| # taz.de -- Film über Afroamerikaner in den USA: Die Armut drückt | |
| > Polizeigewalt und systemischer Rassismus: Der Dokumentarfilm „What You | |
| > Gonna Do When the World’s on Fire?“ von Roberto Minervini. | |
| Bild: Szene aus „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“ | |
| Das Problem eines Dokumentarfilms ist dasselbe, das sich dem Kernphysiker | |
| stellt: Was, wenn sich die Teilchen verändern, sobald man draufguckt? Da | |
| kommt jemand und filmt. Was bleibt denen, die gefilmt werden, anderes übrig | |
| als das zu merken und sich dazu zu verhalten? Die Antwort, die die Bewegung | |
| des Direct Cinema darauf gab, war die, die Kamera als „Fliege an der Wand“ | |
| zum Verschwinden zu bringen. | |
| Noch immer gilt das als eines der höchsten Komplimente für eine | |
| Dokumentation: dass man die Kamera „nicht spürt“. Genauer gesagt: dass sich | |
| die Menschen vor der Kamera so verhalten, als würden sie die Kamera nicht | |
| (mehr) bemerken. Nicht selten verdankt sich dieser Effekt einer | |
| Darstellungskunst, die von gekonnter Schauspielerei kaum zu unterscheiden | |
| ist. | |
| [1][Der italienische Regisseur Roberto Minervini], der seit Jahren in den | |
| peripheren Landstrichen der USA dreht, hat ein besonderes Händchen für | |
| solche begabten Realitätsdarsteller. In „The Other Side“ filmte er das | |
| prekäre Leben einer „vergessenen“ Gemeinde in Louisiana. | |
| Wobei Gemeinde ein zu starkes Wort ist für die Art von „Hinterwald“, den | |
| die verliebten Drogensüchtigen, waffengeilen Veteranen, lebensmüden Alten | |
| und taffen ledigen Mütter seiner Dokumentation bewohnten. Und ihre | |
| Disparität, ihr „Vergessensein“ von staatlichen Institutionen, war doch | |
| auch zugleich ihre Freiheit, die Freiheit, so manchen Wahn in Fülle – und | |
| vor Minervinis Kamera – auszuleben. | |
| Die Protagonisten von „The Other Side“, muss man dazu sagen, waren fast | |
| ausschließlich weiß. In „What You Gonna Do When the World’s on Fire“ si… | |
| die Protagonisten ausschließlich schwarz. | |
| ## Eine Bar in New Orleans | |
| Die Gegenden, in denen Minervini diesmal filmt (Kamera: Diego Romero), sind | |
| urbaner. Dafür filmt er hier in Schwarz-Weiß, was den Aufnahmen mit ihren | |
| tollen Kontrasten einen ästhetischen Anstrich verleiht, der fast irritiert: | |
| Überhöht er die Bilder dadurch? Oder schafft er durch Verfremdung eine | |
| notwendige Distanz? | |
| Da gibt es den 14-jährigen Ronaldo und seinen neun Jahre alten Halbbruder | |
| Titus, die im Gleisgelände einer Stadt am Mississippi herumstreifen, als | |
| hätte das 20. Jahrhundert dort nie richtig Einzug gehalten. Dann wieder | |
| sieht man Vertreter der New Black Panther Party unter Leitung ihrer | |
| Vorsitzenden Krystal Mohammad bei Straßenprotesten. Die meiste | |
| Leinwandpräsenz aber entwickelt Judy Hill, eine Frau von fünfzig Jahren, | |
| die als Ex-Junkie eine Bar in New Orleans eröffnet hat, die sie im Lauf der | |
| Dreharbeiten wegen steigender Mieten und Gentrifizierung offenbar verliert. | |
| Wie die Weißen in „The Other Side“ sind auch die Schwarzen in „What You | |
| Gonna Do …“ Vergessene, nur dass sie daraus keine zusätzliche Freiheit | |
| gewinnen. Im Gegenteil. Die Armut drückt. Immer sind es nur einzelne | |
| Menschen, die helfen – so wie Judy versucht, in einem Gespräch mit | |
| süchtigen Prostituierten diese von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen. | |
| Oder die New Black Panthers, die Wasser an Obdachlose verteilen – man sieht | |
| sofort, dass solche Hilfe dem sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein | |
| entspricht. Die größte Wirkung entfaltet da noch Ronaldo, wenn er seinem | |
| Bruder die Unterscheidung zwischen „race“ und „colour“ beibringt: Du ka… | |
| so hellhäutig sein wie du willst, du bleibst ein Schwarzer. | |
| Überhaupt reden die Menschen interessante Dinge vor der Kamera, alle | |
| aktuellen Themen sind in diesem 2017 bis 2018 gedrehten Film bereits | |
| angesprochen, Polizeibrutalität, der Gegensatz von Restitution und | |
| Reparation, systemischer Rassismus. Und Minervini lässt sie reden. Manchmal | |
| geht das auf Kosten der Verständlichkeit – der Kontext des Gesagten | |
| erschließt sich nicht immer. Und manchmal geht die Selbstdarstellung mit | |
| den Protagonisten ein bisschen durch. Aber wer wollte Judy die | |
| Dramatisierung ihres dramatischen Lebens verübeln? | |
| 28 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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