildhauer Josef Thorak geschaffene Büste im neuen
Museum des Zweiten Weltkriegs. Da der totenbleiche Hitlerkopf rechts an der
Schläfe rot verfärbt ist, sucht man unwillkürlich nach dem Einschussloch.
Doch die rote Farbe stammt aus dem Erdreich. Mehrere Jahrzehnte lag das
Werk dort unentdeckt.
Am Donnerstag eröffnet das Museum nach acht Jahren Bau- und Planungszeit
offiziell – und Gründungsdirektor Paweł Machcewicz erwartet einen
Massenansturm. „Wir standen schon mehrfach kurz vor dem Aus“, erzählt der
50-Jährige. „Auch jetzt ist nicht sicher, ob wir die nächsten Tagen
überstehen werden.“ Das Geschichtsmuseum, ein Prestigeprojekt der vorigen
Regierung, war von Anfang an Ziel permanenter Angriffe rechter Historiker
und Publizisten.
Die eigentlichen Probleme begannen jedoch mit der neuen Regierung [1][der
nationalpopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)] im Herbst
2015. Diese hat sich eine „[2][neue Geschichtspolitik]“ zum Ziel gesetzt,
die jede kritische Aufarbeitung der Vergangenheit verhindert – wenn nötig
sogar mit Gefängnisstrafen. Inzwischen ist die Rückkehr zum patriotischen
„Helden- und Opfermythos“ aus der Zeit der polnischen Teilung im 18. und
19. Jahrhundert offizielles Regierungsprogramm.
Tief unter der Erdoberfläche markieren Originalpflastersteine der einstigen
Danziger Großen Gasse den historischen Ort des Museums: Am 1. September
1939 begann hier der Zweite Weltkrieg. Das Linienschiff
„Schleswig-Holstein“ beschoss die Westerplatte mit dem polnischen
Munitionsdepot. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“, log Adolf
Hitler damals im Berliner Reichstag.
## Holocaust steht nicht im Zentrum
Im Jahr 1945 lagen halb Europa und Asien in Trümmern, auch die Große Gasse
in Danzig war zerstört. Rohe Betonwände reichen unendlich hoch hinauf. So
macht das Museum den Eindruck eines großen Bunkers mit 18
Ausstellungsräumen.
„Was wir zeigen, ist der Krieg, wie ihn die Zivilbevölkerung erlebte – in
Polen und auch in anderen Ländern“, erläutert Machcewicz. Gerade in Polen
mit seinen vielen zivilen Opfern sei dies gerechtfertigt. Denn von den 5,5
Millionen polnischen Staatsbürgern, die im Krieg ihr Leben verloren, waren
nur 300.000 Soldaten. Alle anderen – über drei Millionen polnische Juden
und rund zweieinhalb Millionen zumeist katholischer Polen – waren
Zivilisten.
Der Rundgang beginnt in einem düsteren Stehkino mit halbrundem
Panoramabildschirm. Schnelle Bildsequenzen erinnern an den Aufstieg von
Diktatoren wie Hitler, Stalin, Mussolini und Franco. Überall jubeln
fanatisierte Massen den „nationalen Führern“ zu. Auch in Japan und Polen.
Überall soll die Feindpropaganda das „eigene Volk“ zusammenschweißen. Der
nationale Massenrausch mit „Reichsführer“ Adolf Hitler an der Spitze führt
innerhalb weniger Jahre zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
„Wir haben uns dazu entschlossen, die deutsche und sowjetische Besatzung,
den Bombenkrieg, die Befreiung, den Sieg und die erneute Unterdrückung
thematisch zu zeigen, sodass ein Vergleich möglich wird“, erläutert
Machcewicz. Dem Holocaust wird zwar ein großer Teil der Ausstellung
gewidmet, doch er steht nicht im Zentrum. Für den Hunger im Krieg stehen
verrostete Blechnäpfe und löchrige Emailleteller, die in Kulmhof, dem
ersten NS-Vernichtungslager im deutsch besetzten Polen, gefunden wurden.
Sie gehörten Juden im Ghetto Litzmannstadt (Łódź), die in Kulmhof vergast
wurden.
## Polen kommt überall vor
Ein russisches Mädchen beschreibt in seinem Tagebuch, wie es bei der
Belagerung Leningrads zusehen musste, dass nach und nach die ganze Familie
verhungerte. Fotos von Leichenbergen verhungerter Sowjetsoldaten in
Gefangenenlagern der Wehrmacht erinnern an die Millionen Opfer in der
Sowjetunion.
Die verschiedenen Formen der Kollaboration kommen zur Sprache, die meist
von den Nazis inspirierten Pogrome der Lokalbevölkerung gegen ihre
jüdischen Nachbarn, ebenso wie der Widerstand dagegen. Polen kommt in jedem
der Ausstellungssäle vor. Machcewicz zückt wieder das Handy und prüft die
Nachrichten. Entschuldigend sagt er: „Vor einem Jahr habe ich per Mail von
einem Bekannten erfahren, dass der neue Kulturminister Piotr Gliński unser
Museum liquidieren will.“
Damals hatte Gliński das Museum des Zweiten Weltkriegs mit einem geplanten
Westerplatte-Museum zusammenlegen wollen. Mit diesem Trick hätte er die
Arbeitsverträge aller bisherigen Museumsmitarbeiter auflösen können. Doch
Machcewicz klagte dagegen. Am 5. April wird sich das Gericht erneut mit dem
Fall beschäftigen.
22 Mar 2017
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## AUTOREN
Gabriele Lesser
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