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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Polen zuerst
> Die polnische Regierung ist von nationaler Eitelkeit getrieben. Sie will
> die EU schwächen und die deutsche Vormacht einschränken.
Bild: Mit verbissenem Drang zum nationalen Alleingang: die Herren von der PiS
Das eigene Land zuerst – das ist die polnische Antwort auf die aktuelle
EU-Krise. „Der Brexit ist ein Faktum“, sagte neulich die polnische
Regierungschefin Beata Szydło mit Blick auf die britische Entscheidung zum
EU-Austritt. Die EU müsse sich entwickeln, „aber bei voller Bewahrung der
autonomen Rechte der Mitglieder“.
Der politische Strippenzieher im Land weiß auch, wie das zu erreichen ist.
Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit
(PiS), will die Nationalstaaten stärken und die Kompetenzen der EU
reduzieren. Konkret will er eine umfassende Vertragsänderung durchsetzen,
das Parlament in Straßburg entmachten und vor allem das
Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat wieder einführen. Das bedeutet ein
Vetorecht für jede Regierung.
Kaczyńskis Einspruch gegen die Stimmverteilung in der EU ist nicht neu. Als
Ministerpräsident versuchte er bereits Anfang 2007 den Vertrag von Lissabon
zu torpedieren. Hauptgrund seines Protests damals wie heute: die doppelte
Mehrheit. Im Zuge der EU-Reform war geplant, das im Vertrag von Nizza
festgelegte Stimmrecht neu zu regeln. Für den Beschluss neuer Gesetze
sollte demnach die Zustimmung von Mitgliedstaaten mit einem Anteil von
mindestens 50 Prozent an der EU-Bevölkerung nötig sein. Das bedeutete mehr
Macht für das wiedervereinigte 80-Millionen-Einwohner-Land und weniger
Einfluss für das 40-Millionen-Einwohner-Land und die kleineren Staaten.
Kaczyński war der festen Überzeugung, dass die neue Stimmengewichtung ein
gezielter Angriff Deutschlands sei, der die polnische Souveränität
unterminieren wolle. Seine Beschwerden waren von überheblichen Tönen
geprägt, die antideutsche Ressentiments bedienten. „Wenn Polen nicht die
Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht hätte, wäre Polen heute ein Land mit einer
Bevölkerung von 66 Millionen“, argumentierte Kaczyński, womit er implizit
mehr Stimmen für den polnischen Staat von heute forderte.
## Instrumentalisierung der Kriegsopfer
Für den Warschauer Machthaber ist die Instrumentalisierung der polnischen
Kriegsopfer seit jeher Leitprinzip einer Außenpolitik, die Polen eine
außerordentliche Position auf der internationalen Bühne sichern will. Mit
diesem Ziel ist jede Art von Souveränitätsverzicht unvereinbar. „Polen darf
nicht zu einem Regierungsbezirk Brüssels degradiert werden!“, rief
Kaczyński im Sejm, als die Parlamentsabgeordneten am 1. April 2008 über die
Ratifizierung des Lissabon-Vertrags berieten.
Da saß er allerdings schon in der Opposition, nachdem die EU-freundliche
Bürgerplattform die Wahlen vom Oktober 2007 gewonnen und mit Donald Tusk
die Regierung übernommen hatte. Damals wollte Kaczyński als
PiS-Fraktionschef eine Präambel zum Ratifizierungsgesetz durchsetzen, in
der die Souveränität des Landes unterstrichen werden sollte. Ein weiterer
Zusatz sollte festhalten, dass Polen nicht die EU-Grundrechtecharta
übernimmt, die Kaczyński als Instrument zur Liberalisierung der
Abtreibungsregelungen betrachtete. Als Tusk die Präambel wie die
Zusatzklausel ablehnte, stimmte die PiS dem Lissabon-Vertrag
zähneknirschend zu.
Wenn Kaczyński auf eine Änderung der EU-Verträge drängt, will er sich als
Verteidiger der nationalen Interessen profilieren. An diesem Image des
PiS-Chefs arbeitet heute die ganze Regierung. So bezeichnet Außenminister
Witold Waszczykowski die EU-Initiative Kaczyńskis als den polnischen
Beitrag zum Aufbau „einer Union der freien Nationen und gleichberechtigten
Staaten“. Aus Nationalstaaten also, die auf allen Gebieten souverän sind,
die nicht in die Zuständigkeit der EU fallen – die sich allerdings nur noch
um den Binnenmarkt und die Umwelt kümmern soll. Und künftig auch um die
Verteidigung.
Wie man das in Warschau versteht, machte Waszczykowski auch auf der letzten
Münchner Sicherheitskonferenz deutlich. Als EU-Vizekommissionspräsident
Frans Timmermans der PiS-Regierung vorhielt, die geplante Justizreform
verstoße gegen den EU-Vertrag, bekam er die Antwort: Die Kommission solle
sich nicht in die polnische Innenpolitik einmischen und Polen die
Entscheidung überlassen, wie die eigene Verfassung zu interpretieren sei.
## Nationaler Egoismus
Hintergrund dieses Schlagabtauschs ist das Vertragsverletzungsverfahren,
das die EU-Kommission im Januar 2016 gegen Polen wegen der Neuregelungen
für das polnische Verfassungsgericht eingeleitet hat. Sofort nach ihrem
Wahlsieg vom Oktober 2015 hatte die PiS-Regierung mit ihrer knappen
Parlamentsmehrheit mittels einer „Reform“ beschlossen, [1][das
Verfassungsgericht unter Regierungskontrolle zu bringen]. Kritiker im In-
und Ausland sehen darin den Versuch, das letzte unabhängige Staatsorgan
handlungsunfähig zu machen und die polnische Demokratie zu untergraben.
Doch die PiS-Regierung, sprich Kaczyński, lässt sich von niemandem
reinreden, schon gar nicht von der Europäischen Kommission. Das lässt ihr
nationaler Egoismus und ihre nationale Eitelkeit nicht zu. Zugleich will
sie jedoch mit entscheiden, wer die führende Rolle in der EU spielen darf.
Auf jeden Fall will sie die deutsche Vormacht eingeschränkt sehen. In
Berlin verstehe man die polnischen Interessen nicht, heißt es in Warschau.
Als Beleg dienen der geplante Bau der zweiten Ostseepipeline von Russland
nach Deutschland oder die deutsche Zurückhaltung bei der Stationierung von
Nato-Truppen in Osteuropa.
Am schärfsten kritisiert wird jedoch der EU-Verteilungsschlüssel für
Flüchtlinge, den angeblich die Deutschen diktiert haben. Dabei wird die
vorgesehene Umverteilung häufig als „Zwangsumsiedlung“ bezeichnet. Diese
begriffliche Umdeutung ist genau kalkuliert: Sie spielt auf die
Umsiedlungsaktionen in Polen während der NS-Besatzung an, womit sie
zugleich der nationalistischen Geschichtspolitik der PiS-Regierung dient.
Die polnische Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, wird zur patriotischen
Pflicht geadelt, ja, zum Akt des Widerstands gegen deutsche Anmaßungen.
[2][Genauso wichtig ist es Kaczyński, die Wiederwahl des polnischen
EU-Ratspräsidenten Tusk zu verhindern.] Als Vorwand dienen dabei
Ermittlungen der polnischen Staatsanwaltschaft in zwei Fällen. Der frühere
Regierungschef soll in seiner Regierungszeit eine Finanzaffäre vertuscht
haben. Und er soll – zusammen mit Putin – für den Absturz des
Regierungsflugzeugs in Smolensk verantwortlich sein, bei dem vor sieben
Jahren Kaczyńskis Zwillingsbruder und über 90 polnische Parlamentarier und
hohe Militärs ums Leben kamen.
## Kein Patriot
Aber vor allem ist Tusk in Kaczyńskis Augen kein Patriot. Schon weil er
die polnischen Einwände gegen den Vertrag von Lissabon nicht unterstützt
und stattdessen für die EU, also Deutschland, Partei ergriffen hat. Deshalb
hintertreibt Warschau die erneute Wahl von Tusk zum Präsidenten des
Europäischen Rats. Die PiS-Regierung geht dabei so weit, mit Jacek
Saryusz-Wolski einen Gegenkandidaten zu nominieren, der seit 2004 für Tusks
Bürgerplattform im Europäischen Parlament sitzt.
Für die Rückkehr zum Vetorecht sind auch innenpolitische Motive maßgebend.
Wegen der Entmachtung des Verfassungsgerichts drohen EU-Sanktionen, bis hin
zum Entzug des Stimmrechts. Das würde die Opposition gegen die Regierung
stärken. Solche Sanktionen könnte die Regierung durch ihr Veto verhindern,
wenn in Brüssel wieder einstimmige Beschlüsse erforderlich wären.
Mit ihrem streitbaren Einsatz für eine Vertragsänderung will sich die
polnische Regierung aber auch als einzige Vorkämpferin für die polnische
Souveränität darstellen. Deshalb denunziert sie die EU-freundliche
Opposition als polenfeindlich oder gar als Hilfstruppe des deutschen
Hegemons.
Kaczyński und seine Anhänger nehmen damit in Kauf, dass die Rückkehr zum
Einstimmigkeitsprinzip die Europäische Union weiter destabilisieren oder
handlungsunfähig machen könnte. Sie kennen die Geschichte Polens gut genug,
um zu wissen, dass ein absolutes Vetorecht (liberum veto) für den Untergang
der polnischen Staatlichkeit im 18. Jahrhundert mit verantwortlich war. Es
ist kein Zufall, dass die EU-Abgeordneten der PiS seit dem Brexit auf einen
Zerfall der Union setzen und einen „Neustart“ unter nationalen Vorzeichen
befürworten.
Im Sinne eines wirklich „erneuerten“ Europa ist zu hoffen, dass Kaczyński
mit seinen Machtansprüchen ein zweites Mal scheitert. Deshalb erhoffen sich
in Polen die zahlreichen Gegner der PiS-Regierung eine wirkungsvolle
Unterstützung auf europäischer Ebene. Das setzt allerdings voraus, dass bei
den bevorstehenden Wahlen, die in mehreren EU-Ländern bevorstehen, die
Rechtspopulisten nicht weiter an Boden gewinnen
In Polen konnte die PiS die Wahlen für sich entscheiden (wenn auch nur mit
37,6 Prozent der Wählerstimmen), weil sie die Menschen mit ihren realen
Ängsten vor dem sozialen Abstieg ernst genommen hat, um sie mit ihren
typischen Antworten (Nation, Religion, Freund-Feind-Denken) abzuspeisen.
Dass die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und sozialer Unsicherheit
rechtspopulistische Orientierungen fördert, ist heute offensichtlich. Wenn
der Vormarsch nationalistischer Autokraten wie Kaczyński gestoppt werden
soll, muss die EU deutlich mehr Verantwortung für soziale Sicherheit und
Gerechtigkeit übernehmen.
9 Mar 2017
## LINKS
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5265675
[2] /Kommentar-Polnische-Kritik-an-der-EU/!5386232
## AUTOREN
Agnieszka Pufelska
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