| # taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Nackte Leiber aus Fleisch und Blut | |
| > Die vielen libidinösen Ökonomien retten auch nicht vor Langeweile. | |
| > Kurzweilig hingegen ist Sofia Coppolas Literaturverfilmung „The | |
| > Beguiled“. | |
| Bild: Nichts mehr von zu sehen: Nicole Kidman (l.) und Kirsten Dunst (r.) geben… | |
| „Dieses Festival bringt wirklich das Beste in den Leuten zum Vorschein!“ | |
| Sätze wie diesen kann man im Kino aufschnappen, wenn gerade mal wieder | |
| jemandem in der Nachbarreihe der Sitz weggenommen wurde, nachdem dieser | |
| womöglich kurz vor dem Film noch die Toilette aufgesucht hat und | |
| anschließend einiges an Überzeugungskraft aufbieten muss, um wenigstens | |
| seine am Platz zurückgelassenen Sachen an sich nehmen zu können. Neben | |
| reichlich Gedrängel sind unlautere Wettbewerbsmittel dieser Art keine | |
| Seltenheit. Aber die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte. | |
| Sie scheint auch, zumindest draußen irgendwo, über langweilige Filme, die | |
| es ebenfalls zu begutachten gibt. Im Wettbewerb konnte man mitunter sogar | |
| zweimal an einem Tag das zweifelhafte Vergnügen haben. „Hikari“ (Radiance) | |
| der Japanerin Naomi Kawase, ein regelmäßiger Festivalgast, hatte dabei | |
| eigentlich eine ausbaufähige Geschichte: Eine Autorin, die | |
| Audiodeskriptionen von Filmen für Blinde schreibt, sieht sich bei einem | |
| neuen Projekt mit den eigenen Grenzen konfrontiert. | |
| Mit Kommentierung versehen soll sie einen Film über ein altes Paar, dessen | |
| Frau Alzheimer hat. Da die Mutter der Autorin selbst dement ist, fällt ihr | |
| Distanz zum Projekt schwer. Die Blinden, die ihre Arbeit vorab testen | |
| sollen, beginnen sich von ihren Kommentaren bevormundet zu fühlen. So weit, | |
| so gut. Dass sie sich darüber einem fast blinden Fotografen aus der | |
| „Testgruppe“ annähert, gibt Kawase leider Gelegenheit zu getragenem | |
| Schnulz, in wohl komponierten Bildern festgehalten. | |
| ## Rodin und Claudel | |
| Ebenfalls wenig Begeisterung kommt bei Jacques Doillons Künstlerporträt | |
| „Rodin“ auf. Man sieht den Bildhauer (vollbärtig: Vincent Lindon) im | |
| Atelier, unterstützt von der Kollegin Camille Claudel (meistens lächelnd: | |
| Izïa Higelin), erlebt die beiden im Bett, wie ihre Beziehung schwieriger | |
| wird, da Rodin ihr den Status als eigenständige Künstlerin nicht zugestehen | |
| will, und wie die Sache schließlich in die Brüche geht. | |
| Dazu zeigt Doillon viele nackte Körper, in Fleisch und Blut und aus Gips | |
| oder Lehm. Die materielle Allgegenwart von Leibern ist dabei die | |
| konsequenteste Idee Doillons, der wenig tut, um die Biografien mit Leben zu | |
| füllen. Da können Rodin und Claudel noch so viele hölzerne Kommentare über | |
| ihr Schaffen von sich geben. | |
| ## In der Mädchenschule | |
| Allemal kurzweiliger gerät Sofia Coppolas Literaturverfilmung „The | |
| Beguiled“, die im Wettbewerb nicht schlecht dasteht. Nicole Kidman und | |
| Kirsten Dunst überzeugen in diesem Bürgerkriegssittendrama als zwei | |
| halbverknöcherte Lehrerinnen einer Mädchenschule in Virginia, die | |
| ungebetenen Besuch von einem Söldner des Unionsheers erhalten. | |
| Der Mann, schwer verletzt, und, da von Colin Farrell gespielt, durchaus | |
| ansehnlich – schon das zweite Mal, dass Kidman und er zusammen in | |
| Hauptrollen im Wettbewerb vertreten sind –, bringt die libidinöse Ökonomie | |
| des streng christlich geführten Hauses ordentlich durcheinander. | |
| Die liebevolle Ausstattung tut der an Körpern in Wallung überaus | |
| interessierten Sache durchgehend gut. Hinzu kommt die mit großer Freude an | |
| Schlingpflanzen ins Bild gesetzte Sumpflandlandschaft, was als Bild für | |
| eine keinesfalls ungefährliche Sinnlichkeit bestens passt. Erotikkitsch | |
| braucht man keinen zu fürchten, drastischen makabren Humor schon eher. Denn | |
| der Fortgang der Ereignisse ist keinesfalls vorhersehbar. Das alles mit | |
| viel Gewinn. | |
| 25 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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| Frauke Petry | |
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