# taz.de -- Kinostart des Thrillers „Good Time“: Einfach nur großer Bruder… | |
> Geschwisterliebe ist ein starkes Motiv: In ihrem Thriller „Good Time“ | |
> haben sie die Regisseure Joshua und Ben Safdie gut versteckt. | |
Bild: Robert Pattinson als Connie Nikas | |
Eine der berührendsten Szenen in „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ (199… | |
ist die, in der Johnny Depp alias Gilbert Grape seinen kognitiv | |
gehandicapten Bruder Arnie (Leonardo DiCaprio) in der Badewanne vergisst, | |
weil unerwartet ein Mädchen in sein Leben tritt. Als er den ausgekühlten, | |
zitternden Arnie Stunden später aus dem Wasser zieht, sieht man Gilbert das | |
schlechte Gewissen an, fühlt seine Zerknirschtheit – und die Liebe, die er | |
seinem Bruder entgegenbringt. | |
Es ist eben schwierig, wenn man zwischen Verantwortung und Drang | |
festklemmt. Connie Nikas (Robert Pattinson) will nun im Thriller „Good | |
Time“ ebenfalls nur das Beste für seinen Bruder Nick (Regisseur Ben | |
Safdie), dessen Sprache undeutlich ist und der trotz Hörgerät kaum etwas | |
von der Welt versteht. Nach Ansicht des permanent abgebrannten Connie kann | |
ihnen beiden nur eine Sache helfen – und zwar besser als jede Therapie. | |
Also überfällt er gemeinsam mit Nick eine Bank in New York. | |
Doch die Kassiererin hat den tapsigen Neu-Gangstern mit den dicken | |
schwarzen Gummimasken nicht nur das geforderte Geld, sondern unbemerkt auch | |
noch ein Alarmpaket in die Tüte geschoben. Als das Päckchen im Auto | |
explodiert und sowohl die Brüder als auch die Scheine rot markiert, steht | |
Nick, dem schon die Maske und die Aufregung beim Überfall stark zusetzten, | |
vor einer Panik. Er wird kurz darauf bei einer unkoordinierten Flucht von | |
der Polizei gefasst und ins Gefängnis verlegt; Connie dagegen kann abhauen | |
– und wird fortan versuchen, auf dem schnellsten Weg 10.000 Dollar | |
aufzutreiben, um Nick gegen Kaution herauszuholen. Denn was seinen geistig | |
gehandicapten Bruder im Knast erwartet, das weiß er und erträgt es nicht. | |
Geschwisterliebe ist ein starkes Motiv. Die Regisseure Ben und Josh Safdie | |
haben sie sorgfältig versteckt: In Pattinsons gequältem Gesichtsausdruck; | |
hinter der Ruppigkeit, mit der er seinen Bruder zu Anfang aus einem | |
Therapiegespräch schleift; in der trotzigen Energie, mit der Connie eine | |
irre Nacht lang von Verzweiflung zur Hoffnung und wieder zurück stolpert. | |
Das Motiv treibt Connie durch die Straßen, in absurd komische Situationen – | |
wenn er etwa ein junges schwarzes Mädchen, dessen Oma ihm Obdach gewährt, | |
aus heiterem Himmel küsst, um sie vom Crime-Geschehen abzulenken. Und in | |
hoffnungslos gewalthaltige Szenerien, bei denen Menschen zu Schaden kommen. | |
## Grenzen des Mitgefühls | |
Pattinsons Physis, die immer ein bisschen weich wirkt, ergibt zusammen mit | |
den desperaten Ausbrüchen und den vielen Schnapsideen einen ambivalenten | |
und darum spannenden Charakter: Er übernimmt Verantwortung für einen | |
Menschen, aber hält sich kein bisschen an die Regeln aller anderen. | |
Um seinem Bruder zu helfen, lügt und betrügt, verführt, stiehlt und schlägt | |
er. In einer brutalen Sequenz prügelt Connie den unschuldigen Nachtwächter | |
eines Vergnügungsparks krankenhausreif – eine Szene, die die Grenzen des | |
Zuschauer-Mitgefühls austesten soll: Kann, darf, will man wirklich | |
weiterhin auf der Seite eines so gewalttätigen Protagonisten stehen? Der | |
Hauptdarsteller, der typische Rehaugen-Liebhaber-Rollenvorschläge | |
anscheinend seit Jahren mit Verve in die Ecke feuert und sich dennoch | |
weniger weit von seinem „Twilight“-Image entfernen konnte als seine | |
ehemalige Film- und Lebenspartnerin Kristen Stewart, geht mit diesem Film | |
noch einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit: Den durch lange Straßenjahre | |
gezeichneten, rabiat-brüchigen Underdog spielt Pattinson einwandfrei. | |
Die aus New York stammenden und dem Independent-Kino verhafteten | |
Safdie-Brüder erzählen in ihrem dritten Langspielfilm mit wackeliger | |
Handkamera und in verwischt-atmosphärischen Dunkelbildern ein Drama voller | |
Leid, Wut und Energie – und erstaunlicherweise auch voller Komik, die | |
situativ entsteht, durch Verwechslungen, Missverständnisse und | |
lakonisch-authentische Nebenfiguren. Elegant lassen sie stark gespielte | |
Charaktere wie Connies psychisch labile Freundin Corey (Jennifer Jason | |
Leigh), die ihm Geld leihen soll, auf- und schnell wieder abtauchen, und | |
scheren sich weniger um Moral als vielmehr um Plausibilität. | |
Behutsam und kitschfrei zeigen Joshua und Ben Safdie zudem ganz nebenbei | |
die Unterschiede der Milieus; die versteckte, aber verlässliche Solidarität | |
der Armen im unbarmherzigen Stadt-Moloch: Wirkliche Hilfe, so scheint es | |
jedenfalls lange Zeit, findet der Protagonist nur bei den ebenfalls | |
Ausgestoßenen – den Bewohner*innen der Stadt, die sich kein Taxi vom | |
Krankenhaus nach Hause leisten können und mit dem „Social Worker“-Bus in | |
ihr mit Trash vollgestopftes, vom Fernseher erleuchtetes Loch in Queens | |
zurückgekarrt werden. | |
## Vehemenz der Indies | |
Die mit puertoricanischem Akzent sprechende alte Lady, die Connie die Tür | |
öffnet und sich alsbald mit Tabletten zum Schlafen zurückzieht, ist die | |
abgeklärte Variante einer guten Fee. Ihre Enkelin, das junge schwarze | |
Mädchen, das sich über gar nichts wundert, ist eine weitere. Corey, Connies | |
Psychofreundin, hatte ebenfalls Hilfe im Sinn, ist jedoch selbst so kaputt, | |
dass sie bei der Jagd schnell auf der Strecke bleibt. | |
Zum Trip passend hat der New Yorker Experimentalmusiker Daniel Lopatin | |
alias Oneohtrix Point Never, der auf dem britischen Warp-Label | |
veröffentlicht, einen Score komponiert, der dem Film psychedelische | |
„Tangerine Dream“-Momente beschert: Er setzt retroelektronische Akzente, | |
die an Vangelis’ beeindruckenden Score für den 1982er „Blade Runner“ oder | |
Brad Fiedels Ideen für „Terminator“ zwei Jahre später erinnern, und | |
konterkariert damit die hoffnungslos-analoge Flucht-und-such-Situation, in | |
der sich Nick befindet – und die in ihrer Atemlosigkeit und dem nächtlichen | |
Setting ein wenig an die rasante, brillant ausgeführte One-Take-Hatz in | |
Sebastian Schippers „Victoria“ erinnert. Beim Filmfestival von Cannes, wo | |
„Good Time“ im Mai für die Goldene Palme nominiert war, wurde Lopatin daf�… | |
der „Soundtrack Award“ verliehen. | |
Das Drehbuch von Joshua Safdie und Ronald Bronstein lässt trotz | |
altbekannter Genre-Ideen (schief gelaufener Banküberfall, Zeitdruck), die | |
die Geschichte dramaturgisch wie eine Mauer abstützen, nicht vorausahnen, | |
was passiert – geht es gut aus, und wenn ja, für wen? Und was bedeutet in | |
dem Zusammenhang „gut“? | |
## Wenig Geld und viel Dringlichkeit | |
Seine Vielschichtigkeit ist – nach Filmen wie dem per Handy gefilmten | |
queeren Drama „Tangerine L.A.“ und Andrea Arnolds flirrendem Outcast-Stück | |
„American Honey“ – ein weiterer Beweis für die Vehemenz, mit der sich die | |
US-amerikanische Independentszene mit wenig Geld und viel Dringlichkeit | |
neben den üblichen Dramen zu behaupten vermag. | |
Was thematisch ähnliche Filme mit Underdog-Helden, die erbarmungslos die | |
Fäuste fliegen lassen, oft falsch machen, haben die beiden Regisseure | |
beachtet: Sie setzen nicht auf coole Sprüche und kaum auf die Faszination | |
der performativen Gewalt im Actiongenre. Stattdessen lassen sie ihren | |
Helden einfach nur großer Bruder sein. Und das ist – in diesem Fall – | |
schlichtweg mitreißend genug. | |
1 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
Argentinien | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
Schauspieler | |
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