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# taz.de -- Raymond Depardon über Doku „12 Tage“: „Sie sind wie Poeten“
> Der Filmemacher und Fotograf Raymond Depardon spricht über Missstände in
> der Psychiatrie und die schwierige Arbeit an seinem neuen Dokumentarfilm.
Bild: In seinem neuen Werk befasst sich Depardon mit dem Thema Zwangseinweisung…
Raymond Depardon hat sich als Filmemacher und Fotograf mit sozialen und
politischen Themen einen Namen gemacht: in den 1970er Jahren etwa mit
Reportagen aus Vietnam, Kambodscha oder Chile, dazu mit Arbeiten zur Lage
in Gefängnissen und Psychiatrien. Depardons Filme waren in Deutschland
bisher fast nur auf Festivals zu sehen. Das Gespräch zu seinem
Dokumentarfilm „12 Tage“ führten wir während der Filmfestspiele in Cannes,
wo er 2017 lief. In ruhigen Bildern zeigt er Anhörungen von französischen
Psychiatriepatienten. Diese müssen nach einer Zwangseinweisung von Gesetzes
wegen innerhalb von zwölf Tagen einem Richter vorgeführt werden. Der hat
dann zu entscheiden, ob die Einweisung rechtens war oder nicht.
taz: Herr Depardon, in „12 Tage“ haben Sie die Anhörungen von
zwangseingewiesenen Psychiatriepatienten dokumentiert. Wie kamen Sie zu dem
Thema?
Raymond Depardon: Ich wurde von einer Richterin angesprochen, ob ich einen
Film über ein neues Gesetz zur Zwangseinweisung machen wolle. Die Richterin
kannte ich schon, da ich mit ihr den Film „Die zehnte Kammer“, „10e
chambre“, gemacht hatte. So erfuhr ich von diesem Gesetz zur
Zwangseinweisung. In Frankreich ist es immer noch ziemlich unbekannt.
Vielleicht dachte man ja, wenn Raymond Depardon einen Film darüber dreht,
bekommt das Gesetz größere Bekanntheit. Und an der École nationale de la
magistrature, der Nationalen Richterschule in Bordeaux, da liebt man meine
Filme. Sie nutzen sie auch bei der Ausbildung ihrer Richter.
Der Film sollte dem Gesetz größere Bekanntheit verschaffen, damit mehr
Menschen es in Anspruch nehmen?
Die Richterin und die Psychiaterin, die mich damals aufsuchten, gehörten zu
den Fürsprechern dieses Gesetzes. Es ist ursprünglich ein europäisches
Gesetz und wurde 2013 als französisches Recht eingeführt. Ich weiß nichts
über die spezifischen Gründe für seine Entstehung, doch die Einrichtung des
sogenannten „Freiheitsrichters“, der über die Einweisung ohne Zustimmung
des Patienten zu entscheiden hat, geht zurück auf Statistiken, die besagen,
dass in Frankreich fast 100.000 Menschen jährlich ohne eigene Zustimmung in
die psychiatrischen Abteilungen der öffentlichen Krankenhäuser eingewiesen
werden. Das sind zwar bloß Zahlen, doch gibt es bei dieser Art von
Behandlung auch Missbrauchsfälle. Ich denke, die europäischen Psychiater
wollten dem Missbrauch bei der Zwangseinweisung so Einhalt gebieten.
War es schwierig, eine Drehgenehmigung zu erhalten?
Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern läuft, aber einer der Gründe,
warum ich in den siebziger Jahren nach Italien gegangen bin, um Filme zu
drehen, war, dass es dort keine Bedenken wegen Bildrechten gab, wohingegen
es in Frankreich damals schon verboten war, Aufnahmen in psychiatrischen
Kliniken zu machen. Für die Herrschenden ist es sehr zweckmäßig, das Filmen
und Fotografieren in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken zu
verbieten. Das wird einerseits mit den Bürgerrechten begründet, doch
andererseits kann man dann auch nicht sehen, was in diesen Einrichtungen
vor sich geht. In diesem Fall wurde ich gebeten, den Film zu machen. Und
obwohl es einige Schwierigkeiten gab, genoss ich durch meinen Ruf eine
gewisse Freiheit. Die Richter lieben meine Filme, wie ich schon sagte, sie
sind für sie sehr nützlich. Zudem drehe ich nicht mit viel Ausrüstung oder
einem großen Team und bin sehr diskret. Ich beschloss diesmal, nicht in
Paris zu drehen, wo es schwieriger ist als in anderen französischen
Städten, sondern in Lyon.
Bei den Aufnahmen haben Sie die Patienten anonymisiert. Wie sind Sie
vorgegangen?
Ich musste alle Namen und Orte ändern. Dazu habe ich ein sehr einfaches
Hilfsmittel namens Pro Tools verwendet. Man braucht lediglich eine Silbe zu
verändern, das ist der ganze Trick. So lässt sich die wahre Person nicht
mehr herausfinden.
Wie haben die Patienten reagiert, als sie von Ihnen angesprochen wurden?
Wir trafen eine Reihe von Psychiatern, das waren mehr als 100 Ärzte, die
meinten, wir sollten vor den Dreharbeiten in die Abteilungen kommen. Sie
gaben uns dann eine Liste der Patienten, bei denen eine Anhörung anstand.
Wir taten zunächst, wie uns geheißen wurde, was sich als Desaster
herausstellte. Wir gingen nämlich zusammen mit den Schwestern und
Psychiatern durch die Abteilungen, und dabei waren alle Patienten sehr
schüchtern und weigerten sich. Wir beschlossen daraufhin, anders
vorzugehen. Claudine Nougaret, die Produzentin und Toningenieurin des
Films, schlug vor, dass entweder ich oder sie zusammen mit nur einer
Schwester direkt vor den Anhörungen zu den Patienten gehen sollte. Was wir
auch taten, doch die Schwestern zogen die Patienten auf mit Sätzen wie
„Hey, du wirst ein großer Filmstar“, sodass sich die Patienten von ihnen
kontrolliert fühlten. Schließlich sagte Claudine: „Ich mache das allein.“
Ein Drittel lehnte dann ab, zwei Drittel sagten ja. Das Erstaunliche daran
ist, dass die Patienten, die sich weigerten, ihr anschließend Fragen
stellten wie: „Sind Sie nicht ärgerlich, dass ich nein sage?“ Sie fühlten
sich so unterdrückt von den Leuten, die sie behandeln sollen, dass sie sich
bei uns erleichtert zeigten.
Unter den zehn Anhörungen, die Sie zeigen, endet eine mit einer Vertagung,
alle anderen Richter bestätigen die Entscheidung der Klinik. Wie viele der
insgesamt 72 gefilmten Anhörungen führten zur Aufhebung der
Zwangseinweisung?
Keine einzige. Es gab während unserer Dreharbeiten zwei Patienten, bei
denen die Entlassung kurz bevorstand, wir durften sie allerdings nicht
filmen, weil sie sofort wieder zur Arbeit zurückkehren sollten. So fehlen
uns die eher normaleren Menschen, und wir waren gezwungen, Menschen mit
ernsthaften Problemen auszuwählen. Aber es stimmt, dass bei den 72
Anhörungen, die wir miterlebt haben, niemand während der Arbeit am Film
entlassen wurde.
Meine erste Reaktion nach dem Film war: Wenn die Entscheidung der Klinik
jedes Mal bestätigt wird, wie sichert das Gesetz dann eigentlich die Rechte
der Patienten?
Wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass ich 72 Patienten filmen und kein
Einziger von ihnen währenddessen entlassen werden würde, wäre es für mich
kaum auszuhalten gewesen. Doch mittlerweile scheint mir das nicht mehr so
wichtig, denn ich bin sicher, dass dies ein Schritt in die richtige
Richtung ist. Psychiatrien unterstehen jetzt einer Kontrolle. Sie müssen
ein Gesetz befolgen und Rechenschaft für ihre Entscheidungen ablegen. Warum
sind es zwölf Tage? Nun, das Ministerium wollte 10 Tage, die Psychiater
hingegen 15, man wählte daher eine Lösung in der Mitte. Was ich zudem aus
meiner privilegierten Beobachterposition sagen kann, ist, dass die Gefahr
heute weniger in der Zwangseinweisung besteht als in den Isolierzellen, in
die man Patienten steckt. Das ändert sich aber auch. Man darf Patienten nur
noch maximal 48 Stunden festhalten. Der Grund ist, dass man in der
Provinzstadt Bourg-en-Bresse 100 Menschen entdeckt hat, die in
Isolierzellen festgehalten wurden. Was nur ein Beispiel für das schwarze
Loch der psychiatrischen Abteilungen in den Krankenhäusern ist.
Die Patienten erhalten im Film viel Raum, um ihre Ansichten zu äußern,
einiges davon klingt recht vernünftig. Etwa die Bitte einer jungen Mutter,
die mehr Zeit mit ihrer Tochter verbringen möchte und Psychotherapie statt
rein medikamentöser Behandlung verlangt. Wollten Sie damit eine weitere
Debatte eröffnen?
Ich will nicht den Advocatus Diaboli spielen, und da wir keine
Patientenakten einsehen konnten, fehlten uns viele Informationen. Wir
wussten nicht, warum die Leute eingewiesen wurden. Ich habe für den Film je
zwei weibliche und zwei männliche Richter ausgewählt. Die Frauen gehören
zur neuen Richtergeneration, während die Männer von der alten Schule sind.
Sie sind Strafrichter mit einer sehr paternalistischen Haltung. Trotzdem
lassen auch sie die Patienten sprechen, und dabei kommen erstaunliche Dinge
heraus. Wie bei dem afrikanischen Immigranten, der ernsthaft sein Leben
ändern will. Er wurde eingewiesen, weil er zwölfmal auf jemanden
eingestochen hat, anfangs war er in der Abteilung für schwierige Patienten
untergebracht, die an ein Gefängnis erinnert. Er sagt fantastische Dinge!
Wir haben mehrere Schnitte des Films probiert, und ich habe den Film dann
verschiedenen „Versuchskaninchen“ vorgeführt, eines davon ein Lehrer, sehr
links. Seine Reaktion war: „Ich würde keinen von ihnen entlassen, aus Angst
um meine Tochter.“ Ein anderer meinte: „Ich würde alle freilassen.“ Mit
diesen psychischen Krankheiten rührt man ja an tiefe Tabus. Jemand anderes
sagte: „Das ist der Beweis dafür, dass es Frankreich nicht gut geht.“ Wir
selbst sehen uns aber weniger in der Nähe zu Bourdieu, sondern halten es
eher mit Foucault. Daher auch das Foucault-Zitat am Anfang des Films.
Zu diesem Foucault-Satz „Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt
über den Wahnsinnigen“ wollte ich fragen: Wie war Ihre Erfahrung mit dem
„wahren Menschen“, als Sie den Film drehten?
Es ist erstaunlich, alle Patienten sagen großartige Sachen. Sie sind wie
Poeten in ihrem Bemühen, sich auszudrücken und mit dem, was sie zu sagen
haben, ernst genommen zu werden. Was sie sagen, sind echte Wahrheiten.
13 Jun 2018
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Psychiatrie
Dokumentarfilm
Michel Foucault
Psychiatrie
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Psychiatrie
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