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# taz.de -- „The Florida Project“ von Sean Baker: Gickernde Feen und Kobolde
> Erkundungen am Rande der US-Gesellschaft: Sean Baker blickt in seinem
> Spielfilm „The Florida Project“ mit kindlicher Wahrnehmung auf die Welt.
Bild: Halley (Bria Vinaite) und ihre Tochter Moonee (Brooklynn Kimberly Prince)
Irgendwo am Rande der Turnpike, hinter der Touristenattraktion Disneyland
in Orlando, Florida, existiert unter der tropischen Sonne eine weitere
magische Welt. Sie besteht aus quietschbunten Gebäuden, aus
neonlichtblinkenden Fast-Food-Restaurants, überdimensionierten
Billigspielzeugläden, aus Komplexen, die „Futureland“, „Magic Castle“,
„Arabian Nights“ und „Orange World“ heißen, und aus lila oder babyrosa
angestrichenen Motels, die wirklich nur von weitem aussehen wie „Barbie’s
Dreamhouse“.
Moonee (Brooklynn Kimberly Prince), sechs Jahre alt, lebt hier mit ihrer
Mutter Halley (Bria Vinaite). Und wenn die vergnügte, vor Energie
überschäumende Range die neue Freundin aus „Futureland“ Jancey (Valeria
Cotto) stolz über die offenen Flure ihres lila Zuhauses führt, weiß sie
einiges über die NachbarInnen hinter den Apartmenttüren zu erzählen: „Der
Mann, der hier wohnt, wird ständig verhaftet“ etwa. Oder: „Der Typ, der
hier wohnt, trinkt viel Bier.“ – „Die Frau hier denkt, sie ist mit Jesus
verheiratet!“
Die meist arbeitslose Halley dagegen kämpft jeden Tag damit, die Miete von
38 Dollar für das heruntergekommene Motelzimmer aufzutreiben. Würde der
Hausmeister oder „Gebäudemanager“ Bobby (Willem Dafoe) nicht ab und an ein
Auge zudrücken, stünde die 22-Jährige mit den erratischen Tattoos längst
auf der Straße. Also verkauft sie gemeinsam mit Moonee auf Parkplätzen
Parfümplagiate, bettelt TouristInnen an, die sich in die Gegend verlaufen,
und beschwert sich am Telefon, weil sie den neuen Tabledancejob schon
wieder los ist.
Währenddessen spielt Moonee neben ihr mit Barbiepuppen, deren Haare so bunt
sind wie die Wandfarben. Und draußen am Pool wird Bobby von einer
gealterten Anwohnerin angekeift, die ihre falschen Brüste gern unbedeckt
der Sonne aussetzen möchte, während die streunenden Kinder aus ihrem
sicheren Versteck kichernd „Bananentitten!!“ brüllen.
## Rände der Gesellschaft ausgesucht
Der 47-jährige New Yorker Regisseur Sean Baker hatte 2016 mit seinem
Independenterfolg „Tangerine L.A.“ bereits ein versatiles und anrührendes
Drama um Liebe, Verrat und Prostitution auf einen Transvestitenstrich
zwischen Los Angeles’ Santa Monica Boulevard und der Highland Ave verlegt.
Mit „Starlet“ erzählte er 2012 frei von Vor- und moralischen Urteilen von
einer sich langsam etablierenden Freundschaft zwischen einer jungen
kalifornischen Pornodarstellerin mit einer Seniorin.
Für sein aktuelles Porträt einer funktionierenden Mutter-Tochter-Beziehung
unter prekären Umständen hat er sich wiederum die Ränder der Gesellschaft
ausgesucht. Wieder bleibt er trotz einer gewissen Vorliebe für Klischees
gekonnt weit entfernt davon, seine Hauptpersonen und die Umgebungen, durch
die sie sich bewegen, auszubeuten – „The Florida Project“ ist trotz Moone…
köstlicher Quäkstimme und ihrer unbestrittenen frechen Niedlichkeit
keinesfalls ein romantisierendes Sozialdrama, das mit Kulleraugen Emotionen
zu evozieren sucht und Nutzen aus dem filmbekannten Konglomerat
„arbeitslose Alleinerziehende mit süßem Kind“ zu ziehen trachtet.
Zudem hat Baker ein weiteres Mal die filmische Ästhetik dem Inhalt und der
Persönlichkeit der ProtagonistInnen unterworfen: Nutzte er beim Dreh für
„Tangerine L.A.“ ausschließlich Handykameras mit anamorphotischen Linsen,
um dem Drama die nötige kreischende Präsenz zu geben, so lässt er sich hier
komplett auf die kindliche Wahrnehmung ein. Sein Film ist knallbonbonbunt,
weil die kindlichen Hauptpersonen, die wie eine Armada von gickernden Feen
und Kobolden durch die bittere Armut, die Süchte, die Kriminalität und die
Verzweiflung der Erwachsenen hüpfen, sie so sehen.
## Auslöser einer Kette von Ereignissen
Dabei empfinden es Moonee, ihr bester Kumpel Scooty (Christopher Rivera)
und Jancey nicht als ungerecht, dass sie – die Kündigung wie ein Menetekel
über dem Kopf schwebend – in von Bettwanzen bevölkerten Motels hausen,
während nebenan Häuser leer stehen. Irgendwann erkunden die Kinder sogar
eine der verlassenen Einfamilienresidenzen, imaginieren sich den Platz für
ein Bett, und zünden – aus fröhlicher Zerstörungswut – ein altes Kissen …
Was eine Kette von Ereignissen auslöst, an deren Ende eine Variante jenes
Dramas steht, das erwachsene ZuschauerInnen von Anfang an befürchten.
Denn Baker inszeniert seine beeindruckenden Laien- und
ProfischauspielerInnen (für Dafoe gab es eine Oscar-Nominierung als „Bester
Nebendarsteller“) in einem Aufbau, den Erwachsene und Kinder
unterschiedlich lesen. Thematisch ähnlich wie Adrian Goigingers mehrfach
preisgekröntes österreichisches Drama „Die beste aller Welten“ über einen
kleinen Jungen, der glücklich unter erwachsenen Junkies, zu denen auch
seine Mutter gehört, in Wien aufwächst, lässt Bakers Film die Situation
ebenfalls langsam eskalieren.
An Edward Bergers Film „Jack“ über einen kleinen Jungen, der im nächtlich…
Berlin seine unzuverlässige Mutter sucht, fühlt man sich genauso erinnert
wie an Ursula Meiers Drama „Winterdieb“ über einen vernachlässigten Teenie
am Rande der reichen Schweizer Skimischpoke und am Fuße der Berge. Auch
Andrea Arnolds 2016 entstandenes herausragendes US-Außenseiterporträt
„American Honey“ könnte in seiner Lebendigkeit und Authentizität Pate
gestanden haben.
## Liebevolle Humanität
Aber Bakers von liebevoller Humanität gezeichneter Film zeigt größtenteils
glückliche statt ignoranter Menschen – und hangelt sich dabei, anders als
die eindeutigen Dramen zu dem Thema, an der klassischen „Die kleinen
Strolche“- oder „Bullerbü“-Dramaturgie entlang: Die Kinder erleben
gemeinsam ein kleines Abenteuer nach dem anderen, sei es der richtige
Umgang mit dem Jugendamt oder nur ein Wettspucken vom ersten Stock des
Motelbalkons, dessen Folgen sie hernach in einer Tom-Sawyer-Szene gemeinsam
beseitigen müssen: „Ihr habt viel zu viel Spaß“, nörgelt eine der Mütter
angesichts der amüsierten Kinder, die eifrig das vollgespuckte Auto putzen,
„das hier sollte eigentlich Arbeit sein!“
Allein die erwachsenen ZuschauerInnen und ProtagonistInnen, allen voran der
großherzige Bobby, der, unbemerkt von den Kindern und ihren zugedröhnten
Eltern, auch mal einen potenziellen Kinderschänder vom Gelände jagt,
erkennen die Richtung, in die sich die Geschichte bewegt. Sie wird zu einem
Teufelskreis. Und zu einer flammenden Anklage des kaputten Sozialsystems
einer Gesellschaft, in der die Fertigsnacks einen Dollar kosten und die
Motelglotze im nie versiegenden Geplapper unerreichbare Träume sendet.
Und in der gleich neben dem überteuerten Familienparadies „Disneyworld“,
das von Baker prägnant als Sinnbild des rigiden, menschenfeindlichen
Kapitalismus von Trumps Amerika ausgesucht wurde, eine quietschbunte
Negativversion des Paradieses steht. Eine Version, deren Bevölkerungszahl
steigt.
Ganz am Ende, so viel sei verraten, ohne die zwingende Geschichte
vorwegzunehmen, erscheint einmal kurz das echte „Magic Castle“ im Bild –
Baker wird die Szene wie eine private Erinnerung mit einem Smartphone
gedreht haben. Disneys Prestigeobjekt, das auch sein weltbekanntes Logo
ziert und in jedem Filmtrailer von Feuerwerk gekrönt wird, würde sich das
auch nur sekundenlange Auftauchen in einem Nicht-Disney-Film absurd teuer
bezahlen lassen. Zu teuer für Moonee, Halley, Bobby, Scooty und Jancey. Sie
können sich ja nicht mal den Abklatsch im Kiez leisten.
14 Mar 2018
## AUTOREN
Jenni Zylka
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