# taz.de -- Stummfilm über Judenverfolgung: Aus der Dystopie lernen | |
> Der Film „Stadt ohne Juden“ war lange nur in Teilen vorhanden. Nun wird | |
> der „Most Wanted of Austrias Silent“ gerettet. | |
Bild: Eine Szene aus „Stadt ohne Juden“ zeigt eine Kolonne flüchtender Jü… | |
Berlin taz | Dass ein Stummfilm aus dem Jahr 1924 derart viel | |
Aufmerksamkeit bekommt, zeugt von der Bedeutung und Aktualität seines | |
Themas. In einer Crowdfunding-Kampagne sammelte das Filmarchiv Austria | |
86.000 Euro. Mit dem Geld wird der stark beschädigte Mikrofilm „Stadt ohne | |
Juden“, eine grausige Vorahnung auf den Nationalsozialismus und die | |
Judenverfolgung, nun gerettet. | |
Der Film wird auch „Most Wanted of Austrias Silent“ genannt, denn die | |
Geschichte der Filmrolle gleicht einer Odyssee durch die jüngste Historie | |
Europas. Nach seiner Premiere in den zwanziger Jahren wurde der Film im | |
Zuge der wachsenden antisemitischen Stimmung bald boykottiert. 1933 tauchte | |
eine Kopie in Amsterdam auf und wurde in einer Filmvorführung genutzt, um | |
gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland zu | |
protestieren. Danach galt der Film fast 60 Jahre lang als verschollen. | |
Anfang der neunziger Jahre entdeckte ihn das Filmarchiv Austria in | |
Amsterdam wieder. Eine Sensation – und das obwohl das Material fragmentiert | |
und unvollständig war. Das Archiv restaurierte bereits diese Filmrolle in | |
einem teuren und aufwändigen Prozess. Die anschließende Suche nach den | |
fehlenden Stücken verlief ergebnislos. Bis letztes Jahr: Ein französischer | |
Sammler fand den verschwundenen Teil der Filmrolle auf einem Pariser | |
Flohmarkt – auch dieser beschädigt und kurz vor dem Zerfall. | |
Ein Zufallsfund, mit dem nicht nur ein wichtiges Stück Zeitgeschichte | |
wieder aufgetaucht ist, sondern der im derzeitigen zivilgesellschaftlichen | |
Diskurs um Geflüchtete zu einem moralisch-historischen Appell gegen | |
Rassismus werden könnte. | |
Die Krise braucht einen Sündenbock | |
Wien 1924: Gewaltszenen in den Straßen, flüchtende Menschen und eine | |
Regierung, die gegen Jüdinnen und Juden hetzt. Der Film „Stadt ohne Juden“ | |
basiert auf dem gleichnamigen Buch des Schriftstellers Hugo Bettauer und | |
ist eine Dystopie der staatlich organisierten Vertreibung der Juden. Eine | |
gruselige Apokalypse, die der Regisseur Hans Karl Breslauer 1924 aufgriff | |
und zusammen mit der Drehbuchautorin Ida Jenbach verfilmte. | |
Im Kontext der sich abzeichnenden Krise der frühen zwanziger Jahre erzählt | |
der Film von einer rasenden Geldentwertung, mit der sich Arbeitslosigkeit | |
und Armut in Österreich ausbreiten. Die Sündenböcke für die Situation sind | |
schnell gefunden: die Jüdinnen und Juden. Und so verweist eine fiktive | |
österreichische Regierung die komplette jüdische Bevölkerung des Landes. | |
Der Film illustriert, was knapp zehn Jahre später tatsächlich eintritt: die | |
Machtübernahme der NSDAP in Deutschland und schließlich nicht nur die | |
Vertreibung, sondern die systematische Vernichtung der Juden durch die | |
Nazis. Es ist eine verblüffende Vorhersage und der erste Film im | |
deutschsprachigen Raum, der Antisemitismus und Rassismus zum Thema macht. | |
Der Filmhistoriker Frank Stern hebt hervor, dass die Geschichte „Stadt ohne | |
Juden“ nicht nur eine dunkle Vision der nationalsozialistischen Herrschaft | |
ist, sondern auch die zeithistorische Stimmung in Österreich Anfang der | |
zwanziger Jahre darstellt. Denn bereits nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der | |
Antisemitismus an. | |
Schon 1918 manifestierte er sich in sogenannten Arier-Paragrafen. Jüdinnen | |
und Juden wurde die Mitgliederschaft im österreichischen Alpenverein | |
verweigert. In bestimmten Urlaubsorten wurde ihnen der Zutritt zu Hotels | |
versagt. Jüdische Studierende wurden aus den Hörsälen der Universitäten | |
vertrieben und der Senat der Universität Wien verlangte, dass jüdische | |
Studierende nur dann zum Studium zugelassen werden, wenn sie nachweisen | |
konnten, dass ihre vier Großelternteile getauft waren. | |
Stern verweist zudem auf eine Großkundgebung des Antisemitischen Bundes im | |
Oktober 1919, bei der die Demonstrierenden auf dem Rathausplatz in Wien | |
„Hinaus!“ skandierten. Gemeint waren Jüdinnen und Juden, die in Österreich | |
nach Schutz gesucht hatten. „Stadt ohne Juden“ greift diese häufig | |
unbekannten frühen antisemitischen Haltungen und Ereignisse auf und treibt | |
sie mit der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt auf die | |
Spitze. | |
Eine Dystopie mit Parallelen zu heute | |
Für Nikolaus Wostry, Geschäftsführer des Filmarchivs Austria, betrifft der | |
Film Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen: „Wir leben heute in einem | |
Europa, das so reich ist wie nie zuvor und trotzdem können wir noch immer | |
nicht rational über die Geflüchteten-Situation sprechen.“ Er sieht in dem | |
Film ein bedeutendes Mahnmal gegen Rechtspopulismus. In der filmischen | |
Darstellung sind es geflüchtete Jüdinnen und Juden, die für wirtschaftliche | |
und soziale Spannungen verantwortlich gemacht werden. Diese Form der | |
Fremdenfeindlichkeit sei auch heute erkennbar. Geflüchtete würden | |
systematisch ausgegrenzt und stigmatisiert. „Wir haben heute in Europa eine | |
vergleichbare Situation und der Populismus befeuert die Rechten“, sagt | |
Wostry. | |
Für das Filmarchiv Austria sind die wiedergefundenen Teile des Stummfilms | |
besonders deshalb von großer Aussagekraft, da sie die Gewaltbereitschaft | |
gegenüber der jüdischen Bevölkerung zeigen und damit eine pogromartige | |
Stimmung illustrieren, die Jahre später zurn Realität werden sollte. Die | |
Komplettfassung des Films werde damit noch deutlicher zu einem | |
Anti-Nazi-Statement. Auch die Darstellung des jüdischen Alltagslebens sei | |
pointierter, da sie die unterschiedlichen Lebenswelten der flüchtenden und | |
akzeptierten Jüdinnen und Juden direkt gegeneinander schneide. Diese | |
ausführliche Beleuchtung des jüdischen Lebens in Wien sei einmalig für | |
filmische Dokumente der Zwischenkriegszeit. Wostry findet deshalb, dass dem | |
Film mit der Restaurierung seine ursprüngliche Aussagekraft zurückgegeben | |
werde. | |
Seit dem Beginn der Crowdfunding-Kampagne haben sich weltweit Museen, | |
Medienanstalten und Vereine gemeldet, um den Film in ihr Programm | |
aufzunehmen. Insbesondere aus den USA sei das Interesse seit der | |
Präsidentschaftswahl besonders hoch, erzählt Wostry. Bis zur Premiere | |
müssen sich die Interessenten allerdings noch bis Ende 2017 gedulden. Bis | |
dahin will das Filmarchiv Austria die Restaurierung des Films | |
fertiggestellt haben. | |
18 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Fabian Franke | |
Katharina Lipowsky | |
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