# taz.de -- Alexej Weizen über NS-Lager Sobibór: "Der Tod war die bessere Opt… | |
> Alexej Weizen war am Aufstand im Vernichtungslager Sobibór beteiligt, den | |
> nur 47 Menschen überlebten. Nach der Revolte ließ SS-Reichsführer Himmler | |
> das Lager schließen. | |
taz: Herr Weizen, Sie kamen im Mai 1942 im Vernichtungslager Sobibór an. | |
Erinnern Sie sich an die Fahrt dorthin? | |
Alexej Weizen: Alle im Viehwaggon haben gewusst, dass wir ins | |
Vernichtungslager gebracht werden. Wir alle haben gewusst, dass sie uns | |
dorthin bringen, um uns zu töten, und dass, wenn wir dort ankommen, unser | |
Leben zu Ende ist. Ich begann schon auf der Fahrt ins Lager auf den Tod zu | |
warten. Im Lager Sobibór wartete ich dann ständig auf ihn. Jede Minute, | |
jede Sekunde war ich mir bewusst, dass sie mich umbringen können. Sie | |
konnten dich einfach so umbringen, weil sich dein Blick zufällig mit dem | |
eines Aufsehers traf oder weil sie einfach schlechte Laune hatten. Bis zum | |
Oktober 1943, mehr als ein ganzes Jahr lang, wurde mein Dasein bestimmt von | |
einem einzigen Gedanken: Ich wartete auf den Tod. Jeden Augenblick. | |
Wie sah so ein Tag im Lager aus? | |
Sie haben gemordet. Dann gaben sie denen zu essen, die noch arbeiten | |
konnten. Und dann machten sie sich wieder ans Töten. Von fünf Uhr morgens | |
bis in den späten Abend hinein musstest du arbeiten, und die ganze Zeit | |
hast du darauf gewartet, dass sie dich umbringen, weil du irgendetwas nicht | |
richtig gemacht hast oder weil irgendjemand einfach Lust hat, dich | |
umzubringen. Jeden Tag kamen neue Viehwaggons voll mit Menschen im Lager | |
an. Die Deutschen griffen sich fünf bis zehn Gesunde aus jedem Viehwaggon, | |
die anderen trieben sie sofort in den Vergasungswagen. Immer beobachtete | |
einer der Aufseher das Sterben durch ein Fensterchen in der Tür. Und dann | |
haben wir uns gewehrt. Ich war einer der Aufständischen. Denn für uns war | |
der Tod die bessere Option, besser als das Lagerdasein mit dieser ständigen | |
Angst. Es war wie beim Kartenspiel: Du setzt alles auf eine Karte und | |
gewinnst oder verlierst. Es stand fünfzig zu fünfzig: Entweder zerstören | |
sie uns - oder wir sie. | |
Hatten Sie einen Freund in Sobibór? | |
Jeden Tag wurde gefoltert, geschossen und gemordet. In solch einer Welt war | |
keine Freundschaft möglich. Erst Alexander Pecherski, der Anführer des | |
Aufstands, schuf im Lager eine Atmosphäre, in der so etwas Ähnliches wie | |
Kameradschaft unter den Gefangenen möglich war. Bald nach seiner Ankunft | |
gründeten wir ein Untergrund-Komitee. | |
Erinnern Sie sich an die erste Begegnung mit Alexander Pecherski? | |
Wenn Alexander Pecherski nicht gewesen wäre, hätten sie uns alle ermordet. | |
Er hat uns zum Aufstand geführt. Wir haben die Deutschen einzeln umgebracht | |
- insgesamt 14 Deutsche. Als ersten töteten wir Johann Niemann, den | |
Stellvertreter des Lagerkommandanten. | |
Hatten Sie Gewissensbisse, als Sie die Deutschen umbrachten? | |
Welche Gewissensbisse? Wenn wir sie nicht ermordet hätten, hätten sie uns | |
umgebracht. Und dann flohen wir. Viele Häftlinge starben, als sie den | |
Stacheldrahtzaun mithilfe ihrer Körper zerstörten. Mit einem lautem Hurra | |
warfen sie sich gegen den Stacheldraht - dann kamen andere und kletterten | |
über die ersten hinweg in die Freiheit, während ständig auf sie geschossen | |
wurde. | |
Im Jahre 1965 sagten Sie in einem Prozess gegen die Trawniki genannten | |
ukrainischen Hilfskräfte in Sobibór aus. Sie hatten den ehemaligen Trawnik | |
Saizew wiedererkannt, worauf er im südrussischen Krasnodar vor Gericht | |
gestellt wurde. Wie verhielt sich Saizew, als er denen gegenüberstand, die | |
er damals gefoltert hatte? | |
Saizew versuchte natürlich seine Haut zu retten. Aber er war eine Bestie. | |
Er hat unzählige Kinder und Alte erschossen. Und während des Prozesses | |
versuchte er sich dann auf jede erdenkliche Art und Weise zu rechtfertigen. | |
Gab es unter der SS und den Wachleuten niemanden, der sich wie ein Mensch | |
benahm? | |
Nein. Keinen einzigen. | |
Sie reden nicht gern über das Lagerdasein, sie reden lieber über den | |
Aufstand. | |
Ja, wenn ich an Sobibór denke, erinnere ich mich sofort an den Aufstand. | |
Ich denke an den Moment, als wir begriffen, dass wir dem Tod entrinnen | |
können. An die Dinge, die vor dem Aufstand geschahen, denke ich nicht. | |
Viele der Überlebenden von Sobibór besuchten die Gedenkstätte Sobibór, um | |
der Toten zu gedenken: Ich war lange genug an diesem Ort. Ich kann nicht | |
dorthin zurückkehren. | |
Als sich der Anführer des Aufstands, Alexander Pecherski, wieder auf | |
sowjetischem Territorium befand, wurde er in ein Strafbataillon gesteckt. | |
Erst als er verwundet wurde, erhielt er eine Bescheinigung: Nun habe er | |
"sich von der Schuld gegenüber der Heimat mit seinem Blut freigekauft". | |
Alexander Pecherski war Offizier, und die höheren Armeekader hatten nicht | |
das Recht, in Kriegsgefangenschaft zu geraten. So lautete das Gesetz. Uns, | |
den gewöhnlichen Soldaten, wurde eher verziehen. | |
Sie haben 25 Jahre in der Roten Armee gedient, aber sie wurden nie | |
befördert - denn sie waren ein ehemaliger Kriegsgefangener. | |
An eine Beförderung habe ich niemals gedacht. Ich konnte so etwas auch | |
nicht verlangen. | |
Warum? | |
Weil ein Soldat der Roten Armee nicht das Recht hatte, in | |
Kriegsgefangenschaft zu geraten. So lautete das Gesetz. | |
Ein ungerechtes Gesetz. | |
Aber so war damals das Gesetz! Nach dem Aufstand schlug ich mich zu den | |
Partisanen durch, dann schloss ich mich den kämpfenden Truppen an. Ich | |
eroberte Brest, dann fiel ich mit der Roten Armee in Polen ein. Wir | |
eroberten Danzig und überquerten später die Oder. Sehen Sie, ich kehrte in | |
unsere Armee zurück, ich kämpfte und ich überlebte. Ich sprang 998-mal mit | |
dem Fallschirm ab. Ich habe Glück gehabt. | |
Meinen Sie das ernst? | |
Ja, natürlich. Wissen Sie, das Leben ist ein wertvolles Gut, um das man | |
kämpfen muss. | |
Nach dem Krieg kehrten Sie nach Chodorow, die Stadt Ihrer Kindheit, zurück. | |
Keiner aus meiner Familie hatte dort - in dieser Kleinstadt südlich von | |
Lwiw (Lemberg) - überlebt. Alle wurde von den Deutschen erschossen. | |
Thomas Blatt, wie Sie Überlebender des Vernichtungslagers, traf sich 1984 | |
mit Karl Frenzel, dem Kommandanten des jüdischen Arbeitskommandos. Er war | |
einer der grausamsten Mörder von Sobibór. Wären Sie bereit, sich mit so | |
einem Menschen zu treffen? | |
Ich würde mich mit ihm nur treffen, um ihn zu töten. Ich würde mit ihm kein | |
Wort wechseln. | |
Karl Frenzel versicherte im Gespräch mit Thomas Blatt, dass er jede Nacht | |
Albträume habe: Sobibór suche ihn heim. | |
Diese Albträume soll er haben. Karl Frenzel war eine Bestie. Wenn ihm | |
irgendetwas nicht passte, zückte er die Waffe und schoss. Es fällt mir | |
besonders schwer, davon zu erzählen, weil einige dieser Verbrecher - sie | |
haben Tausende von Menschen mit der eigenen Hand umgebracht und sich daran | |
gelabt - heute noch leben. Für diese Verbrecher aber soll es keinen Platz | |
unter den Lebenden geben. Einige sind sogar aus dem Gefängnis entlassen | |
worden und starben unbehelligt in ihrer Heimat. Und andere hat man bis | |
heute nicht gefunden und bestraft. Aus diesem Grund fällt es mir so schwer, | |
an diese Zeit zu denken. Warum haben sie Karl Frenzel 1980 aus dem | |
Gefängnis entlassen? Er sollte dort einfach verrecken. | |
Gustav Wagner, Stellvertreter des Lagerkommandanten, flüchtete nach | |
Brasilien. Er wurde erst 1978 festgenommen. | |
Ich möchte nicht darüber reden. Gustav Wagner hat Babys vor den Augen ihrer | |
Mütter in Stücke gerissen. Er ist es nicht wert, dass man ihn auch nur mit | |
einem Wort erwähnt. Ich kann das alles nicht vergessen und will mich doch | |
eigentlich überhaupt nicht daran erinnern. Ich erzähle das alles … Und | |
zittere dabei, denn das alles habe ich erlebt. | |
Kurt Bolender, in leitender Stellung im Vernichtungsbereich des Lagers, | |
konnte sich bis 1961 verstecken. | |
Kurt Bolender hetzte Hunde auf die Häftlinge und befahl ihnen, fleischgroße | |
Stücke aus deren Körpern zu reißen. Bolender nannte seinen Hund "Mensch" | |
und die Gefangenen "Hunde". Wenn er die Hunde auf diese hetzte, schrie er: | |
"Mensch, fass Hund!" Was ich erlebt habe, weiß nur Gott. Alles, was war, | |
dreht sich in meinem Kopf - ständig. Ich sehe alles vor mir - als ob es | |
gestern wäre. Um davon erzählen zu können, muss man Abstand gewinnen. Und | |
genau das gelingt mir nicht. | |
INTERVIEW: ARTUR SOLOMONOW | |
Aus dem Russischen von Katja Kollmann | |
13 Oct 2008 | |
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