# taz.de -- Erinnerungen an den Holocaust: Was hat Ihr Opa im Krieg gemacht? | |
> In der Öffentlichkeit ist der Holocaust präsent. Aber wenn unser Autor | |
> mit Deutschen am Tisch sitzt, wird das Thema oft ausgeklammert. | |
Bild: Das Mahnmal wird hoffentlich auch in 75 Jahren noch stehen. Aber woran wi… | |
Wo war deine Familie während des Kriegs? Bei meinem letzten Besuch in | |
Deutschland, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, lag diese Frage in | |
der Luft. So viele Jahrzehnte sind vergangen, und doch ist diese Frage | |
immer noch präsent. Egal ob man im Zug sitzt oder im Café. Egal ob man sich | |
mit Kolleg*innen trifft oder mit Freund*innen. Diese Frage steht zwischen | |
uns, den Israelis und den Deutschen, und es ist nach wie vor schwierig, ja | |
fast bedrohlich, sie zu stellen. | |
Berlin hat es geschafft, die Erinnerung an den Holocaust auf würdige Art | |
und Weise zu bewahren. Statt ihn zu leugnen, ist er in der Öffentlichkeit | |
präsent, die schmerzhafte Vergangenheit ist ein integraler Bestandteil von | |
Berlins pulsierender Gegenwart. | |
Das Messing der von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine strahlt hell | |
zwischen dem Kopfsteinpflaster hervor. Ich bin oft stehen geblieben, um die | |
jüdischen Namen zu lesen, die darauf geschrieben stehen, und um zu | |
erfahren, von wann bis wann die Menschen in der Straße gelebt haben. | |
Lieberman, Cohen, Gross, Rosenbaum. Manchmal gibt es nur eine Gedenktafel, | |
aber kein Haus. Und in dem Neuköllner Apartment, in dem ich damals lebte – | |
wer lebte dort vor mir? | |
Selbst die Synagogen existieren noch, einige in ihrer ganzen Pracht, von | |
anderen nur Überreste. Eines Freitags besuchte ich einen Gottesdienst in | |
der wunderschönen Synagoge am Fraenkelufer. In Israel gehe ich fast nie in | |
ein Gotteshaus, aber hier in Berlin war eine Andacht etwas Besonderes. Ein | |
Gefühl von Heimat, eine familiäre Sprache, eine Verbindung zwischen | |
Gegenwart und Vergangenheit. „Komm, oh Braut! Komm, oh Braut!“, sang ich | |
laut auf Hebräisch mit und war glücklich, den Sabbat willkommen zu heißen. | |
Meine Stimme hallte in den Stimmen der unzähligen Gottesdienstbesucher | |
wider, die vor mir hier gebetet hatten. | |
Während meines Aufenthalts in Berlin nahm ich an einem journalistischen | |
Austauschprogramm teil und freundete mich mit ein paar Deutschen an. Es | |
wäre interessant gewesen, sie nach ihren Großeltern zu fragen, aber wir | |
wagten es nur bei einem, und selbst da erst, nachdem wir uns schon länger | |
kannten. Er erzählte, dass der Vater seiner Mutter während des Kriegs | |
Polizist war, aber dass er 1941 im Kampf um Smolensk starb und dass er | |
sonst nicht viel über ihn wisse. Sein Großvater väterlicherseits wurde nach | |
Frankreich geschickt, um die sogenannte Siegfried-Linie, den Westwall, | |
mitzubauen. | |
## Welche Erinnerungen werden in 75 Jahren noch übrig sein? | |
Bei meinem zweimonatigen Aufenthalt wurde ich oft nach meiner | |
Familiengeschichte gefragt. Ich erzählte von meinen Großeltern | |
väterlicherseits, Gershon und Hasha, die aus Polen flohen, als es 1939 von | |
den Deutschen besetzt wurde. Mit vier Kindern legten sie mit Pferd und | |
Wagen mehr als 6.000 Kilometer zurück, bis sie in den Osten von Kirgistan | |
gelangten, wo mein Vater geboren wurde. Nach dem Krieg gingen sie nach | |
Polen zurück, und 1956 wanderten sie nach Israel aus. | |
Ich erzählte auch von meinen Großeltern mütterlicherseits, Isaac und | |
Halina, die beide das Konzentrationslager überlebten. Mein Großvater | |
war in Auschwitz gewesen, meine Großmutter in Bergen-Belsen. 1950 | |
emigrierten sie nach Israel. Meine Familie weiß nur wenig über die | |
Erlebnisse meiner Großmutter während des Holocaust. Wir hatten zu viel | |
Angst gehabt, sie danach zu fragen. Wir wollten sie nicht verletzen, und | |
wir wollten nicht verletzt werden. Meine andere Großmutter, Halina, ist | |
noch am Leben. Sie ist 97 und lebt in Ra’anana. Es scheint, als hätte sie | |
beschlossen, glücklich zu sein, obwohl oder gerade weil sie so viel | |
durchgemacht hat. | |
Im Zeitalter von Fake News, in dem die Wahrheit oft angezweifelt wird, | |
frage ich mich, was von der Erinnerung an den Holocaust in weiteren 75 | |
Jahren noch übrig sein wird. Ich werde dann nicht mehr leben, um von meiner | |
Großmutter erzählen zu können. Davon, wie sie uns, ihren Enkelkindern, von | |
den britischen Soldaten erzählte, die sie aus dem Konzentrationslager | |
Bergen-Belsen befreiten, als sie bis auf die Knochen abgemagert war. Und | |
ich werde nicht mehr von meinem Großvater erzählen können, der seine erste | |
Frau und seine Tochter im Krieg verlor. | |
Die Stelen des Holocaustmahnmals in Berlin aber werden vermutlich auch dann | |
noch als offene Wunde im Herzen von Berlin stehen. Damit sie nicht | |
verstummen und sich die israelisch-deutschen Beziehungen weiter vertiefen, | |
müssen wir uns, auch wenn es schwierig und schmerzhaft ist, gegenseitig | |
fragen: „Wo war Ihre Familie während des Kriegs?“ | |
Übersetzung: Anna Fastabend | |
27 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Lior Soroka | |
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