# taz.de -- „Die Verführten“ von Sofia Coppola: Barocke Unterwanderung | |
> Sofia Coppolas Spielfilm „Die Verführten“ zeigt mit viel Sinn für Komik, | |
> wie unterhaltsam ein Psychodrama inmitten des US-Bürgerkriegs sein kann. | |
Bild: Verführte: Elle Fanning als „Alicia“, Nicole Kidman als „Miss Mart… | |
Die Luft ist feucht in den Wäldern Virginias. So feucht, dass sie einen | |
Schleier der Unschärfe vor der Kamera bildet. Pilze sind es, die die junge | |
Amelia Dabney in den Wald geführt haben. Doch mit einem Mal sieht sie eine | |
Hand auf dem Boden. Ein verletzter Soldat der Armee der Union auf einem der | |
wenigen Gebiete Virginias, die gegen Ende des US-Bürgerkriegs (1861–1865) | |
noch von den konföderierten Südstaaten gehalten werden. Mit einiger | |
Anstrengung gelingt es der jungen Amelia, den Soldaten (Colin Farrell) | |
aufzurichten und sich mit ihm zur nahe gelegenen Farnsworth-Schule | |
zurückzuschleppen. | |
Die Leiterin der Schule, Martha Farnsworth (angenehm | |
selbstironisch-gouvernantenhaft: Nicole Kidman), die einzige Lehrerin, | |
Edwina Morrow (eindrucksvoll mit angezogener Handbremse: Kirsten Dunst) und | |
einige Schülerinnen bugsieren den Verletzten in das Musikzimmer der Schule. | |
Auf Zureden Amelia Dabneys und einiger anderer Schülerinnen verzichtet | |
„Miss Farnsworth“ darauf, die Anwesenheit des feindlichen Kämpfers zu | |
melden. Stattdessen entfernt sie die Kugeln aus dem Bein des Soldaten und | |
verbindet die klaffende Wunde. Ein verletzter Soldat, als einziger Mann | |
unter den Frauen der Schule, das ist die Grundkonstellation von Sofia | |
Coppolas „Die Verführten“. | |
Die Ankunft von John McBurney wirbelt das Leben in der kleinen Schule im | |
Hinterland von Virginia durcheinander. Mit einiger Anstrengung war es | |
Martha Farnsworth gelungen, den Bürgerkrieg von ihrer Schule fern- und | |
Disziplin und „Anstand“ unter den Schülerinnen trotz des Kriegs | |
hochzuhalten. Doch nun liegt ein Opfer dieses Bürgerkriegs mit einem Mal | |
mitten im Musikzimmer. Die Veränderungen, die die Anwesenheit von John | |
McBurney auslöst, sind augenfällig. Beim Frühstück am nächsten Morgen | |
bemerkt Martha Farnsworth, dass sich die Schülerinnen, ihre Lehrerin und | |
sie selbst gleichermaßen herausgeputzt haben. | |
Mit Ausnahme einer einzigen Schülerin, die McBurney als Tochter eines | |
Südstaatengenerals als Feind betrachtet, wetteifern alle Schülerinnen um | |
die Aufmerksamkeit und Gunst des einzigen Mannes im Haus, und auch Edwina | |
Morrow und schließlich Martha Farnsworth selbst zeigen sich an ihm | |
interessiert. McBurney versichert jeder einzelnen seriell, dass sie die | |
Einzige von Bedeutung sei. | |
## Verheißung der Freiheit | |
McBurney nutzt das Interesse der Frauen und ihre Konflikte als | |
Überlebensstrategie, für die Frauen ist er eine Art Verheißung der | |
Freiheit. Edwina Morrow und er haben kaum ihre Namen ausgetauscht, schon | |
ist sie bereit, mit ihm durchzubrennen, um der verhassten Enge der Schule | |
zu entfliehen. Wie in vielen anderen Filmen Coppolas erweist sich die | |
Heile-Welt-Seifenblase der Schule gleichermaßen als sichere Insel wie als | |
Gefängnis. | |
„Die Verführten“ ist die zweite Verfilmung eines Romans von Thomas | |
Cullinan. Cullinans Roman, 1966 erschienen, ist eine Traumvorlage für jeden | |
Drehbuchautor. Der Roman wird erzählt in wechselnden Berichten der | |
Protagonisten. „The Beguiled“, so der Titel des Romans und der | |
Originaltitel beider Verfilmungen, war einer der wenigen Romane Cullinans, | |
der vor allem als Bühnen- und Fernsehautor arbeitete. | |
Das Erscheinungsjahr von Cullinans Roman verdient Beachtung: Genau hunderte | |
Jahre zuvor begann die Nachkriegszeit des amerikanischen Bürgerkriegs. | |
Passend dazu ist der Roman stärker als beide Verfilmungen an den | |
ideologischen Verwerfungen, rassistischen Zuschreibungen und Denunziationen | |
interessiert. | |
## Perspektive der Südstaaten | |
Cullinans Roman fügt sich in zeitgenössische Versuche der | |
Geschichtswissenschaft, die Perspektive der Südstaaten wieder in die | |
landesweite Erinnerung an den Bürgerkrieg einzuschreiben. Was Sofia Coppola | |
inhaltlich an dem Stoff interessiert, ist nicht einfach zu erraten – darauf | |
hat schon Michael Kienzl auf critic.de in seiner Festivalkritik zur | |
Premiere des Films auf dem Filmfestival in Cannes hingewiesen: Konflikte | |
zwischen den Frauen interessieren sie jedenfalls nicht übermäßig. Ebenso | |
wenig scheint sie an tieferer Charakterzeichnung interessiert. | |
Kienzls Vermutung, dass es vor allem die Rituale und Oberflächen der | |
Schülerinnen sein könnten, scheint plausibel. In ebendiese Richtung weist | |
jedenfalls ein Gespräch mit Sofia Coppola im New Yorker Lincoln Center, bei | |
dem die Regisseurin eine Reihe von Fotos zeigte, die sich mit ebendiesen | |
Szenen der Frauen untereinander in Verbindung bringen lassen. | |
Dieses Interesse wird noch deutlicher, wenn man Coppolas Verfilmung mit der | |
von Don Siegel aus dem Jahr 1971 vergleicht. Während jedoch die gemeinsamen | |
Abendessen bei Siegel eher eine aufs Sattwerden ausgerichtete Notwendigkeit | |
sind, zelebriert Coppola diese als gesellschaftliche Ereignisse. Auch sonst | |
überwiegen die Unterschiede: Siegel ist deutlich an der Explosivkraft der | |
Konflikte interessiert. Wie Coppola verführt auch Siegel durchaus frei in | |
der Adaption, verfährt jedoch insgesamt historisierender, ist mehr an der | |
schwülstigen Mischung aus Erotik und Gewalt interessiert. | |
## Eine weiße Gesellschaft | |
Siegel rahmt die Handlung des Films durch Fotos aus dem Bürgerkrieg sowie | |
einen Sepiaton, der Anfang und Ende des Films markiert, und macht aus der | |
Handlung so eine Episode aus der Geschichte des Bürgerkriegs. Coppola | |
hingegen hat mit Ausnahme der Kostüme alles Historische aus dem Film | |
herausgehalten. Die deutlichste Entscheidung in dieser Hinsicht betrifft | |
die versklavte schwarze Hausangestellte Mattie, die Coppola aus der | |
Handlung gestrichen hat. Dadurch entpolitisiert Coppola die Konflikte, die | |
ihr Film zeigt. Coppola porträtiert eine weiße Gesellschaft, die ganz mit | |
sich selbst beschäftigt ist. | |
Zugleich lässt Coppola die Gespräche der Frauen auch in Momenten, in denen | |
dieser abwesend ist, weit stärker um den Mann im Haus kreisen. Weder | |
Cullinans Roman noch Siegels Verfilmung rücken ihn derart ins Zentrum. Die | |
US-Comicautorin Alison Bechdel entwarf 1985 für Filme einen kleinen Test, | |
um die Stereotypisierung von weiblichen Rollen zu erfassen. Eine der Fragen | |
ist, ob die weiblichen Darstellerinnen des Films sich über etwas anderes | |
als einen Mann unterhalten. | |
Nur wenige Szenen aus „Die Verführten“ würden diesen Test bestehen. Umso | |
interessanter, dass die New York Times dies zum Anlass nahm, die Debatte | |
über einen „weiblichen Blick“ in Bezug auf Filme aufzuwärmen, die in den | |
Siebzigern und Achtzigern feministische Filmtheorie durchbebte. | |
## Kammerspiel in gehobener Gesellschaft | |
Mit Blick auf die oben skizzierten Probleme, die man sich mit einer | |
politischen oder ideologiekritischen Lesart von „Die Verführten“, | |
einhandelt, tut man gut daran, „Die Verführten“ eher als Kammerspiel in | |
gehobener Gesellschaft mit viel Freude an schönen Bildern zu betrachten. | |
Der Coppola-Touch mit seinem Hang zu überbordend barocker | |
Modezeitschriftästhetik mag beim Blick in ihre Filmografie etwas Soßiges | |
kriegen, in „Die Verführten“ zeitigt er überraschende Ergebnisse: Wer hä… | |
vermutet, dass ein Psychodrama inmitten eines Bürgerkriegs so unterhaltsam | |
sein kann. | |
Man möchte Nicole Kidman umgehend in mehr Komödien sehen. In diesem Humor | |
liegt vielleicht auch das politischste Element des Films: Während Martha | |
Farnsworth zu distanzierter bisweilen humorvoller Selbstbetrachtung fähig | |
ist, kreist John McBurney voller Ernst um sich selbst. Die Unterwanderung | |
männlicher Autorenernsthaftigkeit trägt den Film durchaus von einer | |
detailverliebten Szene zur nächsten. Warum Sofia Coppola diesen Kniff | |
gerade in einem so umkämpften historischen Setting und mit so wenig | |
Interesse an der Vorlage vorführen musste, ist jedoch nicht ganz | |
einsichtig. | |
29 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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