| # taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Im Gynäkologenstuhl | |
| > Das Festival geht zu Ende. Die ganz große Begeisterung wollte bislang | |
| > nicht aufkommen. Immerhin ein paar Schockszenen wurden geboten. | |
| Bild: Regisseur Giorgos Lanthimos und Nicole Kidman in Cannes | |
| So langsam nähert sich das Festival dem Ende. Der Rummel hat merklich | |
| nachgelassen und die Flure haben sich geleert, weil die Vertreter der | |
| Filmindustrie zu großen Teilen schon abgereist sind. Ringsum hört man | |
| Husten, Niesen und Klagen über allgemeine Erschöpfungserscheinungen. | |
| Geguckt wird aber weiter, nicht zuletzt, weil die ganz große Begeisterung | |
| in Cannes bisher nicht aufkommen wollte. Zumindest nicht kollektiv. | |
| Über die Qualität der Filme lässt sich in der Regel nicht klagen, doch gibt | |
| es diesmal bemerkenswert disparate Einschätzungen über das Gesehene. Hatte | |
| Giorgos Lanthimos’ „The Killing of a Sacred Deer“ schon sehr | |
| entgegengesetzte Urteile hervorgerufen, könnte das erst recht für seinen | |
| französischen Kollegen François Ozon gelten. „L’amant double“ eröffnet… | |
| einer der wüstesten Überrumpelungsszenen des Wettbewerbs: In Großaufnahme | |
| ist eine gynäkologische Untersuchung mit Spekulum zu sehen, um im nächsten | |
| Moment zu einem tränenden Auge überzublenden, dessen Form haargenau auf das | |
| weibliche Genital passt. | |
| Unter der Gürtellinie ist auch die folgende Geschichte von Chloé (erneut | |
| bei Ozon: Marine Vacth), einem an chronischen Magenbeschwerden leidenden | |
| Exmodel, und dem Psychiater Paul (zugewandt undurchsichtig: Jérémie | |
| Renier), dessen Dienste Chloé in Anspruch nimmt. Aus der professionellen | |
| Hilfe wird eine Liebesbeziehung, in die sich recht bald der unheimliche | |
| Zwillingsbruder von Paul hineindrängt und Chloés Begehren in gefährliche | |
| Zonen der Lust lotst. | |
| Alles scheint sich zu spiegeln in diesem Kabinett der Verwirrung, das Ozon | |
| so gründlich mit falschen Fährten ausstaffiert, dass die Orientierung | |
| wiederholt verloren geht. Die Verdopplungen von Personen geben ihm | |
| Gelegenheit, stets neue Ebenbilder unterschiedlichster Art zu schaffen, | |
| über denen die Wirklichkeit sich immer weniger deutlich zu erkennen gibt. | |
| Nebenbei ist „L’amant double“ mit hübschen Psychoanalytiker-Ulks gespick… | |
| Und einigen hundsgemeinen Schockmomenten. Doch selbst seine schwer | |
| verdaulichen Momente werden mit Humor der wirklich hartgesottenen Art | |
| belohnt. | |
| Etwas weniger Anspruch erheben die New Yorker Zwillinge Benny und Josh | |
| Safdie mit ihrem Thriller „Good Time“ über zwei Brüder, die sich als | |
| Bankräuber versuchen. Einer der beiden, Nick (Benny Safdie), ist geistig | |
| behindert und wird vom Bruder Connie (Robert Pattinson) für die Tat | |
| missbraucht, wie überhaupt alle Menschen, die seinen Weg kreuzen, von ihm | |
| effektiv ausgenutzt werden. Statt einem gut ausgearbeiteten Plan folgt | |
| Connie seinen Impulsen, geht mit dem Flow der Ereignisse, soweit es ihm | |
| eben gelingt. | |
| Das ist lässig und temporeich ins Bild gesetzt, bloß ein bisschen | |
| unschlüssig in der Gesamtanlage. Dafür hat „Good Time“ mit den | |
| insistierenden Synthesizerpatterns des Elektronikers Oneohtrix Point Never | |
| einen der stimmigsten Soundtracks des Wettbewerbs zu bieten. Was kein | |
| geringes Verdienst ist. | |
| 26 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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