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# taz.de -- Novelle von J. M. Coetzee: Die perfekte Rose
> Seltsam antiquierte Anträge: In J. M. Coetzees neuer Novelle „Der Pole“
> knarrt das Gebäude der romantischen Liebe.
Bild: Die Kartause von Valldemossa, zeitweilige Wohnung von Frédéric Chopin u…
Lesen kann man die Novelle „Der Pole“ von J. M. Coetzee an einem einzigen
Vormittag; aber man wird danach möglicherweise viel Lebenszeit dafür
aufwenden, über sie nachzudenken.
Die Handlung (eigentlich eher: Versuchsanordnung) ist schnell erzählt:
Beatriz, Gattin eines wohlhabenden Mannes in Barcelona, knapp fünfzig Jahre
alt, lernt den siebzigjährigen polnischen Pianisten Witold nach einem
Konzert kennen.
Die erotische Kommunikation der beiden bewegt sich von Anfang an abseits
gesellschaftlich eingespielter dating rules: Witolds Werbung um Beatriz
bedient sich eines Repertoires von Wörtern und Gesten, das allenfalls in
der Epoche seines musikalischen Idols Frédéric Chopin noch zeitgemäß
gewesen wäre – hinter diesen passionierten Sprach- und Umgangsformen
zeichnen sich die Konventionen der höfischen Liebe und des
mittelalterlich-höfischen Versepos „Roman de la Rose“ ab.
Aus dessen 700 Jahre altem Bilderfundus stammt auch das Dingsymbol dieser
sehr klassisch gebauten Novelle: eine kostbar geschnitzte hölzerne
Rosenblüte aus dem Besitz Frédéric Chopins, die Witold seiner nach jenen
traditionellen Vorschriften Angebeteten in ihrem Ferienhaus auf Mallorca
(dem Ort der Liebes- oder besser: Verehrungsgeschichte zwischen dem
Komponisten und der feministischen Schriftstellerin George Sand)
zeremoniell überreicht.
## Nach allen Regeln der Ehebruchskunst
Beatriz begegnet Witolds seltsam antiquierten Anträgen absolutement
moderne: einerseits verwundert skeptisch, andererseits realistisch
handfest. Sie manövriert ihren Ehemann nach allen Regeln der Ehebruchskunst
aus, findet sich allein mit Witold im familiären Ferienhaus und lädt ihn
unverblümt ein, sie nachts zu besuchen. „‚Jetzt hast du mich also
besessen‘, sagt sie. ‚Du hast deine gnädige Dame gehabt. Bist du endlich
zufrieden?‘“ – und Witold entgegnet: „Mein Herz ist voll.“
In diesem einerseits klassischen, andererseits komischen Dialog stehen sich
am traditionellen Wende- oder Krisenpunkt der Novellenform moderne und
höfische Liebesauffassung gegenüber. Nach ein paar Tagen reist Witold ab.
Beatriz hat ihn weggeschickt. Das Nächste, was sie zwei Jahre später von
ihm empfängt, ist die Nachricht seines Todes. Ihr Vater habe ihr ein
Konvolut von Gedichten hinterlassen, sagt Witolds Tochter am Telefon.
In einer vernachlässigten Wohnung in einem hässlichen Außenbezirk der
polnischen Hauptstadt findet sich ein Karton voll literarisch nicht
besonders gelungener poetischer Versuche, deren Zitat im Prosatext noch in
der Übersetzung einer auf Wirtschaftsverträge spezialisierten Übersetzerin
die volle Wucht der poetischen Traditionen der Renaissance entfaltet:
„Der Fremde muss wissen, dass dieser Mann jahrelang gereist ist und die
Harfe in vielen Ländern gespielt hat und zu Tieren gesprochen hat. Der
Fremde muss wissen, dass dieser Mann den Tritten Homers und Dantes gefolgt
ist, in dunklen Wäldern gehaust und die weinfarbene See überquert hat. Er
fand die perfekte Rose zwischen den Beinen einer gewissen Frau und erlangte
so endgültigen Frieden. Er singt sein Lied in Warschau, der Stadt seiner
Geburt und seines Todes, und er singt es zum Preis der Frau, die ihm den
Weg gewiesen hat.“
## Posthumer Dialog
Posthum tritt Beatriz in das literarische Spiel ein: Sie schreibt dem Toten
Briefe, in denen die Paradoxien, Ungleichgewichte, Frustrationen und
Seligkeiten der traditionellen Geschlechterverhältnisse komplementär –
nämlich aus der weiblichen Perspektive – thematisiert werden. Aus diesem
Blickwinkel sehen sie plötzlich ganz anders aus:
„Du hattest das ganze knarrende philosophische Gebäude der romantischen
Liebe hinter dir, in das du mich als deine donna und Retterin eingefügt
hast. Ich hatte keine solchen Ressourcen, abgesehen von dem, was ich als
rettende skeptische Haltung zu Gedankengebäuden betrachte, die lebende
Wesen zerstören und vernichten.“
Der letzte Satz der Novelle lautet: „PS: Ich werde wieder schreiben.“ So
endet das Buch mit dem utopischen Ausblick auf eine erotische Kultur, die
jenseits des klassischen Modells gleichberechtigter wäre, als seit sieben
Jahrhunderten denkbar gewesen ist.
„Der Pole“ ist, [1][wie überhaupt die letzten Bücher Coetzees,] zuerst in
spanischer Übersetzung erschienen, eine Reverenz des englischsprachigen
Schriftstellers gegenüber der Literatursprache des Südens, die Coetzee,
seit einigen Jahren Inhaber einer Professur für „Literaturen des Südens“ …
der Universidad Nacional San Martín in Buenos Aires, als professioneller
Literaturwissenschaftler (der er neben seiner Schriftstellerkarriere
lebenslang eben auch war) lehrt und erforscht. In der Sprache der
weltliterarischen Gatekeeper in London und New York wird seine Novelle erst
später erscheinen.
Es ist kein Zufall, dass das Personal seines modernen Experiments mit der
petrarkisch-dantesken Tradition polnisch und spanisch denkt, spricht und
schreibt, in Sprachen ehemaliger Kolonien. Seine Novelle ist eine
Versuchsanordnung mit der Liebe in postkolonialen Zeiten: einer Epoche, die
Machtverhältnisse nicht nur zwischen Gesellschaften und Kulturen, sondern
auch zwischen den Geschlechtern neu – und vielleicht gerechter –
aushandelt.
27 Jul 2023
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## AUTOREN
Stephan Wackwitz
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