# taz.de -- Kinofilm „Giraffe“: Rätselhafte Figuren und viele Fragen | |
> Eine Ethnologin dokumentiert Häuser, die verschwinden. Anna Sofie | |
> Hartmanns Spielfilmdebüt „Giraffe“ mischt Feminismus und Zukunftsskepsis. | |
Bild: Die Ethnologin Dara (Lisa Loven Kongsli) bei der Arbeit | |
Die titelgebende Giraffe taucht in Anna Sofie Hartmanns Filmdebüt gleich im | |
ersten Bild auf. Sie kaut und schaut in die Landschaft. Selbstverständlich | |
ist die Begegnung, zu der es dann im Kinosaal kommt, nicht die zwischen | |
einer Giraffe und den Menschen, sondern die zwischen Menschen und einer | |
Leinwand. Darauf erscheint dieses Bild einer Giraffe, hergestellt von einer | |
Kamera zur künstlerischen Unterhaltung. | |
Die Bildgiraffe wendet den langen Hals und richtet den Kopf auf die Linse | |
zu, blickt dem Publikum scheinbar direkt in die Augen. Und so macht das | |
Bild darauf aufmerksam, dass ihm eine Realität zugrunde liegt, eine | |
Kreatur. Das Wesen, das von Hartmann zusammen mit ihrer Kamerafrau Jenny | |
Lou Ziegel fotografiert wurde, beansprucht im Blickkontakt seine | |
Lebendigkeit, nachdem es von der Kamera konserviert wurde. | |
Wenige Minuten später gibt es im Film eine zweite Giraffe zu sehen, weniger | |
deutlich, fast winzig, als gusseiserne Plakette an der Wand eines | |
Wohnzimmers. Wie eine Erinnerung an die erste oder wie eine Verfremdung. | |
Das Tier ist zum Artefakt, zum Dekorationsgegenstand, es ist objektiviert | |
worden. Dara ([1][Lisa Loven Kongsli]), die zentrale Person des Films, | |
sitzt in diesem Wohnzimmer dem alten Ehepaar Birte und Leif gegenüber, die | |
bald ihren Hof räumen müssen. Die Giraffe, ein Hauch Exotik im dänischen | |
Alltag auf dem Land, rückt im Gespräch in den Hintergrund, denn es geht | |
direkt um die konkrete Situation und das Verhältnis der beiden Menschen zu | |
ihrem Haus. | |
Hier wurden ihre Kinder geboren und wuchsen auf. Der Hof ist seit | |
Generationen im Familienbesitz. Birte weint, als sie davon erzählt. Denn | |
der Fortschritt, der zweite, zentrale, aber unsichtbare Protagonist dieses | |
Films, droht in naher Zukunft alles plattzuwalzen. Eine Fabrik zum | |
Tunnelbau soll entstehen, das Ziel ist eine unterirdische Verbindung | |
zwischen Dänemark und Deutschland. Dafür müssen zahlreiche Grundstücke | |
weichen, die Menschen sollen für das Wirtschaftswachstum aus dem Weg | |
geräumt werden. | |
## Freigabe zum Abriss | |
Dara ist Ethnologin und dokumentiert für das Stiftsmuseum Lolland-Falster | |
Gebäude und Biografien, bevor sie verschwinden. Dara erteilt die Freigabe | |
zum Abriss, wenn ihre Arbeit abgeschlossen ist. Entsprechend steht sie der | |
Zerstörung durch den Fortschritt relativ cool gegenüber und befragt das | |
Ehepaar mit einer Mischung aus nüchterner Distanz und beruflichem | |
Interesse. Sie wird das Ehepaar zum Abschluss des Gesprächs fotografieren. | |
Der Film zeigt dann die Perspektive des Fotoapparats mitsamt seiner | |
Bildmarkierungen. Das Klacken des Apparats ist zu hören, als das Foto | |
entsteht. Das Ehepaar wird bald verschwunden sein. Ebenso das Haus und die | |
Wand mit der Giraffenplakette. Am Ende sind das Bild der beiden Menschen | |
und ein paar von Dara abfotografierte Objekte das Einzige, was von dem | |
Grundstück bleibt. Ihre Arbeit behauptet eine Wertschätzung, erlaubt jedoch | |
im Grunde dem Fortschritt, mit gutem Gewissen voranzuschreiten. | |
„Giraffe“ entwirft langsam und bedächtig ein Netz von Gedanken und Fragen. | |
Das macht den Film dicht, obwohl er nicht auf Tempo setzt und in seinen | |
Bildern konsequent bewegungsarm bleibt. Beinahe zu dicht, da sind zu viele | |
Gedanken und zu viele Fragen für knapp 90 Minuten: Was haben Bilder mit | |
Menschen und deren Erinnerungen zu tun? Wer stellt Bilder her und aus | |
welchen Gründen? Welches Menschenbild setzt sich im Kapitalismus durch? | |
Wann sind Menschen und Orte entbehrlich und wen schmerzt ihr verschwinden? | |
## Film der offenen Enden | |
„Giraffe“ ist ein suchender Film der offenen Enden und nicht einer der | |
geschlossenen Behauptungen. Insofern sind die knappen 90 Minuten hier | |
richtig gewählt. Nichts kommt zum Abschluss, selbst Dara bleibt eine | |
weitestgehend rätselhafte Figur. | |
Hartmann macht am Ende das Tor zu, wenn das Gehirn auf Hochtouren läuft, | |
und schickt die Menschen aktiviert und herausgefordert aus dem Kinosaal, | |
zurück in ihre Lebensräume mit der Aufgabe, sie sich genauer anzusehen: | |
„Die Orte sind es, die verbleiben, die man besitzen kann, die am Ende von | |
einem Besitz ergreifen“, zitiert Dara in einer Szene am Strand die | |
Schriftstellerin Rebecca Solnit und damit eine katastrophengeschulte | |
Expertin zum Kollaps von Gesellschaftssystemen. | |
„Giraffe“ spielt in einer nahen, spekulativen Zukunft, in der drastische | |
Veränderungen von Lebensweisen für die Menschen im Film unmittelbar | |
bevorstehen. | |
## Die Beziehung bleibt skizzenhaft | |
Nur eine kleine Geschichte hält die Fäden des Films zusammen: Dara lebt | |
eigentlich in Berlin, arbeitet aber für einige Monate auf Lolland. Sie | |
forscht, denkt über ihr nächstes Buch nach. Ihr Aufenthalt ist frei | |
gewählt. Sie trifft Lucek (Jakub Gierszał), der ebenfalls woanders lebt und | |
auf Lolland arbeitet. Seine Entscheidung ist jedoch unfrei. Er arbeitet, | |
weil er Geld verdienen muss. Lucek ist Bauarbeiter und verlegt | |
Glasfaserkabel, um die Tunnelbaustelle mit der Welt zu verbinden. | |
Dara stellt Lucek nach, beide beginnen eine Romanze, sie ist darin | |
erfahrener und souveräner, während der junge Mann sich preisgibt und | |
verliebt, verwundbar werden will für diese Frau, die er noch kaum kennt und | |
die ihn jederzeit wegstoßen könnte. Die Beziehung der beiden bleibt | |
skizzenhaft, und doch schreiben sich darin deutlich die Gewalten einer Welt | |
ein, die nicht auf die Befreiung des Menschen ausgerichtet ist: | |
ökonomische, biografische, geografische, politische. | |
Was gesagt wird und was die Figuren tun, ist von Gewicht, fühlt sich in | |
diesem ruhigen, konzentrierten Film symbolisch an. Da sind Kräfte im Spiel, | |
wie es ein Radiobeitrag früh im Film formuliert: „… die Kräfte, die die | |
Laufbahnen der Planeten bestimmen sowie die eines Satelliten, der sich | |
zwischen den Planeten bewegt.“ | |
## Zerstörerisch in ihrer Selbstbezogenheit | |
Hartmann verhandelt über die Geschichte der beiden Liebenden, wie Menschen | |
Macht übereinander erlangen und ausüben, im Großen wie im Kleinen. Und | |
Daras Handeln gewinnt an Härte und Abgeklärtheit, je mehr der Film über sie | |
offenbart. Bald verschwimmen feministische und dystopische Signale. Sie ist | |
zerstörerisch in ihrer Selbstbezogenheit und gleichermaßen charismatisch | |
souverän in ihren Schritten durch die Welt. | |
Einmal sieht sie sich in Berlin ein postdramatisches Stück über das | |
Scheitern von Paarbeziehungen an. Von einem Leiden ohne klaren Grund ist | |
die Rede, vom Auftauchen nach einem langen Warten. Macht sie diese Kunst zu | |
einem feinsinnigen Menschen, oder liefert die Bühnendramatik nur Baustoff | |
für eine Psychologie, die einer Festung gleicht? Jedenfalls funktioniert | |
Berlin als weltoffene, pluralistische Kontrastfolie hier lange nicht mehr. | |
In Daras Doppelleben hinterlassen sowohl ihr bürgerliches, liberales, | |
apathisches Berliner Leben als auch ihre Willkür im Umgang mit den Menschen | |
auf Lolland Fragezeichen. Dem Fortschritt, der in diesem Film die zweite | |
Hauptrolle spielt, begegnet Dara als nicht minder konzeptionelles, | |
ungreifbares Wesen: drastisch in ihrer Konsequenz, undefinierbar in der | |
Herleitung. | |
Als würde sie sich selbst nicht mehr spüren können, liest sie beizeiten in | |
Tagebüchern aus einem alten Gebäude, die vom Leben einer Bibliothekarin | |
erzählen. Dara meint einmal, sie suche im Leben nach einer Dramatik, die | |
trotz aller Mühen nicht zu finden sei. Und wird bald zu der Person, die in | |
Luceks Leben die dramatischsten Wendungen einleitet. „Sei mir nicht böse“, | |
meint sie nur, und geht unbeirrt nach vorne. Dem Fortschritt gehört ihre | |
Liebe, der Fortschritt hat ihr das Herz gestohlen. | |
6 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dennis Vetter | |
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