Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vernichtungslager Sobibór: Das gefundene Amulett
> Wo das Vernichtungslager Sobibór stand, wurde ein Anhänger entdeckt.
> Unser Autor hat dessen Geschichte recherchiert: Er gehörte Karolina Cohn.
Bild: Überreste aus dem Vernichtungslage: Eine Museumsmitarbeiterin präsentie…
Der Anhänger ist dreieckig, die Kanten sind 2,5 Zentimeter lang. Oben ist
ein Ring eingefasst, mit dem er an einer Kette befestigt werden kann. Auf
der Vorderseite trägt das aus Silber gefertigte Amulett das Datum „3. Juli
1929“ und die Ortsbezeichnung „Frankfurt a. M.“. Darüber steht in
hebräischer Schrift „Mazal tov“, „viel Glück“. Auf der Rückseite fin…
sich der hebräische Buchstabe „He“, der für den Namen Gottes steht, und
drei Davidsterne.
Das Amulett ist alles, was von einem Menschen übrig geblieben ist.
Eine verlassene Gegend im Dreiländereck von Polen, der Ukraine und
Weißrussland. Nahe eines Bahnhofs mit verrosteten Schienen breiten sich
schlanke Pinien aus, die erst in den 1940er Jahren gepflanzt wurden, um ein
Menschheitsverbrechen zu verbergen. Nichts sollte kenntlich bleiben vom
Vernichtungslager Sobibór im von den Deutschen besetzten Polen, in dem die
Nazis zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 bis zu 250.000 Juden ermordeten.
Das Lager wurde aufgelassen, die Baracken wurden abgerissen, die Toten
verbrannt.
Hier hat der Archäologe Yoram Haimi Hinterlassenschaften von Ermordeten
gefunden. Seit zehn Jahren gräbt der Israeli zusammen mit polnischen
Kollegen an der früheren Mordstätte, deren Topografie lange unbekannt
geblieben war; unterstützt wird er von der Jerusalemer Gedenkstätte Jad
Vaschem. Er fühle sich wie ein Kriminalist in einem forensischen Labor,
sagt der 55-Jährige. Sie haben die Fundamente der Gaskammern entdeckt und
konnten die Lage der hölzernen Baracken bestimmen. Sie fanden eine
Halskette mit Davidstern, eine Damenarmbanduhr, Brillen, Kämme, Löffel und
Gabeln, weiteren Schmuck – mehr als 3.000 solcher Gegenstände.
Haimi ist in Sobibór auch mit seiner eigenen Familiengeschichte
konfrontiert: „Zwei meiner Onkel sind im März 1943 von Paris nach Sobibór
deportiert und dort ermordet worden“, sagt er. Wie er das aushält? „Ich
versuche den Job und die Familie zu trennen. Aber manchmal geht das nicht.
Dann muss ich eine Pause machen.“
Im Oktober 2016 graben Haimi und seine Kollegen an der Stelle, an der die
Baracke stand, wo sich die weiblichen Opfer ausziehen mussten und ihnen die
Haare geschoren wurden, bevor sie im Laufschritt in die Gaskammern
getrieben wurden. „Himmelfahrtsstraße“ nannten die Täter diesen 150 Meter
langen Weg. Hier entdeckt ein polnischer Arbeiter das Amulett. Experten von
Jad Vaschem vermuten, dass es zwischen die Dielenbretter der Baracke
gefallen ist und im Erdboden verschwand, 1942 oder 1943.
Wem aber hat es gehört?
Am 15. Januar 2017 macht Jad Vaschem auf den Fund des Amuletts aufmerksam.
Die Meldung findet weltweit Beachtung. Die Gedenkstätte bittet Verwandte
der früheren Besitzerin, sich zu melden. Am selben Tag beginnt unsere Suche
in Archiven, Museen und Gedenkstätten, unter Judaica-Experten und
Historikern. Sie führt von Frankfurt nach Sobibór, im Zickzackkurs um einen
Lebensweg herum, sie bleibt in Sackgassen hängen und findet neue Wege. Sie
bleibt unvollständig, zeigt aber, dass Geschichte auch nach dem Tod der
letzten Zeitzeugen erzählbar bleiben wird.
## War Karolina Cohn mit Anne Frank verwandt?
33 Jahre nach Kriegsende, mit Datum vom 6. April 1978, füllt eine Sophie
Rollmann aus Zürich ein Formblatt von Jad Vaschem aus. Handschriftlich
zeigt sie den Tod von Karolina Cohn an, geboren am 3. Juli 1929 in
Frankfurt am Main. Karolina Cohn sei am 11. November 1941 von Frankfurt
nach Minsk in Weißrussland deportiert und 1945 für tot erklärt worden. Als
Verwandtschaftsgrad gibt Rollmann „Cousine 2. Grades“ an. Das Gedenkbuch
des deutschen Bundesarchivs bestätigt, dass Karolina das einzige an diesem
Tag geborene jüdisches Kind in Frankfurt ist.
Sie muss die Besitzerin des Amuletts gewesen sein, sind sich die Experten
von Jad Vaschem sicher. Auf niemanden sonst passen die Angaben auf dem
Anhänger. Doch Sophie Rollmann ist 1985 verstorben, über Verwandte nichts
bekannt.
Heute, in der Zeit, in der die letzten Überlebenden der Schoah hoch betagt
sterben und bald niemand mehr da sein wird, der die Geschichte aus erster
Hand erzählen kann, sind die Dokumente des Massenmords sorgfältig in
Archiven verwahrt. Und sie werden auch noch gelesen werden können, wenn
selbst die Enkel der Zeitzeugen verstorben sind. Was erzählen sie über
Karolina Cohn?
Der Internationale Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, 1946 im
Nachkriegschaos gegründet, um den Überlebenden Hilfe bei den
Nachforschungen nach ihren Angehörigen zu ermöglichen, verwahrt rund 3
Millionen Dokumente. Darunter befindet sich die Frankfurter
Deportationsliste vom 11. Oktober 1941. „II. Transport nach Polen“ ist oben
auf der ersten Seite der bräunlich vergilbten Blätter notiert – gemeint ist
damit die zweite Deportation aus Frankfurt. Darunter steht: „wahrscheinlich
Kowno“, wobei die Stadt in Litauen später durchgestrichen und durch „Minsk…
ersetzt wird. Es folgen in Maschinenschrift die Namen der Deportierten,
säuberlich nach Namen, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum und -ort geordnet.
Von den vermutlich 1.042 Menschen, die transportiert werden, überleben
neun.
Auf der fünften Seite findet sich „Cohn, Karolina S.“ – das S. steht für
ihren Zwangsvornamen Sara – unter der Wohnadresse Thomasiusstraße 10 in
Frankfurt, geboren am 3. 7. 29 in Frankfurt. Auf derselben Seite stehen die
Namen der Eltern Else und Richard Cohn und der von Karolinas kleiner
Schwester Gitta. Es sind die letzten papierenen Lebenszeichen der Familie.
Ihr Amulett trägt Karolina wohl von ihrer Geburt an. Der Judaika- und
Numismatik-Experte Ira Rezak aus New York kennt eine ganze Reihe ähnlicher
Anhänger. Diese wurden, so Rezak, einer jahrhundertelangen jüdischen
Tradition folgend, zur Geburt als Talisman hergestellt, ursprünglich
ausschließlich für Knaben. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an aber bekamen
auch neu geborene Mädchen ein solches Amulett geschenkt, gefertigt meist
aus Silber oder Gold. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit sollte das
Geburtsamulett das Leben der Kleinen beschützen. Die Aufschrift „Mazel
tov“ entspricht nicht der Tradition, aber „könnte erklären, warum eine 19…
geborene Person diesen Viel-Glück-Talisman noch als junge Erwachsene
getragen hat“, sagt Ira Rezak.
Anne Frank, im selben Jahr wie Karolina Cohn in Frankfurt geboren, trug
einen fast identischen Talisman, was Jad Vaschem zunächst vermuten lässt,
sie und Karolina könnten verwandt gewesen sein. Yad-Vashem-Mitarbeiter
Yoram Haimi berichtet jedoch, dass die Jerusalemer Forschungs- und
Gedenkstätte nach der Veröffentlichung des Funds von Sobibór innerhalb
weniger Wochen Informationen über acht nahezu identische Anhänger erhalten
hat, davon zwei in Israel und sechs in den USA. Sie gehören Jüdinnen, die
vor dem Holocaust hatten fliehen können. Alle Amulette betreffen
ausschließlich die Geburtsjahrgänge 1928 und 1929 aus Frankfurt. „Nur
neugeborene Mädchen haben ihn bekommen“, sagt Haimi, wohl von der Jüdischen
Gemeinde.
1929, das ist der Beginn schwerer Zeiten. Am „schwarzen Donnerstag“ kracht
die New Yorker Börse zusammen, eine Wirtschaftskrise in Deutschland ist die
Folge, die Arbeitslosigkeit steigt stark. Familie Cohn war schon vorher
nicht wohlhabend. Akten des Hessischen Wirtschaftsarchivs lässt sich
entnehmen, dass der Vater Richard seit 1919 eine Buchhandlung mit
Antiquariat in der Bornheimer Landstraße betreibt. Das ist, gerade während
der Inflationszeiten zu Beginn der 1920er Jahre, eine häufig genutzte
Möglichkeit, um sich selbstständig zu machen, denn viele Menschen müssen
ihre alten Bücher verkaufen, während andererseits ein hoher Lesebedarf
besteht. Doch Cohns Buchladen geht es nicht mehr gut. Die an die Stadt
abgeführten Steuern dokumentieren den Niedergang ab 1926. Zuletzt, im Jahr
1931, führt Richard Cohn nur 95,38 Reichsmark Jahressteuern an die Stadt
ab.
Mehr als 55.000 Arbeitssuchende verzeichnet Frankfurt in diesem Jahr, im
ganzen Reich sind es über 5,5 Millionen. Wer kauft da noch Bücher? Im
selben Jahr muss Richard Cohn sein Geschäft zusperren.
„Zahlungsunfähigkeit“, vermerkt eine Karteikarte der Industrie- und
Handelskammer. Das Konkursverfahren wird drei Jahre später mangels Masse
eingestellt.
Wer waren Karolinas Eltern? Richard Cohn, 1884 in Darmstadt geboren, wächst
in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Julius ist Hausierer, die
Mutter Carolina Arbeiterin. Richard hat zwölf Schwestern und Brüder, davon
fünf aus früheren Ehen des Vaters und der Mutter. Achtmal müssen die Cohns
in Darmstadt innerhalb weniger Jahre umziehen.
Richard lernt Tapezierer und zieht nach Frankfurt um. Mehrfach wird er
wegen Betrugs und Körperverletzung verurteilt, 1908 muss er einen Monat und
zwölf Tage im Mainzer Gefängnis absitzen.
Der Staat zieht ihn im Ersten Weltkrieg als Soldat ein. Wo er zum Einsatz
kommt und welchen Rang er bekleidet, bleibt ungewiss. Anhand der deutschen
Verlustlisten lässt sich aber belegen, dass er am 17. April 1918 schwer
verwundet wird. Ein Lungendurchschuss macht den Mann für den Rest seines
Lebens zum Invaliden. Als Tapezierer kann er danach offenbar nicht mehr
arbeiten.
Wo und wie Richard seine spätere Frau Else kennengelernt hat, wissen wir
nicht. Beim Institut für Stadtgeschichte Frankfurt weiß man, dass sie am 8.
August 1928 in Frankfurt geheiratet haben, elf Monate vor Karolinas Geburt.
Else, geborene Eisemann, kommt aus Bad Orb im Taunus. Elses Vater Salomon
arbeitet dort als Händler und Dienstmann. Else wird als Zweitälteste von
fünf Geschwistern 1895 geboren.
Nach der Pleite seines Buchladens ist Karolinas Vater Richard zu Beginn der
1930er Jahre auf eine dürftige Kriegsinvalidenrente angewiesen, um seine
Familie durchzubringen. Mehrfach muss die Familie umziehen, bis sie 1935 in
der Thomasiusstraße 10, 1. Stock rechts, im Frankfurter Ostend unterkommt.
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 wird seine Invalidenrente offenbar
gestrichen. Richard Cohn untervermietet zeitweise ein Zimmer der Wohnung.
Er erhält Unterstützung von der jüdischen Wohlfahrtspflege. Ab dem 1.
September 1940 sind es 103 Mark und 20 Pfennige im Monat, umgerechnet etwa
300 Euro.
Diese Informationen finden sich in Dokumenten des Hessischen
Hauptstaatsarchivs, das die Akten des Oberfinanzpräsidenten verwahrt.
Dessen Beamte registrieren den Besitz aller Juden, um ihn später zu rauben.
Doch bei den Cohns ist nichts zu holen: Sie besäßen „weder Vermögen noch
Grundbesitz“, geben Karolinas Eltern im Oktober 1940 an. Die vierköpfige
Familie lebt von monatlich 120 Reichsmark. Die Miete beträgt 60 Mark. Der
Vater, inzwischen 56, ist krank und in Behandlung bei einem jüdischen
„Krankenbehandler“, wie jüdische Ärzte im NS-Jargon diskriminierend genan…
werden.
## Die Cohns müssen bleiben, zur Flucht fehlt das Geld
Viele Frankfurter Juden sind inzwischen vor den Drangsalen des Naziregimes
ins Ausland geflüchtet. Doch dazu benötigt man nicht nur ein Visum, einen
Reisepass, steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Devisenerklärungen
und eine Beurlaubung von der Wehrpflicht, der Juden ansonsten längst nicht
mehr „würdig“ sind. Zuallererst braucht es Geld für Bahnfahrkarten,
Schiffsbilletts und Vermögensnachweise zur Erlangung einer
Einreisegenehmigung im Fluchtland. Die Cohns haben kein Geld.
Sie müssen bleiben, müssen die Pogromnacht im November 1938 miterleben, in
der die Frankfurter Synagogen niederbrennen.
Karolina wird zu Hause „Karola“ gerufen, das gehe aus ihrer Geburtsurkunde
hervor, berichtet die Historikerin Monica Kingreen, die auf die Geschichte
der hessischen Juden spezialisiert ist. Seit dem August 1938 muss das
Mädchen den Zwangsvornamen Sara tragen. Von September 1941 an wird sie
gezwungen, mit einem gelben Stern an der Brust herumzulaufen, der sie in
der Öffentlichkeit als ein verfemtes jüdisches Kind kennzeichnet. Sie darf
Frankfurt nicht mehr verlassen. Sie darf nicht im Park spielen. Sie erhält
weniger und minderwertige Lebensmittel als „arische“ Kinder. Seit November
1938 ist ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten. Doch ob sie
zuvor noch auf eine solche gegangen ist? Nachfragen bei öffentlichen
Grundschulen in der Umgebung des Wohnorts der Familie Cohn bleiben
ergebnislos.
Welche jüdische Schule aber hat Karolina besucht, das Philanthropin der
Jüdischen Gemeinde oder die Jüdische Volksschule der orthodoxen
Israelitischen Religionsgemeinschaft? Lassen sich vielleicht einstige
Mitschüler finden, die sich an Karolina erinnern?
Die Mitgliedskarteien beider jüdischen Gemeinden sind von den Nazis
vernichtet worden. Aber Karolina Cohn und Anne Frank trugen den gleichen
Talisman, ausgegeben von einer der beiden Gemeinden. Anne Franks Großvater
Michael war Mitglied der mehrheitlich liberalen Hauptgemeinde, in späteren
Jahren war die Familie der Gemeinde zumindest verbunden.
Das heißt: Auch Familie Cohn gehört wohl der Hauptgemeinde an. Also geht
Karolina spätestens seit November 1938 auf das Philantropin. Weitere
Recherchen aber sind ergebnislos. Die Schülerverzeichnisse sind von den
Nazis weitgehend vernichtet worden.
Und so erfahren wir nicht, was für ein Kind Karolina war. War sie lebhaft
oder eher zurückgezogen? Ein Widerspruchsgeist oder angepasst? Immer gesund
oder leicht kränkelnd? Was war ihr liebstes Spielzeug? Hatte sie lange
blonde Haare oder kurze dunkle? Es gelingt auch nicht, ein Foto von ihr zu
finden. Niemand scheint mehr da, der von Karolina berichten könnte. Auch
Jad Vaschem hat bisher keinen Überlebenden gefunden, der sich an sie
erinnern kann.
Einige von Karolinas Tanten und Onkel väterlicherseits sind schon vor der
NS-Zeit nach Amerika ausgewandert. Die anderen Verwandten, Eltern,
Schwester, Onkel, Tanten, Kusinen wurden fast ausnahmslos Opfer der Schoah.
Onkel Markus Cohn starb 1939 im KZ Sachsenhausen, Sigmund Cohn 1943 in
einem Lager in Frankreich. Max Eisemann wurde 1942 im KZ Majdanek
ermordet. Onkel Simon und seine Frau Amalie 1941 in Kaunas erschossen.
Onkel Michael ging nach den Torturen im KZ Dachau 1939 freiwillig in den
Tod. Sein Sohn Ralph konnte nach Palästina flüchten. Er war einige Jahre
älter als Karolina, er könnte sie gekannt haben. Doch Ralph Eisemann ist
vor einigen Jahren in New York verstorben.
Geblieben ist nur Karolinas Leidensgeschichte.
Am 8. November 1941, dem neunten Geburtstag von Karolinas Schwester Gitta,
wird die Familie Cohn von den NS-Behörden über ihre bevorstehende
„Abwanderung“ – ein Tarnbegriff für die Deportationen – informiert. Sie
erfahren nichts über das Ziel der Reise. Ein anderer Verschleppter, der
damals 13-jährige Berthold Adler, erinnert sich: „Am Tag des Transportes
kam ein Offizieller in unsere Wohnung und überwachte unser Weggehen. Am
Nachmittag gingen wir zu Fuß zur Markthalle, wo unser neues Leben begann.“
Die Gestapo hat den Ostflügel des Kellers der großen Frankfurter Markthalle
zum Sammelpunkt bestimmt. Hier werden Karolina und ihre Familie über
mehrere Kontrollstellen geschleust. Der Leiter des Judenreferats der
Frankfurter Gestapo, Heinrich Baab, hat dazu nach dem Krieg eine
sorgfältige Zeichnung angefertigt. Wir erkennen darauf die verschiedenen
Stationen: die Überprüfung der Deportationsliste, die Gepäckdurchsuchung
und Leibesvisitation, die Abgabe der „Vermögenserklärung“, die Stempelung
der Kennkarte mit „evakuiert“. Am Ende steht ein Aufenthaltsraum „bis zur
Verladung“, wie es auf der Skizze heißt.
Vermutlich am Morgen des 12. November 1941 verlässt der Zug mit der Nummer
Da53 den Frankfurter Ostbahnhof. Zum Einsatz kommen ältere Personenwagen 3.
Klasse. Die Reise geht über Berlin, Warschau, Białystok, Wołkowysk,
Baranowitschi nach Minsk. Im Bericht eines Überlebenden heißt es: „Die
Fahrt dauerte sechs Tage. Wir hatten Lebensmittel dabei, aber kein Wasser,
viele Leute starben. Wir haben, als es regnete, die Finger rausgehalten,
und die abgeleckt, um Flüssigkeit zu bekommen. Vor Durst starben Menschen.
Viele schrieen ‚wir brauchen Wasser‘, manchmal bekamen wir etwas bei einem
Halt.“
Nach den ursprünglichen Plänen sollten 18 Züge aus Deutschland in die
besetzte Hauptstadt Weißrusslands gehen, tatsächlich kommen nur sieben mit
6.959 jüdischen Menschen an. Die anderen Juden werden stattdessen nach Riga
in Lettland verschleppt. Im jüdischen Ghetto von Minsk haben die Nazis für
die Ankunft vorgesorgt. Auf Befehl der Einsatzgruppe A erschießen
SS-Sicherheitspolizei und Hilfspolizei zwischen dem 7. und 11. November
1941 6.624 einheimische Juden. Ein Mann wird dabei extra zum Zählen der
Opfer abgestellt. Am 20. November werden weitere 5.000 Menschen ermordet.
So will man Platz für die deutschen Juden schaffen, die in bestimmten
Straßen der Ghettos konzentriert werden.
Ein weiterer Überlebender des Frankfurter Transports berichtet nach dem
Krieg anonym über die Ankunft in Minsk: „Dort mussten wir 3 Tage in einer
ehemaligen Schule, auf Steinplatten, ohne Verpflegung, ohne Closetts und
Waschgelegenheit zubringen. Wir kamen in zerfallene Holzhäuser, in 8–10 qm.
große Zimmer, in die je 12 Personen beiderlei Geschlechts mit Kindern
eingepfercht wurden, ohne Decken, ohne Matratze, ohne Kopfpolster, doch mit
ungeheuren Mengen Wanzen, Mäusen und Ratten.“ Karolina kommt wie alle
Frankfurter Juden in das „Sonderghetto I“.
Ende 1941 gibt es noch keine Vernichtungslager. Die deutschen Juden in
Minsk sollen nicht sofort ermordet werden, sondern zunächst Zwangsarbeit
leisten. Sie sind unter den Nazis beliebter als die weißrussischen Juden,
weil sie alle Befehle sofort verstehen können. „Die Arbeitskommandos wurden
von Wehrmachtssoldaten um 6 Uhr früh abgeholt und zwischen 16 und 18 Uhr
zurückgebracht“, so der anonyme Frankfurter Zeuge. „Tagesverpflegung: 1
Stück Brot ca. 120 gr., wenig minderwertige Wassersuppe, kein Frühkaffee
und kein Nachtessen. Wer irgend etwas von Wertsachen bei sich hatte, wie
Trauringe, Füllhalter etc. vertauschte es an die Russen gegen
Lebensmittel.“
Es ist möglich, dass Karolina hier ihren Glücksanhänger gegen Brot
eintauschen muss. Immerhin ist er aus Silber gefertigt. Vielleicht ist sie
schon im ersten Winter in Minsk gestorben, so wie etwa 100 Frankfurter
Juden, die der Unterernährung, Krankheiten und Erfrierungen nicht
standhalten können.
Vielleicht hat Karolina weiter gelebt, Zwangsarbeit geleistet und ihr
Amulett getragen.
1942 kommen Gaswagen ins Ghetto. Sie sehen wie Möbelwagen aus. Mit den
Abgasen der Motoren werden die Kranken und „Arbeitsunfähigen“, die man in
die Laderäume gepfercht hat, ermordet. Im Juli werden etwa 9.000 Menschen
aus dem Ghetto erschossen, darunter alle Bewohner des „Sonderghettos II“,
nicht aber die Frankfurter Juden. Danach geht die Zwangsarbeit weiter, in
einzelnen „Aktionen“ werden immer wieder Menschen umgebracht. Die jüdischen
Insassen von mindestens 18 Transporten aus Deutschland, die 1942 in Minsk
eintreffen, werden bis auf wenige Ausnahmen sofort nach ihrer Ankunft
erschossen oder erstickt.
Im September 1943 wird das jüdische Ghetto von Minsk aufgelöst. Wieder
werden viele Bewohner getötet. Einige kommen in andere Lager, auch im
besetzten Polen. Mindestens zwei, vermutlich drei Züge verlassen um den 18.
September Minsk. Ihr Ziel ist das Vernichtungslager Sobibór. Ein Zeuge gibt
1961 an, in seinem Zug hätten sich etwa 2.000 Menschen befunden.
Zwei weitere Transporte gehen wohl zur selben Zeit von Minsk in das
Zwangsarbeitslager Trawniki. Möglicherweise ist ein Teil dieser Menschen
kurz darauf weiter nach Sobibór gebracht worden. Kaum einer der Insassen
dieser Deportationszüge ist namentlich bekannt, denn die Nazis haben sich
nur bei Transporten aus Westeuropa die Mühe gemacht, ihre Opfer auch
namentlich zu registrieren.
Thomas Blatt hat Sobibór überlebt, als einer von 53 Juden. Die SS-Männer
wählen den damals 15-Jährigen als Zwangsarbeiter aus. Er hat dort die
Aufgabe, Fotos und Dokumente der Ermordeten, die in ihrem Gepäck gefunden
werden, zu verbrennen. „Sobibór war wie eine Fabrik“, sagt Blatt 2009
gegenüber dem Autor, wenige Tage bevor er als Zeuge gegen John Demjanjuk in
München auftritt. Demjanjuk hatte als ukrainischer „Hilfswilliger“ in dem
Lager gearbeitet und wurde später zu fünf Jahren Haft verurteilt. Blatt ist
ein Teilnehmer des Aufstands von Sobibór gewesen, der im Oktober 1943 dazu
geführt hat, dass die Nazis das Vernichtungslager aufgaben.
Bis dahin steht in Sobibór ein Achtzylinder-Benzinmotor, dessen Abgase in
sechs Kammern von der Größe von vier mal vier Metern geleitet werden. In
den Kammern sind Duschköpfe installiert. Den vielen holländischen Juden,
berichtet der 2015 verstorbene Blatt, habe man vorgegaukelt, sie gingen zur
Körperreinigung. „Sie hatten keine Ahnung, wo sie da hingekommen waren. Ich
bin mir sicher, dass sie, als sie bemerkten, dass nicht Wasser, sondern Gas
aus den Duschköpfen austrat, glaubten, es handele sich um einen technischen
Defekt. Sie starben, ohne zu wissen, dass sie ermordet wurden.“
Bei den Insassen der Züge aus Osteuropa sparen sich die ukrainischen
Hilfswilligen und die SS die Camouflage. Sie werden unter Gebrüll und mit
Peitschenhieben über den drei bis vier Meter breiten Weg von der
Entkleidungsbaracke zu den Gaskammern getrieben.
Wir wissen nicht, ob Karolina Cohn diesen Weg gehen musste. Es ist aber
möglich. Karolina wäre dann 14 Jahre alt geworden. Doch alles, was wir
wirklich wissen, ist, dass Archäologen hier, 73 Jahre später, ihren
Glücksanhänger gefunden haben.
Ein Amulett und eine Menge Papier. Es sind Geschichten wie die von Karolina
Cohn, die bleiben werden, auch wenn die letzten Überlebenden verstorben
sind. Yoram Haimi wird nach dem Winter aus Israel nach Sobibór
zurückkehren, dann, wenn der Frost aus dem Boden gewichen ist. Und wird
weiter in der Geschichte der Schoah graben.
23 Feb 2017
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Vernichtungslager
NS-Verbrechen
Lesestück Recherche und Reportage
Holocaust
Judentum
NS-Verfolgte
Holocaust
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Lesestück Recherche und Reportage
Holocaust-Gedenktag
NS-Straftäter
Reinhold Hanning
Vernichtungslager
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Auschwitz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Suche nach den eigenen Wurzeln: Wie ich meinen Vater fand
Unser Autor wuchs ohne Vater auf, bis ihn ein Zufall zu seinem Opa führt,
der das KZ Sobibor überlebte. Über Traumata und Familienbande.
Jüdisches Leben in Berlin: Rückkehr auf den Balkon
1939 geflüchtet, 2019 nach Berlin zurückgekehrt: Tom Tugend berichtet aus
seinem Leben und aus dem seines Vaters Gustav Tugendreich.
73. Jahrestag der Befreiung von den Nazis: Akten gegen Fake News
Ein Archiv wird im Netz geöffnet: Der Internationale Suchdienst will
Geschichte erzählen, auch wenn die letzten Nazi-Opfer bald verstorben sind.
Archäologie und NS-Verbrechen: Nach Nazi-Terror graben
Wie der Archäologe Wojciech Mazurek im früheren Nazi-Vernichtungslager
Sobibor nach den Spuren von Opfern und Tätern sucht.
Die Vernichtung der polnischen Juden: Die Spuren des Verbrechens
Stephan Lehnstaedt erinnert in seinem Buch „Der Kern des Holocaust“ an die
Todeslager der „Aktion Reinhardt“ im deutsch besetzten Polen.
75 Jahre Tagebuch der Anne Frank: Wenn Worte überleben
In Amsterdam schrieb die 13-Jährige ihren ersten Satz in das rotkarierte
Buch. Es ist das berühmteste Tagebuch der Welt geworden.
Dokumentation über Vernichtungslager: Empathie erzeugen
Darf man Auschwitz als Virtual-Reality-Erlebnis inszenieren? Die
WDR-Produktion „Inside Auschwitz – VR documentary“ macht es.
Nationalsozialistische Verbrechen: Die Arbeit der Nazijäger
Fast immer, wenn mutmaßliche NS-Verbrecher in Deutschland vor Gericht
stehen, war die Zentrale Stelle in Ludwigsburg mit dem Fall befasst.
Ehemalige SS-Wachmänner in Auschwitz: Drei Anklagen möglich
2016 wurde ein ehemaliger SS-Wachmann zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nun
könnte drei weiteren der Prozess gemacht werden – falls sie
verhandlungsfähig sind.
Formel „polnische Vernichtungslager“: Polnisches Gericht verurteilt ZDF
In einer Doku hatte das ZDF zwei Vernichtungslager Nazi-Deutschlands als
„polnisch“ bezeichnet. Nun hat ein Holocaust-Überlebender den Sender
erfolgreich verklagt.
BGH-Urteil zu ehemaligem SS-Mann: Willig, gehorsam, schuldig
Oskar Gröning war ein Rädchen in der Maschinerie des Nationalsozialismus.
Er machte sich wegen Beihilfe zum Massenmord strafbar.
Auschwitz-Überlebende Eva Umlauf: „Wo hat man da gelebt?“
Eva Umlauf wurde 1942 in einem Arbeitslager geboren und überlebte Auschwitz
– als Zweijährige. Im Interview spricht sie über ihr Leben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.