| # taz.de -- Vernichtungslager Sobibór: Das gefundene Amulett | |
| > Wo das Vernichtungslager Sobibór stand, wurde ein Anhänger entdeckt. | |
| > Unser Autor hat dessen Geschichte recherchiert: Er gehörte Karolina Cohn. | |
| Bild: Überreste aus dem Vernichtungslage: Eine Museumsmitarbeiterin präsentie… | |
| Der Anhänger ist dreieckig, die Kanten sind 2,5 Zentimeter lang. Oben ist | |
| ein Ring eingefasst, mit dem er an einer Kette befestigt werden kann. Auf | |
| der Vorderseite trägt das aus Silber gefertigte Amulett das Datum „3. Juli | |
| 1929“ und die Ortsbezeichnung „Frankfurt a. M.“. Darüber steht in | |
| hebräischer Schrift „Mazal tov“, „viel Glück“. Auf der Rückseite fin… | |
| sich der hebräische Buchstabe „He“, der für den Namen Gottes steht, und | |
| drei Davidsterne. | |
| Das Amulett ist alles, was von einem Menschen übrig geblieben ist. | |
| Eine verlassene Gegend im Dreiländereck von Polen, der Ukraine und | |
| Weißrussland. Nahe eines Bahnhofs mit verrosteten Schienen breiten sich | |
| schlanke Pinien aus, die erst in den 1940er Jahren gepflanzt wurden, um ein | |
| Menschheitsverbrechen zu verbergen. Nichts sollte kenntlich bleiben vom | |
| Vernichtungslager Sobibór im von den Deutschen besetzten Polen, in dem die | |
| Nazis zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 bis zu 250.000 Juden ermordeten. | |
| Das Lager wurde aufgelassen, die Baracken wurden abgerissen, die Toten | |
| verbrannt. | |
| Hier hat der Archäologe Yoram Haimi Hinterlassenschaften von Ermordeten | |
| gefunden. Seit zehn Jahren gräbt der Israeli zusammen mit polnischen | |
| Kollegen an der früheren Mordstätte, deren Topografie lange unbekannt | |
| geblieben war; unterstützt wird er von der Jerusalemer Gedenkstätte Jad | |
| Vaschem. Er fühle sich wie ein Kriminalist in einem forensischen Labor, | |
| sagt der 55-Jährige. Sie haben die Fundamente der Gaskammern entdeckt und | |
| konnten die Lage der hölzernen Baracken bestimmen. Sie fanden eine | |
| Halskette mit Davidstern, eine Damenarmbanduhr, Brillen, Kämme, Löffel und | |
| Gabeln, weiteren Schmuck – mehr als 3.000 solcher Gegenstände. | |
| Haimi ist in Sobibór auch mit seiner eigenen Familiengeschichte | |
| konfrontiert: „Zwei meiner Onkel sind im März 1943 von Paris nach Sobibór | |
| deportiert und dort ermordet worden“, sagt er. Wie er das aushält? „Ich | |
| versuche den Job und die Familie zu trennen. Aber manchmal geht das nicht. | |
| Dann muss ich eine Pause machen.“ | |
| Im Oktober 2016 graben Haimi und seine Kollegen an der Stelle, an der die | |
| Baracke stand, wo sich die weiblichen Opfer ausziehen mussten und ihnen die | |
| Haare geschoren wurden, bevor sie im Laufschritt in die Gaskammern | |
| getrieben wurden. „Himmelfahrtsstraße“ nannten die Täter diesen 150 Meter | |
| langen Weg. Hier entdeckt ein polnischer Arbeiter das Amulett. Experten von | |
| Jad Vaschem vermuten, dass es zwischen die Dielenbretter der Baracke | |
| gefallen ist und im Erdboden verschwand, 1942 oder 1943. | |
| Wem aber hat es gehört? | |
| Am 15. Januar 2017 macht Jad Vaschem auf den Fund des Amuletts aufmerksam. | |
| Die Meldung findet weltweit Beachtung. Die Gedenkstätte bittet Verwandte | |
| der früheren Besitzerin, sich zu melden. Am selben Tag beginnt unsere Suche | |
| in Archiven, Museen und Gedenkstätten, unter Judaica-Experten und | |
| Historikern. Sie führt von Frankfurt nach Sobibór, im Zickzackkurs um einen | |
| Lebensweg herum, sie bleibt in Sackgassen hängen und findet neue Wege. Sie | |
| bleibt unvollständig, zeigt aber, dass Geschichte auch nach dem Tod der | |
| letzten Zeitzeugen erzählbar bleiben wird. | |
| ## War Karolina Cohn mit Anne Frank verwandt? | |
| 33 Jahre nach Kriegsende, mit Datum vom 6. April 1978, füllt eine Sophie | |
| Rollmann aus Zürich ein Formblatt von Jad Vaschem aus. Handschriftlich | |
| zeigt sie den Tod von Karolina Cohn an, geboren am 3. Juli 1929 in | |
| Frankfurt am Main. Karolina Cohn sei am 11. November 1941 von Frankfurt | |
| nach Minsk in Weißrussland deportiert und 1945 für tot erklärt worden. Als | |
| Verwandtschaftsgrad gibt Rollmann „Cousine 2. Grades“ an. Das Gedenkbuch | |
| des deutschen Bundesarchivs bestätigt, dass Karolina das einzige an diesem | |
| Tag geborene jüdisches Kind in Frankfurt ist. | |
| Sie muss die Besitzerin des Amuletts gewesen sein, sind sich die Experten | |
| von Jad Vaschem sicher. Auf niemanden sonst passen die Angaben auf dem | |
| Anhänger. Doch Sophie Rollmann ist 1985 verstorben, über Verwandte nichts | |
| bekannt. | |
| Heute, in der Zeit, in der die letzten Überlebenden der Schoah hoch betagt | |
| sterben und bald niemand mehr da sein wird, der die Geschichte aus erster | |
| Hand erzählen kann, sind die Dokumente des Massenmords sorgfältig in | |
| Archiven verwahrt. Und sie werden auch noch gelesen werden können, wenn | |
| selbst die Enkel der Zeitzeugen verstorben sind. Was erzählen sie über | |
| Karolina Cohn? | |
| Der Internationale Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, 1946 im | |
| Nachkriegschaos gegründet, um den Überlebenden Hilfe bei den | |
| Nachforschungen nach ihren Angehörigen zu ermöglichen, verwahrt rund 3 | |
| Millionen Dokumente. Darunter befindet sich die Frankfurter | |
| Deportationsliste vom 11. Oktober 1941. „II. Transport nach Polen“ ist oben | |
| auf der ersten Seite der bräunlich vergilbten Blätter notiert – gemeint ist | |
| damit die zweite Deportation aus Frankfurt. Darunter steht: „wahrscheinlich | |
| Kowno“, wobei die Stadt in Litauen später durchgestrichen und durch „Minsk… | |
| ersetzt wird. Es folgen in Maschinenschrift die Namen der Deportierten, | |
| säuberlich nach Namen, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum und -ort geordnet. | |
| Von den vermutlich 1.042 Menschen, die transportiert werden, überleben | |
| neun. | |
| Auf der fünften Seite findet sich „Cohn, Karolina S.“ – das S. steht für | |
| ihren Zwangsvornamen Sara – unter der Wohnadresse Thomasiusstraße 10 in | |
| Frankfurt, geboren am 3. 7. 29 in Frankfurt. Auf derselben Seite stehen die | |
| Namen der Eltern Else und Richard Cohn und der von Karolinas kleiner | |
| Schwester Gitta. Es sind die letzten papierenen Lebenszeichen der Familie. | |
| Ihr Amulett trägt Karolina wohl von ihrer Geburt an. Der Judaika- und | |
| Numismatik-Experte Ira Rezak aus New York kennt eine ganze Reihe ähnlicher | |
| Anhänger. Diese wurden, so Rezak, einer jahrhundertelangen jüdischen | |
| Tradition folgend, zur Geburt als Talisman hergestellt, ursprünglich | |
| ausschließlich für Knaben. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an aber bekamen | |
| auch neu geborene Mädchen ein solches Amulett geschenkt, gefertigt meist | |
| aus Silber oder Gold. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit sollte das | |
| Geburtsamulett das Leben der Kleinen beschützen. Die Aufschrift „Mazel | |
| tov“ entspricht nicht der Tradition, aber „könnte erklären, warum eine 19… | |
| geborene Person diesen Viel-Glück-Talisman noch als junge Erwachsene | |
| getragen hat“, sagt Ira Rezak. | |
| Anne Frank, im selben Jahr wie Karolina Cohn in Frankfurt geboren, trug | |
| einen fast identischen Talisman, was Jad Vaschem zunächst vermuten lässt, | |
| sie und Karolina könnten verwandt gewesen sein. Yad-Vashem-Mitarbeiter | |
| Yoram Haimi berichtet jedoch, dass die Jerusalemer Forschungs- und | |
| Gedenkstätte nach der Veröffentlichung des Funds von Sobibór innerhalb | |
| weniger Wochen Informationen über acht nahezu identische Anhänger erhalten | |
| hat, davon zwei in Israel und sechs in den USA. Sie gehören Jüdinnen, die | |
| vor dem Holocaust hatten fliehen können. Alle Amulette betreffen | |
| ausschließlich die Geburtsjahrgänge 1928 und 1929 aus Frankfurt. „Nur | |
| neugeborene Mädchen haben ihn bekommen“, sagt Haimi, wohl von der Jüdischen | |
| Gemeinde. | |
| 1929, das ist der Beginn schwerer Zeiten. Am „schwarzen Donnerstag“ kracht | |
| die New Yorker Börse zusammen, eine Wirtschaftskrise in Deutschland ist die | |
| Folge, die Arbeitslosigkeit steigt stark. Familie Cohn war schon vorher | |
| nicht wohlhabend. Akten des Hessischen Wirtschaftsarchivs lässt sich | |
| entnehmen, dass der Vater Richard seit 1919 eine Buchhandlung mit | |
| Antiquariat in der Bornheimer Landstraße betreibt. Das ist, gerade während | |
| der Inflationszeiten zu Beginn der 1920er Jahre, eine häufig genutzte | |
| Möglichkeit, um sich selbstständig zu machen, denn viele Menschen müssen | |
| ihre alten Bücher verkaufen, während andererseits ein hoher Lesebedarf | |
| besteht. Doch Cohns Buchladen geht es nicht mehr gut. Die an die Stadt | |
| abgeführten Steuern dokumentieren den Niedergang ab 1926. Zuletzt, im Jahr | |
| 1931, führt Richard Cohn nur 95,38 Reichsmark Jahressteuern an die Stadt | |
| ab. | |
| Mehr als 55.000 Arbeitssuchende verzeichnet Frankfurt in diesem Jahr, im | |
| ganzen Reich sind es über 5,5 Millionen. Wer kauft da noch Bücher? Im | |
| selben Jahr muss Richard Cohn sein Geschäft zusperren. | |
| „Zahlungsunfähigkeit“, vermerkt eine Karteikarte der Industrie- und | |
| Handelskammer. Das Konkursverfahren wird drei Jahre später mangels Masse | |
| eingestellt. | |
| Wer waren Karolinas Eltern? Richard Cohn, 1884 in Darmstadt geboren, wächst | |
| in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Julius ist Hausierer, die | |
| Mutter Carolina Arbeiterin. Richard hat zwölf Schwestern und Brüder, davon | |
| fünf aus früheren Ehen des Vaters und der Mutter. Achtmal müssen die Cohns | |
| in Darmstadt innerhalb weniger Jahre umziehen. | |
| Richard lernt Tapezierer und zieht nach Frankfurt um. Mehrfach wird er | |
| wegen Betrugs und Körperverletzung verurteilt, 1908 muss er einen Monat und | |
| zwölf Tage im Mainzer Gefängnis absitzen. | |
| Der Staat zieht ihn im Ersten Weltkrieg als Soldat ein. Wo er zum Einsatz | |
| kommt und welchen Rang er bekleidet, bleibt ungewiss. Anhand der deutschen | |
| Verlustlisten lässt sich aber belegen, dass er am 17. April 1918 schwer | |
| verwundet wird. Ein Lungendurchschuss macht den Mann für den Rest seines | |
| Lebens zum Invaliden. Als Tapezierer kann er danach offenbar nicht mehr | |
| arbeiten. | |
| Wo und wie Richard seine spätere Frau Else kennengelernt hat, wissen wir | |
| nicht. Beim Institut für Stadtgeschichte Frankfurt weiß man, dass sie am 8. | |
| August 1928 in Frankfurt geheiratet haben, elf Monate vor Karolinas Geburt. | |
| Else, geborene Eisemann, kommt aus Bad Orb im Taunus. Elses Vater Salomon | |
| arbeitet dort als Händler und Dienstmann. Else wird als Zweitälteste von | |
| fünf Geschwistern 1895 geboren. | |
| Nach der Pleite seines Buchladens ist Karolinas Vater Richard zu Beginn der | |
| 1930er Jahre auf eine dürftige Kriegsinvalidenrente angewiesen, um seine | |
| Familie durchzubringen. Mehrfach muss die Familie umziehen, bis sie 1935 in | |
| der Thomasiusstraße 10, 1. Stock rechts, im Frankfurter Ostend unterkommt. | |
| Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 wird seine Invalidenrente offenbar | |
| gestrichen. Richard Cohn untervermietet zeitweise ein Zimmer der Wohnung. | |
| Er erhält Unterstützung von der jüdischen Wohlfahrtspflege. Ab dem 1. | |
| September 1940 sind es 103 Mark und 20 Pfennige im Monat, umgerechnet etwa | |
| 300 Euro. | |
| Diese Informationen finden sich in Dokumenten des Hessischen | |
| Hauptstaatsarchivs, das die Akten des Oberfinanzpräsidenten verwahrt. | |
| Dessen Beamte registrieren den Besitz aller Juden, um ihn später zu rauben. | |
| Doch bei den Cohns ist nichts zu holen: Sie besäßen „weder Vermögen noch | |
| Grundbesitz“, geben Karolinas Eltern im Oktober 1940 an. Die vierköpfige | |
| Familie lebt von monatlich 120 Reichsmark. Die Miete beträgt 60 Mark. Der | |
| Vater, inzwischen 56, ist krank und in Behandlung bei einem jüdischen | |
| „Krankenbehandler“, wie jüdische Ärzte im NS-Jargon diskriminierend genan… | |
| werden. | |
| ## Die Cohns müssen bleiben, zur Flucht fehlt das Geld | |
| Viele Frankfurter Juden sind inzwischen vor den Drangsalen des Naziregimes | |
| ins Ausland geflüchtet. Doch dazu benötigt man nicht nur ein Visum, einen | |
| Reisepass, steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Devisenerklärungen | |
| und eine Beurlaubung von der Wehrpflicht, der Juden ansonsten längst nicht | |
| mehr „würdig“ sind. Zuallererst braucht es Geld für Bahnfahrkarten, | |
| Schiffsbilletts und Vermögensnachweise zur Erlangung einer | |
| Einreisegenehmigung im Fluchtland. Die Cohns haben kein Geld. | |
| Sie müssen bleiben, müssen die Pogromnacht im November 1938 miterleben, in | |
| der die Frankfurter Synagogen niederbrennen. | |
| Karolina wird zu Hause „Karola“ gerufen, das gehe aus ihrer Geburtsurkunde | |
| hervor, berichtet die Historikerin Monica Kingreen, die auf die Geschichte | |
| der hessischen Juden spezialisiert ist. Seit dem August 1938 muss das | |
| Mädchen den Zwangsvornamen Sara tragen. Von September 1941 an wird sie | |
| gezwungen, mit einem gelben Stern an der Brust herumzulaufen, der sie in | |
| der Öffentlichkeit als ein verfemtes jüdisches Kind kennzeichnet. Sie darf | |
| Frankfurt nicht mehr verlassen. Sie darf nicht im Park spielen. Sie erhält | |
| weniger und minderwertige Lebensmittel als „arische“ Kinder. Seit November | |
| 1938 ist ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten. Doch ob sie | |
| zuvor noch auf eine solche gegangen ist? Nachfragen bei öffentlichen | |
| Grundschulen in der Umgebung des Wohnorts der Familie Cohn bleiben | |
| ergebnislos. | |
| Welche jüdische Schule aber hat Karolina besucht, das Philanthropin der | |
| Jüdischen Gemeinde oder die Jüdische Volksschule der orthodoxen | |
| Israelitischen Religionsgemeinschaft? Lassen sich vielleicht einstige | |
| Mitschüler finden, die sich an Karolina erinnern? | |
| Die Mitgliedskarteien beider jüdischen Gemeinden sind von den Nazis | |
| vernichtet worden. Aber Karolina Cohn und Anne Frank trugen den gleichen | |
| Talisman, ausgegeben von einer der beiden Gemeinden. Anne Franks Großvater | |
| Michael war Mitglied der mehrheitlich liberalen Hauptgemeinde, in späteren | |
| Jahren war die Familie der Gemeinde zumindest verbunden. | |
| Das heißt: Auch Familie Cohn gehört wohl der Hauptgemeinde an. Also geht | |
| Karolina spätestens seit November 1938 auf das Philantropin. Weitere | |
| Recherchen aber sind ergebnislos. Die Schülerverzeichnisse sind von den | |
| Nazis weitgehend vernichtet worden. | |
| Und so erfahren wir nicht, was für ein Kind Karolina war. War sie lebhaft | |
| oder eher zurückgezogen? Ein Widerspruchsgeist oder angepasst? Immer gesund | |
| oder leicht kränkelnd? Was war ihr liebstes Spielzeug? Hatte sie lange | |
| blonde Haare oder kurze dunkle? Es gelingt auch nicht, ein Foto von ihr zu | |
| finden. Niemand scheint mehr da, der von Karolina berichten könnte. Auch | |
| Jad Vaschem hat bisher keinen Überlebenden gefunden, der sich an sie | |
| erinnern kann. | |
| Einige von Karolinas Tanten und Onkel väterlicherseits sind schon vor der | |
| NS-Zeit nach Amerika ausgewandert. Die anderen Verwandten, Eltern, | |
| Schwester, Onkel, Tanten, Kusinen wurden fast ausnahmslos Opfer der Schoah. | |
| Onkel Markus Cohn starb 1939 im KZ Sachsenhausen, Sigmund Cohn 1943 in | |
| einem Lager in Frankreich. Max Eisemann wurde 1942 im KZ Majdanek | |
| ermordet. Onkel Simon und seine Frau Amalie 1941 in Kaunas erschossen. | |
| Onkel Michael ging nach den Torturen im KZ Dachau 1939 freiwillig in den | |
| Tod. Sein Sohn Ralph konnte nach Palästina flüchten. Er war einige Jahre | |
| älter als Karolina, er könnte sie gekannt haben. Doch Ralph Eisemann ist | |
| vor einigen Jahren in New York verstorben. | |
| Geblieben ist nur Karolinas Leidensgeschichte. | |
| Am 8. November 1941, dem neunten Geburtstag von Karolinas Schwester Gitta, | |
| wird die Familie Cohn von den NS-Behörden über ihre bevorstehende | |
| „Abwanderung“ – ein Tarnbegriff für die Deportationen – informiert. Sie | |
| erfahren nichts über das Ziel der Reise. Ein anderer Verschleppter, der | |
| damals 13-jährige Berthold Adler, erinnert sich: „Am Tag des Transportes | |
| kam ein Offizieller in unsere Wohnung und überwachte unser Weggehen. Am | |
| Nachmittag gingen wir zu Fuß zur Markthalle, wo unser neues Leben begann.“ | |
| Die Gestapo hat den Ostflügel des Kellers der großen Frankfurter Markthalle | |
| zum Sammelpunkt bestimmt. Hier werden Karolina und ihre Familie über | |
| mehrere Kontrollstellen geschleust. Der Leiter des Judenreferats der | |
| Frankfurter Gestapo, Heinrich Baab, hat dazu nach dem Krieg eine | |
| sorgfältige Zeichnung angefertigt. Wir erkennen darauf die verschiedenen | |
| Stationen: die Überprüfung der Deportationsliste, die Gepäckdurchsuchung | |
| und Leibesvisitation, die Abgabe der „Vermögenserklärung“, die Stempelung | |
| der Kennkarte mit „evakuiert“. Am Ende steht ein Aufenthaltsraum „bis zur | |
| Verladung“, wie es auf der Skizze heißt. | |
| Vermutlich am Morgen des 12. November 1941 verlässt der Zug mit der Nummer | |
| Da53 den Frankfurter Ostbahnhof. Zum Einsatz kommen ältere Personenwagen 3. | |
| Klasse. Die Reise geht über Berlin, Warschau, Białystok, Wołkowysk, | |
| Baranowitschi nach Minsk. Im Bericht eines Überlebenden heißt es: „Die | |
| Fahrt dauerte sechs Tage. Wir hatten Lebensmittel dabei, aber kein Wasser, | |
| viele Leute starben. Wir haben, als es regnete, die Finger rausgehalten, | |
| und die abgeleckt, um Flüssigkeit zu bekommen. Vor Durst starben Menschen. | |
| Viele schrieen ‚wir brauchen Wasser‘, manchmal bekamen wir etwas bei einem | |
| Halt.“ | |
| Nach den ursprünglichen Plänen sollten 18 Züge aus Deutschland in die | |
| besetzte Hauptstadt Weißrusslands gehen, tatsächlich kommen nur sieben mit | |
| 6.959 jüdischen Menschen an. Die anderen Juden werden stattdessen nach Riga | |
| in Lettland verschleppt. Im jüdischen Ghetto von Minsk haben die Nazis für | |
| die Ankunft vorgesorgt. Auf Befehl der Einsatzgruppe A erschießen | |
| SS-Sicherheitspolizei und Hilfspolizei zwischen dem 7. und 11. November | |
| 1941 6.624 einheimische Juden. Ein Mann wird dabei extra zum Zählen der | |
| Opfer abgestellt. Am 20. November werden weitere 5.000 Menschen ermordet. | |
| So will man Platz für die deutschen Juden schaffen, die in bestimmten | |
| Straßen der Ghettos konzentriert werden. | |
| Ein weiterer Überlebender des Frankfurter Transports berichtet nach dem | |
| Krieg anonym über die Ankunft in Minsk: „Dort mussten wir 3 Tage in einer | |
| ehemaligen Schule, auf Steinplatten, ohne Verpflegung, ohne Closetts und | |
| Waschgelegenheit zubringen. Wir kamen in zerfallene Holzhäuser, in 8–10 qm. | |
| große Zimmer, in die je 12 Personen beiderlei Geschlechts mit Kindern | |
| eingepfercht wurden, ohne Decken, ohne Matratze, ohne Kopfpolster, doch mit | |
| ungeheuren Mengen Wanzen, Mäusen und Ratten.“ Karolina kommt wie alle | |
| Frankfurter Juden in das „Sonderghetto I“. | |
| Ende 1941 gibt es noch keine Vernichtungslager. Die deutschen Juden in | |
| Minsk sollen nicht sofort ermordet werden, sondern zunächst Zwangsarbeit | |
| leisten. Sie sind unter den Nazis beliebter als die weißrussischen Juden, | |
| weil sie alle Befehle sofort verstehen können. „Die Arbeitskommandos wurden | |
| von Wehrmachtssoldaten um 6 Uhr früh abgeholt und zwischen 16 und 18 Uhr | |
| zurückgebracht“, so der anonyme Frankfurter Zeuge. „Tagesverpflegung: 1 | |
| Stück Brot ca. 120 gr., wenig minderwertige Wassersuppe, kein Frühkaffee | |
| und kein Nachtessen. Wer irgend etwas von Wertsachen bei sich hatte, wie | |
| Trauringe, Füllhalter etc. vertauschte es an die Russen gegen | |
| Lebensmittel.“ | |
| Es ist möglich, dass Karolina hier ihren Glücksanhänger gegen Brot | |
| eintauschen muss. Immerhin ist er aus Silber gefertigt. Vielleicht ist sie | |
| schon im ersten Winter in Minsk gestorben, so wie etwa 100 Frankfurter | |
| Juden, die der Unterernährung, Krankheiten und Erfrierungen nicht | |
| standhalten können. | |
| Vielleicht hat Karolina weiter gelebt, Zwangsarbeit geleistet und ihr | |
| Amulett getragen. | |
| 1942 kommen Gaswagen ins Ghetto. Sie sehen wie Möbelwagen aus. Mit den | |
| Abgasen der Motoren werden die Kranken und „Arbeitsunfähigen“, die man in | |
| die Laderäume gepfercht hat, ermordet. Im Juli werden etwa 9.000 Menschen | |
| aus dem Ghetto erschossen, darunter alle Bewohner des „Sonderghettos II“, | |
| nicht aber die Frankfurter Juden. Danach geht die Zwangsarbeit weiter, in | |
| einzelnen „Aktionen“ werden immer wieder Menschen umgebracht. Die jüdischen | |
| Insassen von mindestens 18 Transporten aus Deutschland, die 1942 in Minsk | |
| eintreffen, werden bis auf wenige Ausnahmen sofort nach ihrer Ankunft | |
| erschossen oder erstickt. | |
| Im September 1943 wird das jüdische Ghetto von Minsk aufgelöst. Wieder | |
| werden viele Bewohner getötet. Einige kommen in andere Lager, auch im | |
| besetzten Polen. Mindestens zwei, vermutlich drei Züge verlassen um den 18. | |
| September Minsk. Ihr Ziel ist das Vernichtungslager Sobibór. Ein Zeuge gibt | |
| 1961 an, in seinem Zug hätten sich etwa 2.000 Menschen befunden. | |
| Zwei weitere Transporte gehen wohl zur selben Zeit von Minsk in das | |
| Zwangsarbeitslager Trawniki. Möglicherweise ist ein Teil dieser Menschen | |
| kurz darauf weiter nach Sobibór gebracht worden. Kaum einer der Insassen | |
| dieser Deportationszüge ist namentlich bekannt, denn die Nazis haben sich | |
| nur bei Transporten aus Westeuropa die Mühe gemacht, ihre Opfer auch | |
| namentlich zu registrieren. | |
| Thomas Blatt hat Sobibór überlebt, als einer von 53 Juden. Die SS-Männer | |
| wählen den damals 15-Jährigen als Zwangsarbeiter aus. Er hat dort die | |
| Aufgabe, Fotos und Dokumente der Ermordeten, die in ihrem Gepäck gefunden | |
| werden, zu verbrennen. „Sobibór war wie eine Fabrik“, sagt Blatt 2009 | |
| gegenüber dem Autor, wenige Tage bevor er als Zeuge gegen John Demjanjuk in | |
| München auftritt. Demjanjuk hatte als ukrainischer „Hilfswilliger“ in dem | |
| Lager gearbeitet und wurde später zu fünf Jahren Haft verurteilt. Blatt ist | |
| ein Teilnehmer des Aufstands von Sobibór gewesen, der im Oktober 1943 dazu | |
| geführt hat, dass die Nazis das Vernichtungslager aufgaben. | |
| Bis dahin steht in Sobibór ein Achtzylinder-Benzinmotor, dessen Abgase in | |
| sechs Kammern von der Größe von vier mal vier Metern geleitet werden. In | |
| den Kammern sind Duschköpfe installiert. Den vielen holländischen Juden, | |
| berichtet der 2015 verstorbene Blatt, habe man vorgegaukelt, sie gingen zur | |
| Körperreinigung. „Sie hatten keine Ahnung, wo sie da hingekommen waren. Ich | |
| bin mir sicher, dass sie, als sie bemerkten, dass nicht Wasser, sondern Gas | |
| aus den Duschköpfen austrat, glaubten, es handele sich um einen technischen | |
| Defekt. Sie starben, ohne zu wissen, dass sie ermordet wurden.“ | |
| Bei den Insassen der Züge aus Osteuropa sparen sich die ukrainischen | |
| Hilfswilligen und die SS die Camouflage. Sie werden unter Gebrüll und mit | |
| Peitschenhieben über den drei bis vier Meter breiten Weg von der | |
| Entkleidungsbaracke zu den Gaskammern getrieben. | |
| Wir wissen nicht, ob Karolina Cohn diesen Weg gehen musste. Es ist aber | |
| möglich. Karolina wäre dann 14 Jahre alt geworden. Doch alles, was wir | |
| wirklich wissen, ist, dass Archäologen hier, 73 Jahre später, ihren | |
| Glücksanhänger gefunden haben. | |
| Ein Amulett und eine Menge Papier. Es sind Geschichten wie die von Karolina | |
| Cohn, die bleiben werden, auch wenn die letzten Überlebenden verstorben | |
| sind. Yoram Haimi wird nach dem Winter aus Israel nach Sobibór | |
| zurückkehren, dann, wenn der Frost aus dem Boden gewichen ist. Und wird | |
| weiter in der Geschichte der Schoah graben. | |
| 23 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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