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# taz.de -- Visionärer Stummfilm: Eine Ahnung der Deportationen
> Der Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von 1924 zeigt visionäre Bilder von
> Verfolgung und Vertreibung. Jetzt ist er restauriert auf DVD erschienen.
Bild: Die Deportationen sind hier noch keine Realität, sondern eine Szene aus …
Am 10. März 1925 wird der Schriftsteller und Journalist Hugo Bettauer in
seiner Redaktion in der Langen Gasse in Wien niedergeschossen und stirbt
zwei Wochen später im Krankenhaus. Der Täter, ein junger Angestellter aus
dem Umfeld der österreichischen NSDAP, gibt als Motiv für seine Tat den
Kampf gegen den Sittenverfall der Jugend durch Bettauers Romane und seine
sexualemanzipatorische Wochenschrift für „Lebenskultur und Erotik“ an. Doch
die Hetzkampagne, die die völkische Presse Österreichs schon Monate vor dem
Mord gegen den populären Autor geführt hatte, trug auch antisemitische
Züge. Dabei war Bettauer schon mit achtzehn Jahren vom Judentum zum
Protestantismus konvertiert.
Bekannt geworden aber war der Autor erfolgreicher Kriminalromane (auch die
Vorlage zu G. W. Pabsts „Die freudlose Gasse“ stammt aus seiner Feder) 1922
mit einer Dystopie, die den nach der ostjüdischen Zuwanderung im Ersten
Weltkrieg auch in Österreich besonders anschwellenden Antisemitismus direkt
angriff.
Der Roman „Stadt ohne Juden“, den der Spiegel in einer Kritik zur
Neuveröffentlichung 1982 als „erschreckend prophetische und zugleich
gespenstisch harmlose utopische Satire“ beschrieb, entwarf fast zwei
Dekaden vor den ersten realen Deportationen von Juden ein Szenario der
systematischen Vertreibung aller „Nichtarischen“ aus dem öffentlichen Leben
Österreichs im Allgemeinen und der Stadt Wien im Besonderen, lässt die
Geschehnisse aber im Gegenteil zur historischen Realität in einem
versöhnlichen Ende münden.
1924 wurde die recht simpel gestrickte Geschichte von dem Wiener Regisseur
Hans Karl Breslauer verfilmt. Als „Die Stadt ohne Juden“ dann – ein paar
Monate vor Bettauers Ermordung – in den Kinos der Stadt Wien anlief, gab es
Störungen durch nationalistische Aktivisten.
Dabei hatten Breslauer und Co-Drehbuchautorin Ida Jenbach, die vorher schon
bei dem Liebesdrama „Oh, du lieber Augustin“ zusammengearbeitet hatten,
einige konkrete politische Anspielungen der Buchvorlage neutralisiert. Doch
Zeitgenossen dürften erkannt haben, dass die Figur des Bundeskanzlers Dr.
Schwerdtfeger an den realen Kanzler und Nazi-Unterstützer Ignaz Seipel
angelehnt war, der Bürgermeister mit dem schönen Namen Karl Maria Laberl
erinnerte an Karl Lueger, den antisemitischen Gründer der
Christlichsozialen Partei, nach dem heute noch ein wichtiger Platz in Wien
benannt ist.
Fragmente auf dem Flohmarkt gefunden
Nach dem Krieg galt der Film lange als verschollen. Dann tauchte ein Teil
im Amsterdamer Filmmuseum wieder auf, 2015 wurden auf einem Flohmarkt in
Paris weitere stark beschädigte Fragmente gefunden, [1][aus denen das
Filmarchiv Austria mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne eine restaurierte
Fassung (der immer noch zehn Minuten fehlen) herstellen konnte], die nach
der Filmpremiere im Wiener Metro 2018 jetzt bei absolut Medien als DVD
erschienen ist.
Eine gute Gelegenheit, sich für ein paar Stunden aus den aktuell
anschwellenden Nationalismen in eine erschreckend ähnlich aussehende Phase
der jüngeren Geschichte zurückzubeamen. Oder wenigstens in die
künstlerische Auseinandersetzung damit.
Der Film beginnt mit einer Parallelmontage jüdischer Ritualhandlungen in
einer alten Synagoge und sozialer Massendemonstrationen, deren nur kurz
eingeblendete Protestschilder Arbeit und Brot fordern. Wir sind in einer
inflationären Wirtschaftskrise.
In einer der nächsten Szenen hat eine Delegation der Demonstranten beim
Bundeskanzler schon die Juden als Schuldige ausgemacht. Der weicht nach ein
wenig Widerstand dem ökonomischen und öffentlichen Druck und setzt im
Parlament die baldige Ausweisung sämtlicher „Nichtarier“ und deren Kinder
durch, dazu einige antisemitische Stereotype bedienende Bestimmungen zur
Mitnahme von Vermögen.
Stereotype vom mondänen Juden
Erst scheint der Plan zu gelingen. Doch schon nach einem kurzen Aufschwung
zeigt die Vertreibung unerwartet negative Folgen, nicht nur, weil auch die
antisemitischen Teile des internationalen Finanzmarkts „Utopia“ (wie
Österreich im Film heißt) fallen lassen. Auch die Nachfrage der
zurückgebliebenen Bevölkerung reicht nicht aus, um die Ökonomie
anzukurbeln, wobei der Plot genüsslich die Stereotype vom mondänen Juden
und dem bieder eingesessenen Urösterreicher bedient: So wird im Kaufhaus
aus feiner Seide grober Loden, aus eleganten Konditoreien ein
Bier-Ballermann.
Bald explodiert die Krise. Und dann hängen Flugzettel eines „Bundes
wahrhaftiger Christen“ an den Mauern, die zur Rückholung der Juden
aufrufen. Doch dahinter steckt ein aus Liebe heimlich aus dem Pariser Exil
zurückgekehrter junger Jude, der es mit einigen Intrigen schafft, die
politische Mehrheit für diese Rückkehr durchzusetzen.
Während Bettauers Vorlage in satirischem Ton antisemitische Klischees
zitiert, sind die Einstellungen des Films direkt, die Zwischentitel kurz
und schnörkellos. Breslauer liebt tableauartige Gruppenszenen, die deutlich
antisemitische Übergriffe zeigen, die kulturelle „Verdorfung“, wie Bettauer
es nannte, aber nur grobmaschig einfangen können. Dafür werden im
narrativen Zentrum des Film unter dem Titel „Vertreibung“ sehr ausführlich
und emotional Abschiedsszenen und Abreisen der Ausgewiesenen in Szene
gesetzt, bei denen die Ärmsten sich zu Fuß davonschleppen, die Mehrzahl
aber mit Koffer und Eisenbahn davonfahren.
Besonders diese Bahnhofsszenen spiegeln unheimlich die dokumentarischen
Bilder, die wir von späteren Deportationen kennen. „Der letzte Zug“ heißt
ein Zwischentitel, danach eine Abblende auf ein in die Ferne laufendes Paar
Gleise. Es folgt eine Totale auf die Stadt, wo der Rauch des
Feier-Feuerwerks über den Häusern hängt. Dazu ein paar Takte Marschmusik,
die aber sehr bald in atonalen Klangflächen verschwinden. Kennzeichnend für
die als Auftragsarbeit von Olga Neuwirth komponierte neue Musik für den
Film, die ausreichend brüchig zwischen konkreten Assoziationsfetzen,
diskreter emotionaler Unterstützung und Abstraktion moduliert.
Wie die Geschichte weiterging
Die visionäre Kraft der Bilder von Verfolgung und Vertreibung wirken stark.
Als Satire aber kann es der Film mit dem viel anspielungs- und
detailreicheren Roman nicht aufnehmen: Auch weil es ohne die Mittel
sprachlicher Distanzierung schwierig ist, mit der Darstellung
antisemitischer Stereotype nicht auch solche zu bedienen. Und dass die
parlamentarische Entscheidung über die Rückkehr der Juden nach Österreich –
im Roman wie im Film – mit List von einem oft finster dreinblickenden und
auf ein blondes Wiener Mädel versessenen jüdischen Exilierten unter der
Tarnung als „wahrhaftiger Christ“ eingefädelt wird, kann durchaus
antisemitische Verschwörungsmythen illustrieren.
Wie es im echten Leben weiterging? Bettauers Mörder wurde, weil er „der
Vernunft völlig beraubt“ gewesen sei, vom Mordvorwurf freigesprochen und in
eine Heilanstalt eingewiesen, wo er 1927 frei kam. Filmregisseur Hans Karl
Breslauer trat 1940 in die NSDAP ein. Co-Autorin Ida Jenbach wurde 1941 ins
Ghetto von Minsk deportiert, wo ihre Spur verloren ging.
Auch Johannes Riemann, der den wehrhaften Juden Leo Starkosch spielte, trat
später in die NSDAP ein und wurde deutscher Staatsschauspieler, während die
beiden Antisemiten-Darsteller Eugen Neufeld und Hans Moser mit dem NS-Staat
in Konflikt kamen. Neufeld wegen seiner politischen Einstellungen. Der
spätere Volksschauspieler Moser (hier in seiner zweiten Filmrolle)
widersetzte sich bekanntermaßen dem Ansinnen, sich von seiner jüdischen
Ehefrau zu trennen.
29 Jul 2020
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## AUTOREN
Silvia Hallensleben
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