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# taz.de -- J. M. Coetzee-Roman „Die Schulzeit Jesu“: Jesus? Einfach nur ei…
> Der Autor übermalt die Geschichte von Jesus: Der kommt aus einer
> Patchworkfamilie, ist stinkfaul und mag Ballett. Seltsam oder erfrischend
> anders?
Bild: Übermalt einen heiligen Text: Coetzee bei einer Lesung im Reina-Sofia-Mu…
Der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee hat sich schon in den
neunziger Jahren intensiv mit literarischen „Übermalungen“ kanonischer
Texte und Figuren der Weltliteratur beschäftigt: In „Foe“ ging es um Defoes
„Robinson Crusoe“, in „The Master of St. Petersburg“ um Fjodor Dostojew…
und seinen Roman „Die Dämonen“. Eigentlich ist schon Coetzees bis heute
berühmtestes Buch von 1980, „Waiting for the Barbarians“, eine solche
Übermalung, nämlich des gleichnamigen Gedichts von Konstantinos Kavafis,
das 1904 – wenig beachtet – auf Griechisch erschienen und seither zu einem
apokryphen Zentraltext der Moderne geworden ist.
Das Genre der Übermalung ist in der bildenden Kunst der Gegenwart häufiger
und etablierter als in der Literatur. Der Österreicher Arnulf Rainer hat es
in der zeitgenössischen Moderne verankert. Das Gattungsgesetz dieser
Kunstform ist weder die Zerstörung noch die Rekonstruktion eines schon
vorhandenen Werks – das vielmehr als eine ausradierte Vorgängerschrift oder
als bereits bemalter und dann wieder abgekratzter Grund die Basis eines
neuen abgibt. Hier und da sind der übermalte Text oder das übermalte Bild
auf bedeutsame Weise im neuen zu sehen oder zu ahnen und es steuert damit
vergessene Sinnschichten bei (die durch diese Technik neu gültig werden
oder zumindest in neuem Licht erscheinen).
Seit „Die Kindheit Jesu“ (2013) hat Coetzee mit der Übermalung eines nicht
nur kanonischen, sondern sogar heiligen Textes begonnen: der Lebens- und
Sterbensgeschichte Jesu Christi, wie sie in den Evangelien der Apostel
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes berichtet wird – und die Grundlage des
christlichen Glaubens bildet.
„What if god were one of us“, sang Joan Osborne in den neunziger Jahren,
„just a slob like one of us, just a stranger on the bus?“ Seit 325, als das
Konzil von Nicaea die Glaubensdoktrin von der göttlichen Seinsqualität Jesu
festschrieb (sie gilt bis heute), steht ein skandalöses Paradoxon im
Zentrum der christlichen Religion: die Glaubenszumutung, dass um die
Zeitenwende in Palästina ein Mann gelebt haben, am Kreuz gestorben und
auferstanden sein soll, der zugleich ganz Mensch und ganz Gott war. Die
Evangelien sind ein heiliger Text, aber auch ein literarischer. Seine
erzähltechnische Strategie besteht in der künstlerischen Glaubhaftmachung
des christologischen Paradoxons.
## Experiment des Popsongs
Die Evangelien erzählen die Lebensgeschichte eines jüdischen
Wanderpredigers im Palästina der Zeitenwende so, dass sie dessen
menschliche und zugleich göttliche Doppelnatur narrativ beweisen: seine
Menschlichkeit durch die Berichte über seinen Tod am Kreuz und seine
Göttlichkeit durch die Berichte über seine Wunder und seine Auferstehung.
John Coetzee dagegen dreht in seinen Jesusromanen, dessen zweiter, „Die
Schulzeit Jesu“, jetzt auf Deutsch vorliegt, die Erzählstrategie der
Evangelien um: Ihm kommt es nicht darauf an, einen Menschen narrativ zu
vergöttlichen, sondern darauf, einen Gott als Menschen zu erzählen.
Nicht zufällig setzt Coetzee an der Leerstelle der kanonischen Evangelien
an, die sich über die Lebenszeit Jesu vor seiner geschichtlichen
Wirksamkeit, also über die Jahre vor seinem dreißigsten Lebensjahr,
weitgehend ausschweigen. Dass die kanonischen (also die vier ins Neue
Testament aufgenommenen) Evangelien kaum über die Kindheit und Jugend Jesu
berichten, ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen ihnen und den
zahlreichen „apokryphen“ Evangelien, die den Theologen des vierten
Jahrhunderts nicht glaubwürdig vorkamen und deshalb nicht ins Neue
Testament aufgenommen wurden.
Coetzee schreibt das Gedankenexperiment des Popsongs von Joan Osborne und
Eric Bazilian romanhaft aus. Was wäre, wenn Gott in Wirklichkeit neben uns
im Bus sitzen würde? Coetzees Jesus – der im Roman allerdings Davíd heißt
– fährt tatsächlich jeden Tag mit dem Bus zur Schule, oft zusammen mit
seinem Vater, der nicht sein wirklicher Vater ist – Simón statt Joseph –,
während seine Mutter, die nicht seine wirkliche Mutter ist – Inés statt
Maria –, in einem Modegeschäft arbeitet und sich von Simón getrennt hat.
Coetzees Jesus-Romane sind ein apokryphes Evangelium nach dem Durchgang
durch die literarische Moderne.
Das Vorhaben einer Vermenschlichung des Göttlichen ist künstlerisch bedroht
durch das erzählerische Risiko der Banalität. Die Realität kann die
göttliche Substanz mit Bedeutungslosigkeit infizieren, was nur im komischen
Genre erlaubt wäre. „Look, god comes out of the bathroom“, heißt es zum
Beispiel in Woody Allens „Annie Hall“ über einen der damals zahlreichen
Sechziger-Jahre-Gurus, der im Film gezeigt wird, wie er gerade aus der
Toilette kommt.
## Unduldsam und herrisch: nicht gerade der „liebe Herr Jesus“
Coetzee umgeht dieses Risiko dadurch, dass er seine Vermenschlichung Gottes
in einem Land stattfinden lässt, dessen vordergründige
Realitätsgesättigtheit er durch kleine, aber folgenreiche Eingriffe
surrealistisch verfremdet. Schon wie die heilige Patchwork-Familie dort
eigentlich hingekommen ist, verstehen wir nicht. Es scheint eine Seereise
gegeben zu haben, auf der alle ihr Gedächtnis verloren.
Und die drei befinden sich in einer wüstenartig trockenen und heißen
spanischsprachigen Gegend, wo eine Art puritanischer Kommunismus herrscht.
Davíd ist ein rebellisches, schwer beschulbares, offenbar hochintelligentes
Problemkind, das seinen Vater, der ihn sehr liebt und unaufhörlich über ihn
nachdenkt, durch seine Kälte, seine Selbstständigkeit und seine erratischen
Reaktionen zur Verzweiflung bringt (seiner Ziehmutter scheint er dagegen
eher egal zu sein, sie lebt ihr eigenes Leben).
Hier projiziert Coetzee eine Eigenschaft des historischen Jesus, die man
bei der Lektüre der Evangelien selten beachtet, sehr plausibel in dessen
Kindheitsgeschichte. Denn der Jesus, den wir aus den Evangelien kennen, war
nicht der „liebe Herr Jesus“ unserer Kindergebete. Er war unduldsam,
herrisch, legte hoch unrealistische moralische Maßstäbe an die Gesellschaft
seiner Zeit an und neigte zu paradoxen, irritierenden und gelegentlich
gewalttätigen Interventionen und Sprachhandlungen. Die Evangelien berichten
von einer geradezu empörenden Kälte des Heilands gegen seine leiblichen
Verwandten.
Interessant ist auch Coetzees Lösung der „Schulprobleme“ Jesu. Das
Jesuskind der Evangelien sehen wir nicht in irgendeiner Schule, sondern im
Gegenteil als Lehrer, der die Schriftgelehrten der örtlichen Synagoge in
Erstaunen versetzt. Was aber müsste ein Gott, der Mensch geworden ist, in
einer Schule tatsächlich lernen? Was weiß und kann er noch nicht? Coetzee
schickt Davíd in eine „Akademie“, wo er tanzen lernt, eine Art des Tanzens,
die von den Lehren der Pythagoräer, einer Wissenschaftler- und
Theologensekte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, beeinflusst ist.
## Prostituierte & Verbrecher
In der Akademie sind die Lehren der vorsokratischen Philosophen
Pythagoras-lebendig. Einer der erzählerischen Höhepunkte ist ein Vortrag
über den sogenannten „Homo-Mensura-Satz“ des Sophisten Protagoras, nach dem
der Mensch das Maß aller Dinge sei. Auch Davíds geliebte Lehrerin, die
verführerische Ana Magdalena, ist eine Pythagoräerin. Sie glaubt an
Zahlenverhältnisse als grundlegende Baugesetze des Makrokosmos und des
Mikrokosmos, des Universums und der Seele – und an den Tanz als Ausdruck
dieser Weltgesetze.
Ana Magdalena wird ermordet – worauf sich Davíds glühende und durch ihre
Unbedingtheit irritierende Liebe ihrem Mörder zuwendet: Dmitri, der redet
wie Raskolnikow in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und heißt wie einer
der Brüder Karamasow. Auch hier ist ein erstaunlicher Zug des biblischen
Jesus in einer kindlichen Version zu erkennen.
Jesu Mission war die Erlösung, und er interessierte sich in seinem kurzen
und folgenreichen Leben ausschließlich für Menschen, die Erlösung nötig
hatten, nämlich für verachtete, hilflose, böse, feige und unterdrückte
Menschen: Prostituierte, verhasste Zolleinnehmer, Gelegenheitsarbeiter,
Fischer, Verbrecher. Reiche dagegen forderte er auf, ihr Vermögen zu
verschenken; die moralischen und religiösen Autoritäten seiner Zeit
beleidigte und bedrohte er; dem römischen Statthalter, der ihm vor seinem
Tod goldene Brücken zu bauen versucht hat, antwortete er nicht einmal, bis
der ihn achselzuckend seinen Henkern übergab.
Coetzees Roman ist von Literaturkritikern als seltsam und letztlich
unverständlich gerügt worden. Aber vielleicht zeigt das nur, dass „Das
Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“ (wie das berühmte Buch
Rudolf Bultmanns von 1949 heißt) auch heutigen Gebildeten so seltsam
vorkommt und so unverständlich geworden ist wie die christlichen Lehren
selbst.
## Zu den Klängen eines Kinderlieds lernt er tanzen
Eigentlich aber ist „Die Schulzeit Jesu“ auch ein Roman über Simón/Joseph.
Alle Ereignisse werden aus dem Blickwinkel des Adoptivvaters der heiligen
Hauptfigur erzählt, und von ihm ist durchgehend – mit einem irgendwie
alttestamentarischen Zug – als von „Er, Simón“ die Rede.
Zum Schluss tritt diese Nebenfigur nach vorne, als der erste Nachfolger
Davíds/Jesu. Nachdem er seinen heiligen Schutzbefohlenen vor einer
Volkszählung verborgen hat, tritt er in die Akademie ein, als unbezahlter
Hausmeister (wie Ana Magdalenas Mörder vor ihm), und er verlangt, dass man
ihm das Tanzen beibringe.
In einer schönen, komischen und rührenden Szene, in Ballettschuhen, die ihm
zu klein sind, die er vorne aufgeschnitten hat und aus denen seine Zehen
herausragen, lernt dieser rationale, anständige, seltsam leidenschaftslose
alte Mann zu den Klängen eines Kinderlieds tanzen. „Es ist kühl im Studio;
er ist sich des hohen Raums über seinem Kopf bewusst. Mercedes zieht sich
zurück; nur die Musik ist da. Mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen
Augen dreht er sich langsam schlurfend im Kreis. Über dem Horizont steigt
der erste Stern auf.“
31 Mar 2018
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
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