# taz.de -- Suche nach den eigenen Wurzeln: Wie ich meinen Vater fand | |
> Unser Autor wuchs ohne Vater auf, bis ihn ein Zufall zu seinem Opa führt, | |
> der das KZ Sobibor überlebte. Über Traumata und Familienbande. | |
Bild: Unser Autor (links) und sein Großvater Thomas Blatt | |
Noch bevor ich lesen oder schreiben konnte, erzählte ich meiner Mutter oft | |
Geschichten, die sie für mich aufschrieb. Es waren Helden- und | |
Abenteuergeschichten, fantastische und oftmals wirre Märchen. Und manchmal, | |
sagt sie, hätte ich in ihnen auch nach meinem Vater gesucht. So erinnert | |
sie es zumindest, als ich sie nach meiner Kindheit frage. | |
Sehr schwierig sei es mit mir gewesen. Als Baby hätte ich nächtelang | |
geschrien, so lange, bis ich blau anlief. Ich weigerte mich, von ihrer | |
Brust zu trinken, und mied ihren Körperkontakt. Weil ich so heftig schrie | |
und zitterte, fuhr meine Mutter häufig mit mir in die Kinderklinik nach | |
Karlsruhe, aber sie fanden nichts. Sie untersuchten mich auf Spastik und | |
auf Epilepsie, später auch auf ADHS, aber nie fanden sie auch nur die | |
kleinste Kleinigkeit. Ich war gesund. | |
Während meiner Gymnasialzeit häuften sich die Fragen nach meinem Vater, ich | |
wollte wissen, wo er ist und was er macht. Die kryptischen Antworten meiner | |
Mutter reichten mir nicht mehr, die Sache ließ mich nicht los. Ein Gefühl, | |
irgendwie anders zu sein, erwuchs mit den Jahren, besonders ab meiner | |
Jugend, wuchs so stark an, dass es mich innerlich zerriss. Da war ein Dämon | |
in mir, und ich begriff nicht, woher er kam – bis ich vor zehn Jahren | |
meinen Vater fand. | |
Ich habe die Geschichte schon so oft erzählt, dass es mir irgendwann | |
vorkam, als berichte ich über eine andere Person. Aber diese Person bin | |
ich. Ein Mensch, der an so etwas wie Schicksal nie geglaubt hat; ein | |
Mensch, für den ein Zufall stets ein Zufall war, egal wie viele Umstände | |
ein Ereignis möglich machten. Und noch heute rätsle ich über das | |
Zusammenfallen jener Umstände, die mich zu ihm geführt haben. War das | |
wirklich Zufall? Oder eine göttliche Fügung aus dem Äther, ein Hinweis zur | |
Lösung der latenten Ungewissheit, die mich immer quälte: Wer bin ich? Was | |
von meinem Vater steckt in mir? Würde ich mich in der Begegnung mit meinem | |
Vater erkennen, vielleicht sogar besser verstehen können? | |
## Koinzidenzen | |
Alles kam im Mai 2009 ins Rollen. Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach | |
Heidelberg, um eine alte Freundin zu besuchen, von der ich mir ein wenig | |
Trost erhoffte. Mein Leben in Berlin war aus den Fugen geraten, Partys, | |
Drogen, Sinnkrisen; Ängste, die ich nicht begriff, und über allem die | |
panische Sorge, die Kurve nicht zu kriegen. Meine angefangene | |
Bachelor-Arbeit über Humanexperimente in den KZs trug auch nicht gerade zu | |
meiner Erheiterung bei. In dieser bedrückten Stimmung fuhr ich also in den | |
Süden. | |
Für die Fahrt kaufte ich mir den Spiegel, den ich damals fast nie las. | |
Schweigend blickte ich aus dem Fenster und dachte über das Zerbrochene in | |
meinem Leben nach, hörte zur Ablenkung Musik und blätterte im Magazin herum | |
– die Gier der Reichen nach dem großen Crash, Steueroasen in Europa, Obama | |
will den Friedensprozess in Nahost beleben, Interview mit dem | |
Holocaust-Überlebenden Thomas Blatt. Gut, dachte ich, Nationalsozialismus | |
geht immer, und las das Interview. | |
Es drehte sich um den Demjanjuk-Prozess, der bald in München verhandelt | |
werden sollte. John Demjanjuk wurde vorgeworfen, [1][Wächter im | |
Vernichtungslager Sobibór] gewesen zu sein, in dem an die [2][250.000 Juden | |
ermordet wurden]. Blatt würde als Nebenkläger im Prozess vertreten sein und | |
berichtete im Interview, wie er das Vernichtungslager überlebt hatte – als | |
Einziger seiner Familie. Ein Kästchen auf der Mitte der Seite mit einem | |
Bild von ihm informierte über seine Biografie: 1927 im polnischen Schtetl | |
Izbica geboren, 1943 nach Sobibór deportiert, ausgewandert in die USA. Lebt | |
und arbeitet in Santa Barbara. | |
Als ich den Bahnsteig in Heidelberg betrat und meine Freundin mich mit | |
einem breiten Lächeln in die Arme schloss, hatte sich meine Ahnung bereits | |
in Unruhe verwandelt. Wir gingen in ihre Wohnung, und ich pfefferte den | |
Spiegel in einem Akt der Verneinung in eine Zimmerecke, als könnte ich | |
damit die Unruhe, die in mir rumorte, verbannen. Nach einer Woche hielt ich | |
es aber nicht mehr aus, fuhr nach Bruchsal zu meiner Mutter und zeigte ihr | |
das Interview. „Renata“, sagte ich, „kann es sein, dass das mein Opa ist?… | |
Sie betrachtete sein Konterfei und zögerte. „Ja … ich denke, das ist er.“ | |
Das war der Moment, in dem ich explodierte. Wütend feuerte ich ihr die | |
Vorwürfe entgegen, die ich ihr schon so oft gemacht hatte. Wie kannst du | |
dir da so sicher sein? Warum hast du dir damals nichts aufgeschrieben! | |
Warum hast du dir nichts gemerkt! Warum zum Teufel bist du nur so | |
gedankenlos gewesen! Ich sah, wie Schuldgefühle ihr Gesicht verkrampften, | |
ihre Pein, die mich gleichermaßen quälte, denn ich liebte meine Mutter. | |
Aber die Wut ging sehr viel tiefer, sie rüttelte an den Grundfesten meiner | |
Identität. | |
Bisherige Suche | |
Was ich wusste und was sie mir an diesem Tag erneut erzählte, waren die | |
alten unbelegten Wahrheiten: Der Name meines Vaters ist Leonard Sabra | |
Blatt; sein Vater, an dessen Vornamen sie sich nicht erinnern konnte, war | |
irgendwann aus Polen in die USA eingewandert, nach Santa Barbara, wo er | |
lange, vielleicht noch immer lebte. Möglich auch, dass er das | |
Holocaust-Museum in Los Angeles mitbegründet hatte (geprüft und nichts | |
herausgefunden) und eine Tochter hat, die eine bekannte Mathematikerin ist | |
(geprüft und nichts herausgefunden) – heute weiß ich, dass die letzten | |
beiden Vermutungen falsch sind. Das war alles, was mir meine Mutter über | |
meine amerikanisch-jüdische Familie erzählen konnte. | |
2001 schon hatte meine Mutter an das Generalkonsulat in Los Angeles | |
geschrieben mit der Bitte der Preisgabe des Wohnorts von Leonard Sabra | |
Blatt, notariell anerkannter Vater von Boris Messing, 18 Jahre alt. Das | |
Antwortschreiben: „In den USA gibt es kein wie in Deutschland übliches | |
polizeiliches Meldesystem. Alle Anschriften- und Personenermittlungen sind | |
daher sehr schwierig, in vielen Fällen sogar unmöglich.“ Vorschlag des | |
Konsulats: ein Detektivbüro engagieren, Tagessatz zwischen 400 und 1.000 | |
Dollar. Das kam nicht infrage, Arbeiterfamilie, alleinerziehende Mutter, | |
kein Geld. Und auch eigene Recherchen, die ich in den folgenden Jahren | |
betrieben hatte, blieben ergebnislos. | |
Außer einer Vaterschaftsurkunde hatte meine Mutter keine Dokumente | |
aufbewahrt, die mir die Suche nach ihm erleichtert hätten. Sie kannte weder | |
den Vornamen meines Großvaters, noch wusste sie etwas über die Umstände, | |
wie er in die USA gekommen war. Von meiner Oma wusste sie überhaupt nichts. | |
Mir kam es nicht in den Sinn, dass mein Opa ein Holocaustüberlebender sein | |
könnte. Seit dem frühen 19. Jahrhundert waren polnische Juden in die USA | |
ausgewandert, Millionen von Juden waren aus Russland und Osteuropa dorthin | |
gegangen. War die Familie meines Opas eine davon gewesen? Meine Mutter | |
konnte mir nicht viel über meinen Vater erzählen. Er sei wild, Veganer und | |
gegen Drogen gewesen. Das war so ziemlich alles. | |
Mit 22 Jahren, Anfang der 80er, war sie für ein Jahr lang in den Staaten | |
herumgereist, die meiste Zeit in Kalifornien. Sie traf den gleichaltrigen | |
Lenny, wurde schwanger und flog zurück nach Deutschland, wo sie eine | |
Schauspielausbildung beginnen wollte. Das Einzige, was ich von meinem Vater | |
je zu Gesicht bekam, waren Nacktbilder von ihm, wie er sich mit langen | |
roten Haaren an einem Baum räkelt. Und ein Bild mit meiner Mutter in | |
schreiend bunten Leggins vor einer Schrottkarre mit schlecht aufgemaltem | |
Peace-Zeichen. That was it. | |
## „Ich bin im Gefängnis“ | |
Meine Kindheit verbrachte ich viele Jahre lang bei meinen Großeltern in | |
Süddeutschland. Zwischen meinem dritten und siebten Lebensjahr sah ich | |
meine Mutter nur an den Wochenenden und in den Ferien. Sie machte ihre | |
Schauspielausbildung in Hamburg und ich erinnere mich noch, dass ich in | |
dieser Zeit häufig krank wurde, weil ich sie vermisste. Als sie von Hamburg | |
nach Süddeutschland zurückkehrte, dauerte es Jahre, bis ich wieder | |
Vertrauen zu ihr fasste und wir uns zusammenrauften. Sie hatte mich im | |
Stich gelassen, und das ließ ich sie auch spüren. | |
Lenny rief mich bisweilen an oder schickte mir Pakete mit Rock-CDs und | |
irgendwelchem Tinnef, meistens an meinen Geburtstagen. Ich war für ihn | |
erreichbar, aber umgekehrt galt das nicht. Sie habe mich vor ihm schützen | |
wollen, gestand mir meine Mutter später, sie war überzeugt davon gewesen, | |
dass sie mich in Gefahr gebracht hätte, wenn ich ihm als Kind begegnet | |
wäre. An die Telefongespräche mit Lenny erinnere ich mich nicht und auch | |
nicht, wann sie begannen. Nur an das Allerletzte erinnere ich mich genau. | |
Mit ihm brach der Kontakt ab. | |
„Ich bin im Gefängnis“, sagte er mit erstickter Stimme. „Im Gefängnis?�… | |
„Yes.“ Ich hatte in der Schule gerade erst angefangen, Englisch zu lernen | |
und war mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden hatte. Aber nach | |
mehrmaligem Nachfragen bestand kein Zweifel mehr. Mein Vater saß im Knast, | |
weil er Dokumente gefälscht hatte, Pässe, Führerscheine, | |
Versicherungspolicen. Er legte auf, und das war es dann. Von heute auf | |
morgen meldete er sich nicht mehr. Ich erinnere mich noch gut daran, wie | |
vor den Kopf gestoßen ich mich nach diesem Telefonat gefühlt hatte, dass es | |
das letzte sein sollte für viele Jahre, war mir natürlich nicht klar in dem | |
Moment. Je mehr Zeit verstrich und er sich nicht bei mir meldete, desto | |
öfter fragte ich meine Mutter nach ihm aus. | |
Die Zerrissenheit meiner Gefühlswelt nahm immer krassere Züge an. Schon mit | |
11, 12 Jahren war ich für zwei Jahre in Therapie, weil ich mich für den | |
Bruder Jesu gehalten und intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt hatte. In | |
meiner Jugend fing ich dann an, meine Umgebung zu terrorisieren: Lehrer, | |
Schüler, Freunde, die Freunde meiner Mutter und natürlich meine Mutter | |
selbst. Ich war gut mit Worten und erkannte schnell die Schwachstellen bei | |
anderen Menschen, in die ich meinen Stachel stach. Ich beschimpfte und | |
erniedrigte meine Mutter: Sie könne nichts und sei ein Niemand, sie habe | |
mich im Stich gelassen und würde es niemals zu etwas bringen. Gleichzeitig | |
fühlte ich mich deswegen schuldig, ich verstand nicht, weshalb ich sie und | |
andere so fertigmachte. | |
Tagelang schloss ich mich ein und weinte, der Dämon in mir ließ mir keine | |
Ruhe. Als meine Mutter es nicht mehr aushielt, sagte sie zu mir, ich solle | |
mein Bündel packen und verschwinden, dann verließ sie hastig die Wohnung. | |
Stunden später kehrte sie zurück und fand mich weinend und zerknirscht am | |
Küchentisch vor. Ich bat sie flehentlich, mich nicht fallen zu lassen, es | |
sei ein Abgrund in mir, den ich nicht verstünde. Sie hielt zu mir. | |
## Opa isst gern Schokolade | |
So stur und widerspenstig und verletzend ich auch sein konnte, auch meine | |
Freunde hielten zu mir. Sie scheuten keinen Konflikt und boten mir Paroli, | |
andererseits gaben sie mir zu verstehen, dass sie meinen Eigensinn auch | |
schätzten. Wenn ich wollte, konnte ich sehr charmant sein. Ich bin sehr | |
direkt und habe einen sarkastischen Humor, das hat es mir immer leicht | |
gemacht, mit Leuten in Kontakt zu kommen. Außerdem spielte ich Gitarre und | |
war ein leidenschaftlicher Entertainer. Seit meinem elften Lebensjahr war | |
ich in verschiedenen Theatergruppen, dort und durch die Musik schaffte ich | |
es immer wieder, meine widersprüchlichen Gefühle aufzulösen. | |
2009, da ich meinen Opa nun per Zufall im Spiegel entdeckt hatte, schien es | |
zum ersten Mal einen echten Anhaltspunkt zu geben. Sollte meine Suche nun | |
endlich vorbei sein? Würde ich meinen Vater kennenlernen? | |
Nachdem ich dem Spiegel-Redakteur geschrieben und über den Anwalt meines | |
Großvaters Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, traf ich meinen Opa in der | |
Wohnung einer Bekannten in Berlin. Als ich ankam, saß er mit gebeugtem Kopf | |
am Küchentisch und stopfte sich, noch während er mich begrüßte, | |
Schokoladenstücke in den Mund. Das war mir sofort sympathisch. An die | |
Unterhaltung an diesem Tag erinnere ich mich schlecht, aber ich weiß noch, | |
dass es mir so normal vorkam, wie eine Pizza Margherita zu bestellen | |
Dieser alte Mann, Thomas „Toivi“ Blatt, war mein Opa, und warum auch nicht! | |
Dass er als Einziger von seiner Familie Sobibór überlebt hatte; dass von | |
den knapp 50 Überlebenden überhaupt nur noch vier am Leben waren; dass er | |
außerdem eine prominente Persönlichkeit war, die es sich zur Mission | |
gemacht hatte, der Welt von Sobibór zu berichten; dass er den Papst, Liz | |
Taylor und viele andere Berühmtheiten getroffen hatte; dass… – Nun, all | |
das, die ungeheuerliche Dichte seines Lebens, erfasste und begriff ich erst | |
im Laufe der Jahre. | |
Tom, wie ich meinen Großvater ab da nur noch nannte, blieb wegen des | |
Demjanjuk-Prozesses eine Weile in Deutschland. Diverse Lokalmedien stürzten | |
sich auf die Geschichte, wie ich meinen Opa gefunden hatte, und langsam | |
drang es auch in mein Bewusstsein, dass ich die ganze Zeit nicht nur nach | |
meinem Vater, sondern auch nach dem Rest meiner Familie und damit dem | |
Jüdischen in mir gesucht hatte. | |
## Das Jüdische in mir | |
Seit Beginn meines Geschichtsstudiums hatte ich mich mit jüdischer | |
Geschichte befasst, mit der Haskala und ihrem Gegenpol, dem Chassidismus, | |
mit Antisemitismus und Zionismus, mit der großen, kuriosen Frage: Wer und | |
was ist eigentlich ein Jude? Meine Suche begann aber schon viel früher und | |
gewissermaßen intuitiver: durch das Hören jiddischer Folklore-Musik, durch | |
Romane und Woody-Allen-Filme, die ich wie ein Irrer verschlang. Überall | |
suchte ich nach jüdischen Biografien – Schriftsteller, Wissenschaftler, | |
Musiker, Revolutionäre, Anarchisten, Künstler, Denker – und fand heraus, | |
dass sie Juden waren, begann mein Herz zu jauchzen. Diese großen, klugen | |
Menschen waren Juden und auch ich war jüdisch, also musste ich doch | |
ebenfalls großartig und klug sein! Das war meine Gleichung. | |
Die Identifizierung mit diesen Biografien gab mir nicht nur ein Gefühl von | |
Grandiosität, ich suchte auch nach meinem Stamm, ich wollte dazugehören. | |
Dieses Gefühl verstärkte sich durch das Hören jiddischer Musik mit ihrem | |
schwermütigen, gefühlvollen Grundton. Jüdisch sein, das bedeutete für mich | |
alles Kreative, Progressive und Tiefsinnige, alles Melancholische und | |
Ironische im Leben – Eigenschaften, die ich mir stolz und selbstgefällig | |
attestierte. | |
Indem ich das Jüdischsein verklärte, hob ich mein Ego auf eine Empore. Dass | |
ich (auch) Jude war, empfand ich als Adelung, und damals, als junger Mann, | |
konnte ich nicht unterscheiden zwischen der Suche nach meinem Vater und dem | |
Empfinden, jüdisch zu sein. Beides war eins. | |
Meine deutschen Großeltern sind Donauschwaben, Flüchtlinge aus Kroatien, | |
der Opa gelernter Metzger, die Oma Kassiererin im Supermarkt in der Nähe | |
eines pittoresken Dörfchens inmitten Süddeutschlands, wo sie in ihrem | |
selbst gebauten Haus lebten. Klassische Arbeiterfamilie. Ich fühlte mich | |
geborgen bei ihnen und war doch ganz anders als sie, wissensdurstiger, | |
intellektueller, anarchistischer, rebellischer. Dass dieses Andere, das | |
mich von meiner deutschen Familie trennte, von meinem Vater herrührte, | |
ahnte ich schon immer, aber ich konnte es nicht in Worte fassen oder | |
einordnen. Das Trennende war ein sehr diffuses, oftmals schmerzhaftes | |
Gefühl. Als ich Tom traf, lüftete sich der Vorhang und ich sah die andere | |
Seite. | |
Nach unserem ersten Treffen begleitete ich meinen Großvater auf einige | |
seiner Termine. Tom hielt einen Vortrag in einer Schule im Schwarzwald. Ich | |
fuhr mit. Wir übernachteten im selben Hotel, im selben Bett, Opa und Enkel | |
Seit’ an Seit’. Als es tagte, warf Tom die Decke zur Seite und schlurfte | |
nackt ins Bad. Und ich dachte nur: Dieser alte Mann mit dem schütteren | |
weißen Haar und der welken Haut geht einfach so, nachdem er erst vor Kurzem | |
seinen Enkel kennengelernt hat, nackt ins Bad, als sei es das Normalste auf | |
der Welt. Damit war unser Verhältnis definiert. | |
Ich fragte ihn einfach alles, was ich wissen wollte: Was hast du gemacht in | |
Polen nach dem Krieg? Wie hast du Dena (meine Oma) kennengelernt und wie | |
war eure Beziehung? Wie war es für dich, 1959 in die USA zu kommen? Wie war | |
das Familienleben? Mit wie vielen Frauen hast du geschlafen? Tom antwortete | |
mir auf alle Fragen, als würden wir uns schon ewig kennen. | |
## Meine alt-neue Familie | |
Er lud mich ein, in die USA zu kommen und meine Familie kennenzulernen. Im | |
Februar 2010 nahm ich den Flieger nach Los Angeles. Bereits im Vorfeld | |
dämpfte ich meine Erwartungen. Du kennst diese Leute nicht, bist ohne sie | |
aufgewachsen, was soll schon groß dabei herauskommen, nimm das Reisegeld | |
von deinem Opa und hab einfach eine gute Zeit. So etwas wie Schicksal oder | |
Offenbarung ist doch was für Spinner! Ich täuschte mich. | |
Wie die Schärfe einer Chilischote entfaltete sich die Geschichte meiner | |
alt-neuen Familie. Zuerst war ich ganz auf Tom fixiert. Auf die Schoah und | |
sein Leben im Schtetl; auf sein Leben mit falscher Identität in Polen nach | |
dem Krieg und sein zweijähriges Intermezzo in Israel, wo er meine Oma Dena, | |
eine kanadisch-ukrainische Jüdin, kennenlernte, sie schwängerte, heiratete | |
und mit ihr nach Kalifornien ging. Dann vergrößerte sich mein Fokus | |
allmählich auf den Rest der Familie. Ich war so überwältigt und auch | |
eingenommen, dass mein Vater vorerst in den Hintergrund rückte. Ich war | |
hier, und ich würde ihn sehen, dieses Wissen reichte mir erst mal. | |
Die erste Woche verbrachte ich bei Tom und meiner Tante Rena, einer | |
Psychologin, ihrem Mann und den drei Kindern in Santa Barbara. Es war ein | |
vorsichtiges, aber herzliches Kennenlernen. Ich genoss es, Zeit mit Tom zu | |
verbringen. Seine Art hatte etwas Komisches, manchmal auch | |
Tragisch-Komisches an sich. Da war zum Beispiel sein Akzent. Er sprach ein | |
holprig-hartes Englisch mit polnischem und ein Deutsch mit jiddischem | |
Akzent. | |
Weil ihm in Sobibór fast alle Zähne ausgeschlagen wurden, hatte er ein | |
Gebiss, das er in Israel Ende der 50er erneuern ließ. Da sein Kopf aber | |
nach 50 Jahren geschrumpft war, rutschte es beim Sprechen öfters aus dem | |
Mund und schien wie ein Alien nach einem schnappen zu wollen. Und weil er | |
auch ein großer Sturkopf war, weigerte er sich, es auszuwechseln. Aus | |
seinem Handy kam ein höllisch lauter Heavy-Metal-Krach. Tom hörte schlecht | |
und vertauschte oft die Stöpsel seines Hörgeräts, was ihn nicht sonderlich | |
zu stören schien, er hörte sowieso nur, was er hören wollte. Beim | |
gemeinsamen Abendessen antwortete er dann manchmal auf Fragen, die ihm | |
niemand gestellt hatte. Das brachte uns zum Lachen. | |
Meine Reise setzte sich über Los Angeles, Las Vegas und San Francisco nach | |
Seattle fort. Wie ein golden glänzender Pokal wurde ich reihum gereicht und | |
bestaunt. Ich lernte die Schwester meiner Oma kennen und ihre Kinder, | |
Cousinen und Cousins, Bekannte der Familie. Meine frappierende Ähnlichkeit | |
mit Lenny und meine direkte Art wirkten wie ein Schlüssel, durch den sie | |
sich bereitwillig öffnen ließen. Mit allen sprach ich über meinen Vater. | |
Ihr Bild von ihm ähnelte sich mehr oder minder. | |
So beschrieben sie ihn: Lenny sei unberechenbar und impulsiv, | |
energiegeladen, verantwortungslos, selbstbewusst, konfliktfreudig, | |
angsteinflößend, charismatisch, sehr intelligent, wissensdurstig, kreativ, | |
manipulativ, antisozial, humorvoll, ein Provokateur. Eine meiner | |
Großcousinen, fand ich, brachte es am prägnantesten auf den Punkt: Lenny | |
sei ein Rebell ohne Motiv. | |
## Bollwerk, Biograf, Beobachter | |
Die Storys, die sie über ihn erzählten, kamen mir bekannt vor. Das war doch | |
ich! Sie erzählten von mir. Lenny, sagten sie, habe einen mentalen Schaden. | |
Kann das wirklich sein, fragte ich mich. Das würde ja bedeuten, dass ich | |
auch einen habe. Unmöglich. Nun, vielleicht ein bisschen. | |
Fast alle in meiner Familie leben in Kalifornien und nur mein Vater und | |
meine Oma Dena oben in Washington State. Mein Opa hatte meinem Vater | |
Bescheid gesagt, dass ich da war. Und ich hatte mit ihm am Telefon | |
ausgemacht, dass wir uns in Seattle treffen. Am nächsten Tag stieg ich also | |
in den Zug. Es war an der Zeit, endlich Lenny zu begegnen. | |
Leise klackernd gleitet der Amtrak-Zug durch die Nacht. Ich schaue auf die | |
Uhr: noch zehn Minuten. Seit zwölf Stunden bin ich bereits unterwegs, habe | |
kaum geschlafen und fast nichts gegessen. In zehn Minuten werde ich meinen | |
Vater sehen, zum ersten Mal in meinem Leben, das erste Mal in 26 Jahren – | |
und es wird mich nicht berühren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, | |
ein Bollwerk will ich sein, ein Biograf, ein Beobachter. Was jetzt kommen | |
wird, sage ich mir, wird dein Leben nicht verändern. Mein Kopf ist voller | |
Geschichten über ihn, die ich von meinen gerade erst kennengelernten | |
Verwandten in den vergangenen drei Wochen aufgesogen habe. Aber was hat das | |
mit mir zu tun? | |
Dann quietschen die Bremsen, wir erreichen den Hauptbahnhof von Seattle. | |
Ich raffe meine Sachen zusammen und steige aus dem Zug. Da hinten steht er, | |
ich erkenne ihn sofort. Er sieht aus wie ich. Er hat noch immer lange rote | |
Haare und einen Vollbart, über seiner leicht verschmutzten Hose trägt er | |
ein Batik-Shirt. Ohne zu zögern, umarmt er mich und bugsiert mich zu seinem | |
Auto, einem schrottreifen Daihatsu-Minivan. Er fragt mich nicht, ob ich | |
müde oder hungrig sei, sondern fährt direkt nach Tacoma, um mir seine | |
Biodieselfabrik zu zeigen. | |
Ich bin genervt darüber, aber zu erschöpft, um ihm das zu sagen. Ohne Punkt | |
und Komma quatscht er auf mich ein, seine Hyperaktivität strahlt aus jeder | |
Geste. Er kommt mir vor wie ein kleines Kind, das mir unbedingt sein | |
Lieblingsspielzeug zeigen muss, an meine Bedürfnisse scheint er gar nicht | |
erst zu denken. Ich atme einmal innerlich tief durch und entscheide, | |
einfach zuzuhören und mir möglichst alle Details zu merken. | |
Die „Fabrik“ ist eine abgefuckte Garage auf einem dieser verlassenen | |
Trailerparks. Dort synthetisiert er illegal Biodiesel aus Ölen, die er aus | |
dem Müll von Restaurants abpumpt. Das verkauft er dann unter der Hand. Um | |
kurz nach zwei Uhr nachts fahren wir in seine WG, hungrig, müde und | |
erledigt lege ich mich auf dem Boden schlafen. Ich bin viel zu erschöpft, | |
um mir darüber Gedanken zu machen, dass das nun das erste Treffen, der | |
erste Tag mit meinem Vater war. | |
## Ich erkenne mich in meinem Vater | |
Auch die nächsten vier Tage komme ich kaum zur Ruhe. Mein Gehirn läuft auf | |
Hochtouren. Lenny erzählt mir Geschichten über seine Kindheit. Wie ihn | |
seine Mutter mit elf in ein Jugendgefängnis einsperren ließ; wie er von | |
einem Typ namens Harry, der in LA auf Kinder aufpasste, misshandelt wurde | |
und von dort nicht weniger als 75-mal zu entkommen versuchte; wie er mit | |
15 für ein halbes Jahr in ein Bootcamp in Oregon gesteckt wurde und | |
sinnlose Arbeit verrichten musste; wie er schließlich wegen | |
Dokumentenfälschung ins Gefängnis kam und von dort ausbrach. Ich bin empört | |
darüber, wie seine Mutter ihn behandelt hat. | |
Ich mag Lenny, er hat etwas Charismatisches und ist ein guter Erzähler. Er | |
hasst seine Mutter Dena bis aufs Blut, nennt sie eine „bitch“. Sie sei | |
kaltherzig, egoistisch, kontrollsüchtig und geizig. Sie sei schuld an | |
seinem Leid. Seit Jahren haben sie keinen Kontakt mehr. Heimlich notiere | |
ich mir alles in meinem Notizbuch. Es ist zu viel, mein Gehirn überreizt, | |
aber ich will nichts vergessen. | |
Lenny reißt sich das Shirt vom Leib und zeigt mir „seine“ Stadt: Schau | |
hier, schau da, schau dort. Wusstest du schon dies und das und jenes? Er | |
will mich beeindrucken, mir zeigen, wie klug er ist und was er alles weiß. | |
Ständig quatscht er irgendwelche Leute auf der Straße an und verwickelt sie | |
in ein Gespräch, bei dem er stets betonen muss, wie „very smart“ er doch | |
sei. | |
Auf einer Busfahrt bietet er einem Studenten unverhohlen an, seine | |
Autoversicherung zu fälschen – der Junge akzeptiert. Mir gibt er eine | |
gefälschte Busfahrkarte. Seine Gestik und Mimik sind den meinen erstaunlich | |
ähnlich und auch in seinem Geltungsdrang erkenne ich mich wieder. Ich sehe | |
messerscharf, wie eingenommen er von seinem vermeintlich überlegenen | |
Intellekt und seinem übersprühenden Individualismus ist – genau wie ich. | |
Nur dass diese Haltung noch viel stärker als bei mir aus allen seinen Poren | |
dringt. | |
Es ist offensichtlich, dass er keinen Zweifel an sich hat, während ich | |
immer stärker an mir zweifle. Meine Charaktereigenschaften, auf die ich so | |
stolz gewesen war, erlebe ich nun durch meinen Vater erstmals als | |
Außenstehender. Ich merke, wie seine Art, die auch meine ist, auf andere | |
wirkt. | |
## „I’m a Übermensch“, sagt mein Vater | |
Lenny springt von einem Thema zum anderen, prahlt mit seiner Physis, mit | |
seinen drei ach so tollen Freundinnen, die er gerade hat. Voller | |
Leidenschaft präsentiert er mir seine kruden, oft widersprüchlichen | |
Theorien: Frauen seien zu emotional und sollten darum nicht wählen dürfen | |
und regieren schon gar nicht. Biodiesel produziere er, um dem Nahen Osten | |
den Geldhahn zuzudrehen, die Gesellschaften dort seien nämlich | |
judenfeindlich und behandelten Frauen (!) schlecht. | |
Im Gefängnis habe er festgestellt, dass Männer mit kleinen Penissen oft | |
schlauer seien als andere, das gälte allen voran für Juden und Asiaten. | |
Juden stehen für ihn sowieso an der Spitze der Pyramide, aus seinen | |
sozialdarwinistischen Ansichten macht er keinen Hehl. „I’m a Übermensch“, | |
sagt er einmal grinsend zu mir, aber ich solle das bloß nicht Tom erzählen. | |
Am letzten Tag radeln wir durch Seattle, ihm ist schnuppe, ob ich | |
hinterherkomme. Er ruft mir zu, was für eine alte Oma ich doch sei, weil | |
ich nicht mit ihm mithalten kann. Ich spüre Wut in mir aufkochen, die | |
gleiche Wut, die auch seine Energiequelle ist. Um Mitternacht steigen wir | |
auf eine Fähre, die uns nach Bremerton Island bringt, verpassen die letzte | |
Fähre zurück und radeln wie die Irren ohne Licht auf der Autobahn zur | |
anderen Seite der Insel. Lkws rauschen an uns vorbei. Wir verpassen auch | |
dort die Fähre und müssen den ganzen Weg wieder zurückfahren. Es beginnt zu | |
tagen. | |
Morgens um fünf fragt er mich dann allen Ernstes, was ich denn eigentlich | |
so mache. Ich gebe keine Antwort, denke nur, was für ein Idiot! In diesem | |
Moment wird mir klar, dass es ihm an Empathie mangelt und er vielleicht gar | |
nicht in der Lage ist, zu verstehen, dass ich mir gewünscht hätte, diese | |
Frage schon viel früher zu hören. Lenny ist nicht dein Vater, sage ich mir, | |
nur dein Erzeuger. Schließlich bringt er mich zu einem Parkplatz, wo meine | |
Oma Dena auf uns wartet. Bei ihr verbringe ich meine letzte Woche. | |
## Eine andere Sicht | |
Dena lebt am Rande von Anacortes nahe der kanadischen Grenze in einem | |
großen schlichten Holzhaus, das auf einem Plateau mit Blick aufs Meer | |
errichtet ist. Sie ist offen, herzlich und direkt. Sie zog vor mehr als | |
zwanzig Jahren hierher, nachdem sich Tom von ihr getrennt hatte. Wir reden | |
ununterbrochen über die Familie, vor allem über Lenny. Lenny, Lenny, Lenny. | |
Lügen hat er mir aufgetischt, mich um den Finger gewickelt. Er ist | |
derjenige, der kontrollsüchtig, egoistisch und kaltherzig ist, er, von dem | |
die Familie nichts mehr wissen will. Niemand außer Tom hat noch Kontakt zu | |
ihm. | |
Die Storys, die er mir erzählt hat, sind wahr und auch nicht. Es stimmt, | |
dass er mit elf für kurze Zeit ins Jugendgefängnis kam. Auch wurde er von | |
diesem Harry misshandelt und in das Camp in Oregon gebracht. | |
All das sei tragisch gewesen, versichert meine Oma mir. Aber sobald sie | |
erfahren hätten, was mit Lenny bei Harry und im Camp passiert sei, hätten | |
sie ihn da sofort herausgeholt. Alles sei sehr viel undurchsichtiger | |
gewesen, als es Lenny darstellte. Es stimme auch nicht, dass er 75-mal vor | |
Harry geflohen sei, und aus dem Gefängnis hätte er einfach Freigang gehabt. | |
Ständig gerate er in Konflikt mit den Autoritäten. Schon als Kind hätte es | |
Anzeichen gegeben, das mit ihm etwas nicht stimme. So habe er sich als | |
Kleinkind gesträubt, sich in den Arm nehmen zu lassen und den Kopf vor und | |
zurück gewiegt. Und geschrien, geschrien habe er wie am Spieß. Ihre ganze | |
Aufmerksamkeit habe sie ihm widmen müssen, es sei der reinste Horror | |
gewesen. Ich glaube ihr, weil ich einmal selbst so war. | |
## „I am guilty“, sagt mein Großvater | |
Dann ruft eines Tages plötzlich Tom aus Santa Barbara an. Seine Stimme | |
klingt, als müsse er eine große Last loswerden. „I am guilty“, gesteht er | |
mir, er habe Lenny immer geschlagen und Dena schlecht behandelt, er sei an | |
allem schuld. Meine Oma sitzt daneben und nickt stumm. Ich weiß nicht, was | |
ich sagen soll, bin berührt davon, dass Tom glaubt, mir die Wahrheit sagen | |
zu müssen. | |
Ich beginne, das Ausmaß dieser Tragik zu verstehen: das Trauma meines Opas, | |
das sich durch Gewalt an seinem Sohn äußerte; meine Oma, die mit allem | |
überfordert war; und mein Vater, der sich von seinem Vater nie befreien | |
konnte. Ich fühle mich ihnen auf einmal sehr verbunden, Tom, Dena, meiner | |
Familie und auch meinem Vater, der mir ein Beispiel ist, wie ich nicht | |
werden will. | |
Lenny zu erleben war, wie in einen Spiegel zu sehen, der ein übertrieben | |
skurriles Zerrbild von mir wiedergibt. Es war auf eine unheimliche Weise | |
auch eine Reise in meine Vergangenheit, die ich nun in einem ganz anderen | |
Licht betrachtete. Ich sah mein altes, von Wut verzehrtes Ich aus einer neu | |
gewonnenen Distanz, die mich einerseits erschütterte und andererseits | |
befreite: Ich war nicht er, und ich musste auch nicht so sein. Mir mangelte | |
es nicht an Empathie und Einsicht, ich musste nur bereit sein, meine | |
Schwächen zu akzeptieren. | |
Zurück in Berlin fing ich meinen Master an, bewarb mich für ein | |
Auslandsjahr an der UC California und flog anderthalb Jahre später zurück | |
in die USA. Ich verbrachte viel Zeit bei Tom in Santa Barbara und drängte | |
ihn, von Polen, Israel und seinem Leben zu erzählen. Ich schlief meistens | |
auf der ausklappbaren Couch in seinem kleinen Wohn- und Arbeitszimmer, und | |
jede Nacht hörte ich ihn, wie er sich vor Albträumen wand und aufstöhnte. | |
Es waren immer die gleichen Träume, erzählte er mir, in denen ihn Nazis | |
jagen und er im Moment des Ergreifens erwachte. | |
In seinem Wohnzimmer hing ein Plakat eines Hollywoodfilms über Sobibór, an | |
dem er mitgewirkt hatte. Eine verschworene Gruppe von Gefangenen hatte | |
damals den Ausbruch aus dem Vernichtungslager geplant, mein Opa, gerade | |
einmal 15 Jahre jung, war Teil davon. Über die [3][erfolgreiche Revolte in | |
Sobibór] gibt es mittlerweile zahlreiche Bücher und Dokumentationen. Der | |
Anführer der Revolte hatte kurz vor dem Ausbruch die Gefangenen beschworen, | |
von Sobibór zu berichten, sollten sie den Krieg überleben. | |
## Die Mission: Von Sobibór berichten | |
Tom überlebte ihn, von der Schoah, von Sobibór zu berichten wurde zu seiner | |
Mission. Eine ganze Wand in seinem Arbeitszimmer war bestückt mit Büchern | |
über die Vernichtungslager, nichts anderes habe er gelesen, erzählte mir | |
meine Oma, in Gedanken sei er immer dort gewesen. | |
Der Holocaust, gestand mir Tom einmal, habe ihn zu einem schlechteren | |
Menschen gemacht. Die Albträume und Depressionen seien aber erst im Alter | |
gekommen. Ob seine zahlreichen Affären dabei helfen, die Vergangenheit | |
zurückzudrängen? „I was a womanizer“, sagte er nur lapidar zu mir und | |
zeigte mir stolz die Nacktbilder seiner vergangenen Eroberungen. | |
Ich glaube manchmal, dass die Auslöschung seiner Familie seine Fähigkeit zu | |
lieben zerstört hat. In Sobibór hat er auch das Weinen verlernt. Nur | |
einmal, erzählte mir meine Oma, habe sie ihn weinen sehen – im Kinofilm | |
„Fiddler on the Roof“, der ihn an sein Schtetl erinnert habe. Er hatte Dena | |
in den dreißig Jahren ihrer Ehe unzählige Male betrogen und belogen. Am | |
Ende verließ er sie für eine fast vierzig Jahre jüngere Polin, die er nach | |
Amerika geholt hatte. | |
Als Vater war er abwesend gewesen. Seine sanftmütige Tochter hatte er mit | |
Liebesbekundungen überschüttet, seinen renitenten Sohn dagegen schlug er | |
mit dem Gürtel so heftig, dass Dena sogar einige Male die Polizei rufen | |
musste, um ihn davon abzuhalten. Dena hatte er oft wie seine Dienerin | |
behandelt und das halbe Haus auseinandergenommen, wenn es wieder einmal | |
über ihn kam. | |
## Jeder hat seinen eigenen Dämon | |
Alle meine Verwandten erzählten mir, dass Tom Schwierigkeiten hatte, sich | |
ins Familienleben einzufügen. Als er in die USA kam, jobbte er hier und da | |
und versuchte, sich eine Existenz aufzubauen. Er holte einen Schäferhund | |
ins Haus und legte sich eine Pistole zu, oft, so meine Oma, verhielt er | |
sich herrisch und ungebärdig, vor allem ihr gegenüber. | |
Die Parallele zu seinen Erlebnissen im Vernichtungslager ist offensichtlich | |
– das einstige Opfer dreht den Spieß um, vielleicht um die Kontrolle | |
zurückzuerlangen, und wird zum Täter. Dank Denas gutem Geschäftssinn | |
brachten sie es mit den Jahren zu Wohlstand. Tom fuhr einen Sportwagen und | |
kleidete sich schick, gab sich als Macher. Er hatte ein großes Ego. | |
Vor allem in seinen letzten Jahren plagte Tom das schlechte Gewissen. An | |
seinem Todesbett in Santa Barbara bat er 2015 meinen Vater darum, sich mit | |
seiner Mutter zu versöhnen. Ich lernte ihn als eigensinnigen, | |
willensstarken und großzügigen Menschen kennen. Ich bewunderte ihn für | |
seinen Mut und seine Konsequenz. Von Sobibór zu berichten war seine | |
Lebensmission. Als Familienvater und Ehemann hat er versagt. Nach dem Tod | |
von Tom habe ich vor allem mit meiner Oma ein enges Verhältnis aufgebaut | |
und sie in mein Herz geschlossen. Sie ist 93 Jahre alt und vor zwei Jahren | |
von Anacortes zurück nach Santa Barbara gezogen. | |
Lenny traf ich in den folgenden Jahren häufiger. Es war immer anstrengend | |
und chaotisch mit ihm, und jedes Mal, wenn wir uns sahen, fuhr er eine | |
andere Schrottkarre und wohnte an einem anderen Ort. Zuletzt hauste er in | |
einem kaputten Wohnmobil an einer lauten, schmutzigen Straße am Rande von | |
Seattle. Wir unternahmen noch das ein oder andere Abenteuer zusammen und | |
ich traf einige seiner Freunde und bekam ein immer schärferes Bild von | |
seiner komplexen, rastlosen Persönlichkeit. | |
Dena zeigte mir auch psychiatrische Gutachten, die über ihn als | |
Jugendlicher verfasst wurden, darin wird er als hochintelligent und mental | |
gestört beschrieben. Ich glaube, dass er an einer schweren antisozialen | |
Persönlichkeitsstörung leidet. Er erfüllt jedes Kriterium: Neigung zur | |
Manipulation, Gefühlskälte, Impulsivität, Feindseligkeit, Neigung zu | |
riskantem Verhalten und vielem mehr. Auch ich hatte mich mit Anfang 20 mit | |
Persönlichkeitsstörungen auseinandergesetzt aus dem belastenden Gefühl | |
heraus, dass etwas mit mir nicht stimmt – mein Dämon. | |
## Die Wut, die uns verbindet | |
Aber anders als Lenny, der sehr viel Scheiße in seinem Leben erfahren hatte | |
und von seinem Vater geschlagen wurde, wuchs ich vielleicht nicht gerade | |
auf Rosen gebettet, aber doch größtenteils geborgen auf. Ich habe mit | |
meinem Dämon gerungen, und auch wenn ich weiß, dass er wohl für immer in | |
mir hausen wird, halte ich ihn in Schach. Lenny jedoch ist emotional auf | |
einem kindlichen Niveau hängen geblieben, was er durch seinen Intellekt | |
auszugleichen versucht. Unbewusst hat er entschieden, keine Verantwortung | |
für sein Leben zu übernehmen, seine Mutter, das ist sein ewiges Mantra, ist | |
an allem schuld. | |
Seine Antihaltung gegenüber Staat und Autoritäten, derentwegen er unzählige | |
Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, sehe ich als krankhafte | |
Nachahmung von Toms Überlebensgeschichte. Harry und das Camp in Oregon sind | |
sein Sobibór; so wie sich Tom eine falsche Identität in Polen nach dem | |
Krieg zurechtgelegt hatte, so hat sich mein Vater im Laufe seines Lebens | |
unzählige Fake-Identitäten zugelegt und die passenden Dokumente dafür | |
gefälscht; seinen echten Personalausweis hat er weggeschmissen. | |
Er sieht sich als Opfer, und gleichzeitig fühlt er sich allen überlegen, | |
auch seinem eigenen Vater, dem er einmal ins Gesicht sagte, dass er der | |
bessere Überlebende gewesen sei. Vater und Sohn standen in einem ungesunden | |
Konkurrenzverhältnis zueinander, sie hatten sogar einmal dieselbe Freundin, | |
erst Tom, dann Lenny. Ich bin mir sicher, dass die Unfähigkeit meines Opas, | |
seinem Sohn seine Liebe zu zeigen, Lennys Persönlichkeitsstörung enorm | |
verschlimmert hat. Und meine Oma war mit allem überfordert. Wieso mein | |
Vater gerade sie und nicht Tom als die Schuldige für alles ausgemacht hat, | |
bleibt mir ein Rätsel. | |
Lange Zeit war ich allein mit meinem Dämon. Als ich meinen Opa durch das | |
Spiegel-Interview und dadurch meinen Vater fand, ging mir ein Licht auf. | |
Toms Trauma hat sich in meinem Vater fortgepflanzt. Uns drei verbindet | |
diese tief sitzende Wut, die uns antreibt und verzehrt. Aber anders als | |
mein Vater habe ich sie erkannt und mich ihr gestellt. Das Entscheidende | |
ist nicht, dass sie da ist, sondern wie man mit ihr umgeht. Ob man sie | |
zügelt – oder unbedacht und ohne Rücksicht auslebt. | |
Ich, so habe ich entschieden, werde das nicht tun. | |
9 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Boris Messing | |
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