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# taz.de -- Bilanz der 70. Filmfestspiele von Cannes: Makaber und lustvoll äst…
> In Cannes setzten sich viele Wettbewerbsbeiträge mit sozialer
> Wirklichkeit auseinander. Die Goldene Palme ging dennoch verdient an
> Ruben Östlund.
Bild: Der schwedische Regisseur Ruben Östlund gewinnt die Goldene Palme
Die 70. Filmfestspiele von Cannes enden ohne Skandal und ohne Kopfschütteln
über die Preisvergabe. Ein guter Jahrgang? Am auffälligsten war zunächst
einmal, wie viel über ihn geklagt wurde. Die Auswahl der Wettbewerbsfilme
sei nicht so doll ausgefallen, hörte man allenthalben. Was in der Mehrheit
der Fälle gar nicht zutraf.
Die weniger gelungenen Arbeiten sollen darüber nicht verschwiegen werden.
Besonders in der ersten Hälfte des Wettbewerbs konnte man den Eindruck
gewinnen, dass die vertretenen Regisseure hinter den an sie gestellten
Erwartungen zurückblieben, nachdem sie sich zuvor deutlich stärker gezeigt
hatten.
Todd Haynes, dessen unglückliche Liebesgeschichte „Carol“ (2015) noch
stilsicher verzaubert hatte, ließ einen mit seiner Kinderbuchverfilmung
„Wonderstruck“ ernüchtert zurück. Magische Momente waren in dieser Hommage
an die Institution Museum spärlich gesät. Ebenso der Koreaner Bong Joon-ho,
dessen vorwiegend kinderfreundliches Plädoyer gegen genetisch manipuliertes
Essen „Okja“ trotz eines liebevoll animierten Titelungetüms – ein
Riesenschwein – und gelungen infantiler Witze bei weitem nicht an seine
finstere Endzeit-Science-Fiction-Zugreise „Snowpiercer“ heranreichte.
Auch da, wo sich Regisseure zu drängenden Fragen äußerten, missriet der
Versuch: Der Ungar Kornél Mundruczó ließ in „Jupiter’s Moon“ einen
syrischen Flüchtling durch die Lüfte schweben, ohne recht zu wissen, was er
mit diesem Bild anfangen sollte, und ohne einen Hauch Kritik an der
Abschottungspolitik seines Landes.
Der Hamburger Fatih Akin dagegen vergab die Chance, als erster Regisseur
die NSU-Morde in einem Spielfilm zu fiktionalisieren, mit einem
hanebüchenen Finale: Nachdem eine Mutter (Diane Kruger) ihren Mann und Sohn
bei einem von Nazis verübten Nagelbombenanschlag verloren hat, verliert sie
in erster Instanz auch den Prozess gegen die Mörder aus Mangel an Beweisen.
Statt in Berufung zu gehen, reist sie den Nazi-Mördern in den Urlaub nach,
um dort, ebenfalls mit Nagelbombe ausgestattet, zur Selbstmordattentäterin
zu werden, die in einem Zug ihre Familie rächt und ihr ins Jenseits
nachfolgt.
Überzeugend war allein Diane Krugers darstellerische Leistung, für die sie
von der Jury als Beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, das erste Mal
seit 1986, dass diese Auszeichnung an eine deutsche Darstellerin ging.
## Abgründiger Humor
Bei einigen Filmen kann man sich freuen, wenn sie ins Kino kommen, ohne
dass sie zwangsläufig nach einer Auszeichnung verlangen würden. Viele davon
warteten mit abgründigem Humor auf: Michael Hanekes Satire über eine höchst
bürgerliche Familie, „Happy End“, war in ihrem kaltschnäuzigem Umgang mit
Fragen des Ablebens erfreulich makaber; der Koreaner Hong Sang-soo zeigte
sich in „The Day After“ erneut als Meister darin, die abgründigen Seiten
des menschlichen Miteinanders in scheinbar belanglosen Dialogen
einzufangen, und François Ozon platzierte in „L’amant double“ herrlich
alberne und sehr französische Psychoanalyse-Klischees. All diese Werke
gingen am Ende leer aus.
Im Vergleich zu ihnen erwies sich der Gewinner der Goldenen Palme, die
Kunstbetriebssatire „The Square“ vom schwedischen Regisseur Ruben Östlund,
als überlegen. Östlund gab sich nicht nur unerschrocken im Umgang mit
derbem Humor, indem er an Stellen, wo andere denken, jetzt sei ihr Punkt
schlüssig dargelegt, noch eins draufsetzte, sondern erwies sich auch in
seiner Kritik als genauer Beobachter.
Die Geschichte um einen Stockholmer Kurator, gespielt von Claes Bang,
erprobt stets neue Konstellationen, in denen sich vorgeblich engagierte
Haltungen an der sozialen Realität brechen. Diese Versuchsanordnung
exerziert Östlund in diversen Verästelungen durch, ohne den Faden zu
verlieren.
Ein bisschen verzettelt hat sich stattdessen der Franzose Robin Campillo
mit „120 battements par minute“, ein Aids-Drama, das ins Paris der frühen
neunziger Jahre zurückführt. Campillo, der selbst Aids-Aktivist war, hat
ein bisschen viel Zeit auf das Nachzeichnen der gruppeninternen Dynamik und
Verwerfungen seiner Aids-Aktivisten verwendet und seine schwule
Liebesgeschichte daneben recht klischeebeladen geschildert.
Gleichwohl gelangen ihm einige der rührendsten Momente des Wettbewerbs,
besonders in der Szene einer Clubnacht, bei der die Kamera zunächst die
Tänzer fixiert, dann zu den im Licht tanzenden Staubwirbeln wechselt, um an
diese so lange heranzuzoomen, bis aus den Partikeln infizierte Körperzellen
werden, die ihre virale Information aussenden.
## Keine verschenkte Minute in Coppolas Kammerspiel
Sehr [1][zu Recht bekam die US-Filmemacherin Sofia Coppola für ihre
Literaturverfilmung von „The Beguiled“ den Preis für die Beste Regie]. In
anderthalb Stunden erzählt sie ein Kammerspiel von Verführung, Gefahr und
Verrat, in dem keine Minute verschenkt ist und das Ensemble auf hohem
Niveau das Tempo hält. Auch der Jurypreis für den Russen Andrej Swjaginzew
und seine erbarmungslose Familienzerfallsgeschichte „Loveless“ passte.
Da in diesem Jahr das 70. Jubiläum der Filmfestspiele von Cannes begangen
wurde, vergab die Jury zusätzlich einen Spezialpreis, bedacht wurde Nicole
Kidman für ihren Doppeleinsatz in „The Beguiled“ und in Giorgos Lanthimos�…
an griechische Tragödien angelehntem Psychothriller „The Killing of a
Sacred Deer“.
Eigentlich hätte man diesen Preis ebenso gut für den besten Vollbart
vergeben können. Da war die Auswahl jedenfalls üppig: Vincent Lindon in der
Titelrolle des leider sterbensöden „Rodin“ von Jacques Doillon, Colin
Farrell gleichermaßen in „The Killing of a Sacred Deer“ und in „The
Beguiled“ und schließlich Joaquin Phoenix als grimmiger Sozialarbeiter der
etwas anderen Art in Lynne Ramsays gekonnt desorientierenden
Missbrauchsthriller „You Were Never Really Here“ hätten sich locker
angeboten. Joaquin Phoenix bekam dafür den Preis als Bester Schauspieler,
etwas überraschend, da er fast durchgehend mit versteinertem Blick vor der
Kamera zu erleben war.
Aus den Nebensektionen bleiben gute Erinnerungen an den US-Amerikaner Sean
Baker, der in „The Florida Project“ die „hidden homeless“, die Obdachlo…
seines Landes, beobachtet und mit knallbunter Kulisse und selbstbewussten
Kinderdarstellern in der Reihe „Quinzaine des Réalisateurs“ punktet. Und
[2][die Berlinerin Valeska Grisebach hatte mit „Western“ den stärksten
Auftritt in der Sektion „Un Certain Regard“]: Ihre deutschen Bauarbeiter
auf Abenteuereinsatz in Bulgarien waren schon allein als knorrige
Charakterköpfe ein echter Gewinn.
Außer Konkurrenz fielen sowohl der Koreaner Byun Sung-hyun mit seinem
entschieden coolen Noir-Thriller „The Merciless“ als auch der französische
Dokumentarfilmer Raymond Depardon mit seiner Psychiatrie-Studie „12 Days“
auf. Depardon beobachtete Patienten in Lyon, die gegen ihre unfreiwillige
Psychiatrisierung klagen, bei ihren Verhandlungen vor Richtern, die über
die Rechtmäßigkeit der Einweisung zu befinden haben. In seiner nüchternen
Direktheit einer der bewegendsten Filme des Festivals überhaupt.
Hatte man im vergangenen Jahr mit der Goldenen Palme für Ken Loachs „I,
Daniel Blake“ den Eindruck, bei der Ehrung habe der Altmeisterstatus den
Ausschlag für einen in seiner Aussage eher plakativen Film gegeben,
bildeten bei diesen Filmfestspielen die Auseinandersetzung mit der sozialen
Wirklichkeit und die Lust am Erproben einer eigenen Ästhetik keinen
Widerspruch. Für das Kino allemal ein Gewinn. Damit kann man sehr gut
leben.
30 May 2017
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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