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# taz.de -- Kinostart „Höhere Gewalt“: Wenn eine Lawine losrollt
> Ruben Östlunds Film erzählt vordergründig von einer Ehekrise und
> hintergründig von der existenziellen Verunsicherung des Mannes.
Bild: Familienvater Tomas (Johannes Bah Kuhnke, l) mit Ehefrau Ebba (Lisa Loven…
Helden mögen auf der Leinwand neuerdings öfters weinen, ernsthaft in Frage
gestellt wird ihre Durchsetzungskraft damit jedoch nicht. Männer, die an
ihrer Maskulinität zweifeln; Männer, die gerne echte Kerle wären, aber nur
postheroische Systemerhalter sind: Im Kino sind die gezähmten Exemplare
immer noch in der Minderheit.
David Finchers Filme beweisen immerhin Sensibilität für ihre Probleme.
Schon in „Fight Club“ malte er sich Anzugträger aus, die sich endlich
wieder spüren wollten. „Gone Girl“ erzählte zuletzt von einem verlotterten
Ehemann, der in die Rolle eines gewalttätigen Mannsbilds gedrängt wird, mit
dem er gar nicht so viel gemeinsam hat.
Ruben Östlund, der ein wenig der David Fincher Schwedens ist, erzählt nun
von einem Mann, der bei Gefahr beide Beine in die Hände nimmt. „Höhere
Gewalt“ („Turist“) ist ein beklemmender, bis ins Detail durchdachter Film,
der danach fragt, unter welchen Bedingungen Heroismus überhaupt noch
möglich ist.
Eine schwedische Familie befindet sich auf Skiurlaub in einem Nobelressort
in den französischen Alpen. Das winterliche Setting ist spektakulär, wie
ein Vogelnest liegt das Hotel in den schneeweißen Höhen. Nichts wird dort
dem Zufall überlassen. Östlund malt das Bild eines „safe environment“ ,
einer abgesicherten Oase der Freizeitkultur, in der die Gefahren der
Bergwelt auf ein Minimum beschränkt werden.
Alles ist automatisiert, eine Serie von mechanischen Abläufen, von den
Pistenraupen und Schneemaschinen über die Skilifte und Förderbänder in den
Skistall bis zu den elektrischen Zahnbürsten, mit denen die Kleinfamilie
abends wie auf Kommando gemeinsam vor dem Spiegel steht.
In dieses Umfeld der Kontrolle dringt in einer fantastischen Szene einen
Moment lang eine reale Bedrohung ein. Die Familie sitzt im
Aussichtsrestaurant auf der Terrasse, als sich mit einem Knall eine Lawine
am Hang löst. Eine per Fernauslöser in Gang gebrachte, versichert Tomas
(Johannes Kuhnke), der Vater, doch je näher das Ungetüm rückt, desto größer
wird auch die Panik in den Gesichtern.
## Tomas läuft davon
Schließlich verschwinden alle im Schneestaub der Lawine. Dann wird
allerdings klar, dass nichts geschehen ist – und doch hat sich innerhalb
des Familiengefüges alles verschoben. Tomas ist (mit Smartphone in der
Hand) davongelaufen, während Ebba (Lisa Loven Kongsli) alles getan hat,
ihre beiden Kinder zu beschützen.
Die Nachwirkungen dieses Schocks veranschaulicht Östlund in einer Reihe von
Konfrontationen der Ehepartner. Die massive Vertrauenskrise, die sich
innerhalb der Familie ausbreitet, hängt mittelbar mit Rollenbildern und
Projektionen zusammen: mit der Idealvorstellung, wie man sich angesichts
einer Gefahr zu verhalten hat; mit der Unfähigkeit, zu einem Selbstbild zu
stehen, das der tradierten Rolle des männlichen Beschützers nicht mehr
entspricht.
## Offene Auseinandersetzung
Östlund ist akkurat darin, Verhaltensstudien zu zeichnen, in denen sich
Unstimmigkeiten zwischen Menschen zuerst nur in Nuancen zeigen, ehe sie
größere Folgen nach sich ziehen. Zwei Szenen zeigen dies beispielhaft: Die
erste spielt im Hotelrestaurant, wo sich sich Ebba und Tomas vor einer
Freundin über ihre unterschiedliche Auslegung der Lawinensituation in die
Haare geraten. Eine spätere Szene wiederholt diese in intimerer Atmosphäre,
wieder ist das Paar dabei nicht allein. Ebbas Zustand hat sich
verschlechtert, sie weint und gesteht, wie unglücklich sie mit dieser
Erfahrung ist. Tomas’ unrühmliches Verhalten gerät zur offenen
Auseinandersetzung.
Da sich beide Situationen vor „Publikum“ abspielen, sind auch die Zuschauer
stärker einbezogen – die innere Dynamik verlagert sich, weil der
Selbstentblößung eines Paares vor Zuhörern ein Moment von Peinlichkeit
innewohnt. Auch als Betrachter ist man verunsichert: Man ist komisch
berührt, zugleich ehrlich ergriffen.
Ruben Östlund hat schon in früheren Filmen Risse in sozialen Gruppen
aufscheinen lassen. In „Involuntary“ („De ovrivilliga“, 2008) verknüpf…
Episoden, in denen Menschen aus einem Ensemble herausfallen, Opfer von
Missachtung, Übergriffen oder falschen Mutmaßungen werden.
## Symptom einer umfassenderen Verunsicherung
Es geht ihm dabei weniger um eine moralische Lesart, als um die
Kräfteverhältnisse und Verhaltensweisen innerhalb der Gruppen. „Play“
(2011) ging noch einen Schritt weiter, mit einem strengen formalen Konzept
erzählt der Film die Arbeit von schwarzen Jugendlichen, die weiße
Mittelschichtsjungen schikanieren. Ein Film, der in Schweden heftige
Debatten ausgelöst hat.
Auch in „Höhere Gewalt“ ist die Krise von Tomas nur das Symptom einer
umfassenderen Verunsicherung zwischen Ehepartnern, der Film offenbart die
Schwachstellen moderner Lebensführung, die kleinen Lügen, das unterdrückte
Begehren, die Scheinheiligkeiten. Östlund zeigt, wie schnell die
Auseinandersetzung des Paares sich auch auf andere übertragen kann.
Bezeichnend sind die Abschweifungen, die sich der Film erlaubt: Wenn sich
Tomas mit seinem Freund Mats (Kristofer Hivju) auf die Piste schmeißt, dann
führt das „male bonding“ zu keiner Reparatur des beschädigten Selbstbilds.
Traumartig findet Tomas sich in einer tobenden Männerrunde wieder – es
wirkt wie ein archaisches Ritual. Es ist das wohl stärkste Gegenbild zu dem
Vater, der irgendwann wimmernd vor seinen Kindern im Appartement liegt,
weil er sich selbst nicht mehr erträgt.
20 Nov 2014
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
## TAGS
Spielfilm
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Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Philippinen
Schwerpunkt Rassismus
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