# taz.de -- Nationalsozialistische Verbrechen: Die Arbeit der Nazijäger | |
> Fast immer, wenn mutmaßliche NS-Verbrecher in Deutschland vor Gericht | |
> stehen, war die Zentrale Stelle in Ludwigsburg mit dem Fall befasst. | |
Bild: Hinter den Mauern eines ehemaligen Frauengefängnisses in Ludwigsburg sit… | |
LUDWIGSBURG taz | Etwa 95.000 Einwohner leben in der | |
baden-württembergischen Stadt Ludwigsburg – und fast jeder kennt die | |
Adresse: Schorndorfer Straße 58. Hier ist der Sitz der „Zentralen Stelle | |
der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer | |
Verbrechen“. Jener Behörde, deren Aufgabe es ist, Ermittlungen zu | |
nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gegen die Zivilbevölkerung | |
durchzuführen und ihre Ergebnisse anschließend an die zuständigen | |
Staatsanwaltschaften weiterzuleiten. | |
Früher nahm, wer vom Bahnhof der Stadt in die Behörde kommen wollte, ungern | |
ein Taxi. Und wenn, stieg er vorher aus. Hier zu arbeiten, war eine | |
Schande. Die Einrichtung galt als rufschädigend für die nahe Stuttgart | |
gelegene Stadt, Mitarbeiter galten als Nestbeschmutzer. Heute sind 19 | |
Mitarbeiter in der Zentralen Stelle beschäftigt, die, wie der Leitende | |
Oberstaatsanwalt Jens Rommel beschreibt, „gegen die Zeit als den größten | |
Gegner“ arbeitet. | |
Der 44-jährige Rommel ist seit Oktober 2015 Behördenleiter und vermutlich | |
der letzte in der Geschichte der seit 1958 existierenden Institution. Er | |
glaube nicht, dass er auf dieser Stelle in Pension gehen werde, hatte er | |
beim Antritt seines Dienstes gesagt. Dennoch möchte man in Ludwigsburg | |
nicht von einem Ende der Ermittlungen sprechen. „Gegenüber den Opfern und | |
ihren Angehörigen haben wir die Verpflichtung, weiter zu ermitteln“, sagt | |
Rommel. | |
Fast immer, wenn mutmaßliche NS-Verbrecher vor einem deutschen Gericht | |
stehen, war die Zentrale Stelle zuvor mit dem Fall befasst. Zu Hochzeiten, | |
zwischen 1967 und 1971, waren in der Behörde 121 MitarbeiterInnen tätig. | |
Doch über siebzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs ist die | |
Wahrscheinlichkeit gering, lebende Tatverdächtige ausfindig zu machen. | |
## Neue Möglichkeiten | |
Die kürzlich getroffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs im | |
Revisionsverfahren gegen Oskar Gröning hat auf die Behörde einige | |
Auswirkungen. Im Juli 2015 wurde der frühere SS-Mann vom Landgericht | |
Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe | |
von vier Jahren verurteilt, ohne dass er an einzelnen Mordtaten unmittelbar | |
beteiligt war. Der heute 95-Jährige hatte eingeräumt, die Ankunft der | |
deportierten Menschen beaufsichtigt und ihr Geld verwaltet zu haben. | |
„Rad im Getriebe“ eines Konzentrationslagers gewesen zu sein, hatte | |
jahrzehntelang nicht für eine Beihilfestrafbarkeit gereicht. Doch die | |
Karlsruher Richter bestätigten nun das Urteil gegen Gröning. | |
„Wer Dienst in einem Lager getan hat, in welchem systematisch Menschen | |
ermordet wurden, trägt eine Mitverantwortung an dem Massenverbrechen“, sagt | |
Rommel. Bekräftigt durch die höchstrichterliche Rechtsprechung werde die | |
Zentrale Stelle das Wachpersonal weiterer ehemaliger Konzentrationslager | |
überprüfen. | |
Die Büros der Staatsanwälte, Kriminalbeamten, Verwaltungsbeamten, Richter, | |
Dolmetscher und Übersetzer in der Zentralen Stelle befinden sich hinter | |
einer großen Mauer, in einem ehemaligen Frauengefängnis. Die Herren, die am | |
Eingang stehen, tragen Oberteile mit der Aufschrift „Justiz“. Man kennt | |
diese Uniform aus Justizvollzugsanstalten und Gerichtsgebäuden. | |
Morgens sitzt Monique Schmidt an ihrem Schreibtisch und studiert | |
verschiedene Tageszeitungen. „Ausschau halten nach Berichten über unsere | |
Arbeit, die dann in unsere Pressesammlung einfließen.“ Der freundlichen | |
Dame im Vorzimmer des Behördenleiters entgeht nichts, ebenso wenig wie | |
ihrer Kollegin Sandra Merkler, die gerade eine Karteikarte tippt: Nachname, | |
Vorname, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einsatzort. Die wievielte das ist, kann | |
Merkler nicht sagen. Die Zentralkartei der Behörde umfasst über 1,7 | |
Millionen Einträge – aufgegliedert in Personen-, Orts- und Einheitskartei. | |
Alles analog, getippt auf einer Schreibmaschine. | |
## Aufarbeitung und Wiedergutmachung | |
Nebenan, auf Rommels Schreibtisch, steht ein kleiner Globus. Er könnte ein | |
Sinnbild dafür sein, dass all das, was in der kleinen Stadt Ludwigsburg, in | |
diesem ehemaligen Frauengefängnis, passiert, im Ausland registriert wird. | |
Manchmal ruft der britische Sender BBC an und auch die New York Times hat | |
schon die Nummer der Zentralen Stelle gewählt und um einen O-Ton gebeten. | |
Die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen sei kein juristisches | |
Kleinklein, sondern geschichtliche Aufarbeitung und justizielle | |
Wiedergutmachung, berichtet Robert Sochacki. Er ist einer der beiden | |
Übersetzer und Dolmetscher für Russisch und Polnisch, die in der Behörde | |
angestellt sind. | |
Die Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden und Archiven laufe gut, | |
allerdings gäbe es auch Schwierigkeiten. „Dann müssen wir wiederholt | |
nachfragen, Akten nachfordern, hinterhertelefonieren, nachhaken“, sagt | |
Sochacki. | |
Seine Kollegin Natalia Schoon ist seit sieben Jahren in der Zentralen | |
Stelle tätig. Es ist ihre erste Festanstellung nach dem Studienabschluss. | |
„Ich war sehr erstaunt, als ich erfuhr, dass es eine Behörde gibt, die | |
immer noch nach den Tätern von damals sucht. Ich wollte dazugehören und | |
meinen eigenen kleinen Beitrag leisten.“ Schoon berichtet von einer | |
Dienstreise, auf der Archivmaterial gesichtet wurde. | |
Von morgens bis abends sitzen die Ludwigsburger Ermittler dann vor Unmengen | |
von Papier und lesen sich in die Geschehnisse ein. „Da sind auch grausame | |
Texte dabei, die wir übersetzen müssen. Zeugenaussagen von Opfern, die | |
berichten, was ihnen in den Konzentrationslagern widerfahren ist, was sie | |
gesehen haben.“ Wenn Bilder von Tatorten dabei sind, sei es am | |
schwierigsten für sie. Leichenberge, von Kraftfahrzeugen zerquetschte | |
Menschen, ausgemergelte Körper. | |
## 40 Jahre Daten verwalten | |
Den Details des grausamen Alltags in den Konzentrationslagern begegnet auch | |
Manuela Scholl. Vor allem in kurzen Sätzen: Verdacht, Häftlinge mit | |
Gewehrkolben erschlagen zu haben; Verdacht, Häftlinge ausgepeitscht zu | |
haben; Verdacht, Häftlinge erschossen zu haben. Im Sommer 2017 wird es | |
Scholls vierzigstes Jahr in der Zentralen Stelle sein. Sie kümmert sich um | |
die Erfassung aller in der Zentralen Stelle geführten Verfahren, die an die | |
Staatsanwaltschaft übergeben werden. | |
Oftmals sitzt sie tagelang vor Tabellen mit Hunderten Namen und gleicht sie | |
mit dem PC-Programm ab. Ist uns die Person namentlich bekannt? Gab es schon | |
mal ein Verfahren? Was ist daraus geworden? Die häufige Antwort des | |
Computers: „§ 170 Abs. 2 StPO“, kein hinreichender Tatverdacht, Verfahren | |
eingestellt. | |
Tausende mutmaßliche NS-Verbrecher kamen davon. Grund dafür war – neben der | |
bis vor wenigen Jahren geltenden Rechtsauffassung, die alleinige Tätigkeit | |
in einem Vernichtungslager begründe keine Beihilfe zum Mord – der im | |
Nachkriegsdeutschland herrschende Wunsch in Gesellschaft und Justiz nach | |
einem Schlussstrich. | |
Auch die Zentrale Stelle musste sich Kritik vorhalten lassen, sie habe kein | |
Interesse, gegen alle an NS-Verbrechen beteiligten Personen zu ermitteln. | |
Die Strafverfolgung gegen mutmaßliche NS-Verbrecher sei entweder gar nicht | |
oder nicht richtig in Gang gebracht worden. | |
Rommel sagt, er hätte sich gewünscht, dass von Anfang an alles getan worden | |
wäre, um die NS-Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten. Ähnlich hatte es | |
schon sein Vorgänger Kurt Schrimm formuliert: „Es ist unumstritten, dass | |
objektiv nicht alles getan wurde.“ Nach Kriegsende hatten zu wenige | |
Juristen sich bemüht, NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen. | |
Jens Rommel und seine Mitarbeiter versuchen alles, was heute noch rechtlich | |
möglich ist. Viel ist das nicht. Dessen sind sich die Ludwigsburger | |
Ermittler bewusst. „Gerade deshalb wollen wir die kommenden Jahre nutzen, | |
so gut es heute noch geht.“ | |
21 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Sina Aaron Moslehi | |
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