| # taz.de -- Zeitzeuge über Judenverfolgung: „Ein Gefühl der Mitverantwortli… | |
| > Die Dokumentation „Stille Retter“ zeigt die Zivilcourage bei der | |
| > Judenverfolgung in Frankreich. Ein Gespräch mit dem Zeitzeugen Alfred | |
| > Grosser. | |
| Bild: Alfred Grosser in „Stille Retter“ | |
| Anm. d. Redaktion.: Die taz hat dieses Interview mit Alfred Grosser im Jahr | |
| 2017 geführt. Am 8. Febraur 2024 vermeldete seine Familie [1][den Tod des | |
| deutsch-französischen Politologen] im Alter von 99 Jahren. | |
| taz: Herr Grosser, in „Stille Retter“ berichten Sie über die Zeit der | |
| Verfolgung. Was sind Ihre prägendsten Erinnerungen? | |
| Alfred Grosser: Als die deutsche Wehrmacht 1940 in Frankreich | |
| einmarschierte, fuhr ich als 15-Jähriger gemeinsam mit meiner älteren | |
| Schwester per Fahrrad in den Süden. Das war sehr hart, und im Verlauf der | |
| Reise erkrankte meine Schwester, die dann später an einer Blutvergiftung | |
| gestorben ist. Als 1942 auch im Süden die deutsche Besatzung drohte, | |
| gerieten meine Mutter und ich in Lebensgefahr und flohen mit falschen | |
| Papieren. Ich wurde darauf Lehrer an einer katholischen Privatschule. Der | |
| Direktor, der mich anstellte, ging damit ein hohes Risiko ein. Wäre ich | |
| ertappt worden, hätte man auch ihn deportiert. | |
| Der Schutz der Juden in Frankreich durch zivilen Widerstand war also von | |
| einer außergewöhnlichen Dimension? | |
| Ja, aber auch in Deutschland fand das viel mehr statt, als es heute gesagt | |
| wird. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass viele deutsche Nichtjuden unter | |
| Lebensgefahr geholfen haben. Den Begriff der Kollektivschuld habe ich immer | |
| abgelehnt. „Die Deutschen“ gab es nie für mich. | |
| Diese Sicht erscheint als großherzig angesichts der Leiden, auch gegenüber | |
| Ihrer Familie, die deutsche Menschen damals verursacht haben. | |
| Aber es gab auch genau das Gegenteil. Ein Beispiel: Als ich 1947 Frankfurt | |
| als Journalist besuchte, habe ich die Ärzteschaft hart kritisiert, weil sie | |
| meinen Vater, einen Professor und Kinderarzt, nicht in Schutz genommen | |
| hatte. Aber andererseits traf ich dort den Oberbürgermeister Walter Kolb, | |
| der aus dem Konzentrationslager kam. Zu Deutschen wie ihm haben wir | |
| angefangen, nach dem Krieg eine Beziehung aufzubauen. | |
| Gab es für diese Bereitschaft so etwas wie eine Initialzündung? | |
| Ja, Auslöser war eine Augustnacht 1944, als ich auf der BBC hörte, dass | |
| enge Verwandte von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert worden | |
| waren, was das sichere Todesurteil für sie bedeutete. Ich war 19 Jahre alt, | |
| und an einem der nächsten Tage, nach der Befreiung von Marseille, besuchte | |
| ich im Krankenhaus einen Freund, der im Sterben lag, weil er bei den | |
| Kämpfen schwer verletzt worden war. Neben ihm lag ein 19-jähriger deutscher | |
| Soldat, mit dem ich mich lange auf Deutsch unterhielt. Und er wusste | |
| wirklich von nichts. Da entstand das Gefühl der Mitverantwortlichkeit für | |
| die Zukunft, auch für Menschen wie ihn. Das hat meine Arbeit geprägt. | |
| Wie stehen Sie denn zu der Einordnung der Verbrechen, die damals begangen | |
| wurden? | |
| Historiker im Alter um die 50 Jahre herum hören sich immer so an, als ob | |
| sie in dieser Zeit Helden gewesen wären. Ich habe beispielsweise gegen | |
| diese idiotischen Bücher „Das Amt“ und „Hitlers willige Vollstrecker“ … | |
| Daniel Goldhagen gekämpft, weil er dort eine unzulässige | |
| Völkerverallgemeinerung vornimmt. Man braucht zum Beispiel nur auf die | |
| katholische Publizistik in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts zu schauen: | |
| Schon da wurde gefordert, die Juden aus dem Land zu werfen und zu | |
| eliminieren. | |
| Von deutschen Intellektuellen geäußert, wäre Ihre Sicht mindestens | |
| politisch unkorrekt. | |
| Bei Ihnen ist man bei diesem Thema offenbar doch sehr masochistisch | |
| veranlagt. Was auch die Konsequenz hat, dass es in Deutschland unmöglich | |
| ist, Israel zu kritisieren. Als ich 2010 eingeladen wurde, die Rede in der | |
| Frankfurter Paulskirche zum Pogrom vom 9. November 1938 zu halten, gab es | |
| einen Aufruhr im Zentralrat der Juden und der jüdischen Gemeinde, ich sei | |
| zu israelkritisch. | |
| Was halten Sie denn von einer Geschichtsvermittlung im Fernsehen, so wie | |
| sie in „Stille Retter“ stattfindet? | |
| Sie ist wichtig. Ich wünschte allerdings, dass Arte mehr Zuschauer | |
| erreichen würde und dass es dort mehr wirklich gemeinsam produzierte | |
| Inhalte von Franzosen und Deutschen gäbe. Die deutsch-französische | |
| Verbindung jedenfalls ist gut gelungen, und Deutschland wird in Frankreich | |
| heute mit einer Mischung aus Bewunderung und Eifersucht betrachtet. | |
| 24 Jan 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Urbe | |
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