# taz.de -- Nachruf auf Politologen Alfred Grosser: Der unermüdliche Vermittler | |
> Mit 99 Jahren ist der Politologe Alfred Grosser verstorben. Kein anderer | |
> setzte sich so beharrlich für die deutsch-französische Annäherung ein. | |
Bild: Mit Humor hat er die deutsch-französischen Beziehungen analysiert: der P… | |
PARIS taz | Immer wenn es zwischen Paris und Berlin knirschte, gab es | |
diesen einen kompetenten Gesprächspartner. Er nahm dann selbst das Telefon | |
ab, um meistens ausführlich in einem Interview die Zusammenhänge zu | |
erklären, mit witzigen Randbemerkungen als Zugabe. Das war der unersetzbare | |
[1][Alfred Grosser], ein lebendes Sachbuch der europäischen Geschichte des | |
20. Jahrhunderts. Der deutsch-französische Politologe ist nun wenige Tage | |
nach seinem 99. Geburtstag verstorben. Alfred Grosser wurde als Deutscher | |
am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren, er starb als Franzose in | |
Paris. | |
Die französische Staatsbürgerschaft hat er mit 12 Jahren erhalten, drei | |
Jahre nachdem seine Eltern mit ihm und seiner Schwester nach Frankreich | |
emigriert waren, da sein Vater als Professor für Kinderheilkunde nach | |
Hitlers Machtergreifung als Jude ein Lehrverbot erhalten hatte. Als die | |
Nazis dann Frankreich besetzten, das Vichy-Regime die Judenverfolgung | |
mitorganisierte und deutsche Flüchtlinge auszuliefern drohte, fand die früh | |
verwitwete Mutter mit ihren beiden Kindern Zuflucht im südfranzösischen | |
Saint-Raphaël. Zurückblickend sprach er mit Dankbarkeit von seiner | |
„Assimilation“, während er sich erinnerte, wie er „in der Frankfurter | |
Schule als kleiner Jude schlecht behandelt“ wurde. Er erinnerte sich jedoch | |
ohne Rachsucht, diese war ihm fremd. | |
Auch wenn er sich, nicht erst in den letzten Lebensjahren, eindeutig als | |
Franzose fühlte, hat die doppelte Identität sein Leben und seine Tätigkeit | |
als Journalist, Historiker und Politologe bestimmt. Schon bald nach seinem | |
Germanistikstudium in Aix-en-Provence und einem Doktorat bei Raymond Aron, | |
einem der größten französischen Intellektuellen der Nachkriegszeit, | |
unternahm Grosser 1947 eine erste Reise in das besiegte und zerstörte | |
Deutschland. | |
Niemand hat die unermüdliche Bemühung um die deutsch-französische | |
Annäherung mit seiner Methode der ständigen gegenseitigen kritischen und | |
vergleichenden Beobachtung wie Alfred Grosser verkörpert. Und niemand wird | |
ihn mit seinem auf einem unglaubliches Wissen um die Geschichte der beiden | |
Länder basierenden Scharfsinn und ironischem Witz ersetzen können. Mit | |
Grosser wird man eine Form des französisch-deutschen Zwiegesprächs zu Grabe | |
tragen. Es bleibt das Ideal einer Verständigung, die anachronistisch | |
gewordene Grenzen überwindet, aber auch von der Vergangenheit geschaffenen | |
Klischees und Vorurteilen geprägt ist, die Grosser unermüdlich bekämpft | |
hat. | |
Er wisse nicht, „was ‚die Deutschen‘ sind und was ‚die Franzosen‘ sin… | |
antwortete Grosser in einem Interview für die Basler Zeitung 2003 auf die | |
Frage, ob es stimme, dass „die Franzosen die Deutschen verstehen, aber | |
nicht lieben, und dass die Deutschen die Franzosen lieben, aber nicht | |
verstehen“. Auch ob die beiden Nationen „komplementär“ seien, wisse er | |
nicht. Klar aber sei, dass sie sich näher gekommen sind. | |
Einer der Höhepunkte dieser Annäherung war der Élysée-Vertrag, der die | |
deutsch-französische Freundschaft besiegelte und ein wichtiges Zeichen für | |
ein friedliches Europa setzte. Doch die Versöhnung und Freundschaft, für | |
die auch Grosser unermüdlich wirkte, setzte schon nach dem Zweiten | |
Weltkrieg ein, nicht erst mit Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Davon | |
bleibt heute eine institutionalisierte Zusammenarbeit, aber auch das | |
Bewusstsein verpasster Chancen und neuer Missverständnisse. | |
Das war für Grosser nie ein Grund, seine Hoffnung aufzugeben. Er habe ein | |
„Temperament, das Positive zu sehen“, sagte er 2018 in einem Interview mit | |
der Deutschen Welle, in dem er auch fast scherzhaft erzählt, wie er oft, | |
aber ohne Angst vor Reaktionen mit seinen kritischen Analysen gegen die | |
politische Routine oder die nationale Selbstzufriedenheit stichelte: „Ich | |
sage viel Böses über Deutschland in Deutschland und viel Böses über | |
Frankreich in Frankreich. Mir nimmt das niemand übel.“ | |
Im Gegenteil wurden ihm viele Ehrungen zuteil: 1975 der Friedenspreis des | |
deutschen Buchhandels für seine Rolle als „Mittler zwischen Franzosen und | |
Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer | |
Kontinente“ oder 2018 von Präsident Macron den höchsten Rang der | |
Ehrenlegion, das Großkreuz. | |
Der französische Botschafter in Deutschland, François Delattre, schreibt in | |
einem Nachruf auf [2][X], ehemals Twitter, alle, die für die | |
deutsch-französische Freundschaft tätig seien, müssten sich nach Grossers | |
Tod heute „verwaist“ fühlen, er bleibe für sie „ein humanistisch geprä… | |
Bindeglied und eine große Inspirationsquelle“. Ebenfalls auf [3][X] würdigt | |
Cornelia Woll, Professorin des Alfred-Grosser-Lehrstuhls an der Pariser | |
Schule für Politikwissenschaft Sciences Po, ihren Ex-Mentor: „Wir verlieren | |
einen der Größten. Von Frankfurt bis Paris hat niemand so sehr unsere | |
Vision der deutsch-französischen Versöhnung geprägt wie er.“ | |
Zu Lebzeiten hat er auch irritiert, nicht nur, wenn er dank seiner | |
detaillierten Kenntnis oft, wie man in Frankreich sagt, mit dem Finger dort | |
berührte, wo es wehtut. Er unterstrich die besonders problematischen | |
Differenzen, die für Spannungen sorgen konnten. Und Grosser hat sich nicht | |
nur zu bilateralen Fragen und Europa geäußert, sondern auch zur | |
Außenpolitik, zu den USA und als atheistischer Jude namentlich auch in sehr | |
kritischer Weise zu den Regierungen in Israel und insbesondere zur | |
Siedlungspolitik auf Kosten der Palästinenser. | |
Der 2018 verstorbene ehemalige Le-Monde-Direktor Daniel Vernet erinnerte | |
sich, wie Grosser den jungen Deutschen oft im Gespräch über den Zweiten | |
Weltkrieg, die Judenverfolgung und die Schuldfrage eingeschärft habe: „Ihr | |
tragt keine Schuld, aber ihr müsst an Hitler und an das Dritte Reich denken | |
und (darum) heute überall die Menschenrechte verteidigen. Das gilt auch für | |
die Palästinenser.“ Mehrfach war Grosser wegen seiner Israel-Kritik | |
beschuldigt worden, er billige oder fördere den Antisemitismus. | |
Er erwiderte darauf, es gehe nicht an, dass man jegliche Kritik | |
verunglimpfe. Bei der Publikation seines bei Rowohlt erschienen Buchs „Von | |
Auschwitz nach Jerusalem“ sprach er wie Martin Walser vor ihm [4][in der | |
taz] (28.9.2009) von einer „Auschwitz-Keule“: „Jedes Mal, wenn ein | |
Deutscher sagt: ‚Die israelische Politik ist falsch‘, heißt es: ‚Denk an | |
Auschwitz!‘“ | |
Empathie als leitendes Prinzip | |
Das hat ihm heftige Reaktionen eingebracht, und eine solche Stellungnahme | |
würde ihm heute, im aktuellen Kontext, wahrscheinlich sowohl in Deutschland | |
als auch in Frankreich erst recht polemische Angriffe einbringen. | |
Seine von Kant und vom Humanismus inspirierte Moralphilosophie bestand | |
unter anderem darin, nach dem Prinzip der Empathie sich stets an die Stelle | |
des anderen zu setzen und sich die Frage zu stellen, was der andere | |
eventuell erleide. Vernet zitiert auch einen Grosser, der sich ironisch zu | |
seiner Selbstsicherheit und zu seiner „komplexen Identität“ [5][äußern | |
konnte]: „Ich bin Mann, Pariser, Gatte, Vater, Beamter, Professor. Wenn ich | |
Automobilist bin, hasse ich die Radfahrer. Wenn ich auf dem Fahrrad bin, | |
hasse ich die Automobilisten (…) Meine Identität scheint mir die Summe | |
dieser Erscheinungen zu sein – und mehr, so hoffe ich, als bloß eine | |
dominierende Synthese davon.“ | |
36 Jahre lang lehrte er am Institut Sciences Po. Seinen zahlreichen | |
ehemaligen Schülern bleibt er mit seinen prägnanten und humorvollen | |
Kommentaren zu Frankreich und Deutschland, die für ihn eine einzige Heimat | |
darstellten, in Erinnerung. Er hinterlässt ihnen einen Nachlass von rund 40 | |
sowohl auf Deutsch wie Französisch verfassten Büchern. | |
8 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Grosser | |
[2] https://twitter.com/Amb_Delattre/status/1755526699360362700 | |
[3] https://twitter.com/Cornelia_Woll/status/1755494192636174342 | |
[4] /Archiv-Suche/!573135&s=Interview+Grosser&SuchRahmen=Print/ | |
[5] https://www.lemonde.fr/disparitions/article/2024/02/08/alfred-grosser-la-mo… | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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