# taz.de -- Filmfestival in Locarno: Der Onkel, von dem ich nichts wusste | |
> Auch in diesem Jahr dominiert der junge Film den Wettbewerb der Schweizer | |
> Filmschau. Dabei wagt er sich weit in die Bereiche des Experimentellen | |
> vor. | |
Bild: Großes Kino unter freiem Himmel: Filmfestival in Locarno. | |
LOCARNO taz | Die große Attraktion des Filmfestivals von Locarno ist seine | |
Freiluftbühne auf der Piazza Grande. Hier findet jener Teil der | |
Veranstaltung statt, der die Geldflüsse reguliert. Deshalb kommen | |
neuerdings auch immer mehr Sponsoren auf die Bühne, wenn es einen Star zu | |
ehren gilt. Und Preise gibt es in diesem Jahr (noch vor den | |
Juryentscheidungen am Samstag) inflationär viele: Alain Delon, Ornella | |
Muti, Harry Belafonte, sogar der notorisch scheue Filmemacher Leos Carax | |
(„Holy Motors“) ist mit Kylie Minogue gekommen, um sich eine Trophäe | |
abzuholen. | |
Anders verhält sich die Situation beim Wettbewerb des Festivals, der | |
traditionell einem jungen Kino gewidmet ist. Der Franzose Olivier Père, der | |
Locarno im dritten Jahr führt, hat in der Zusammenstellung eine sichere | |
Hand für eigensinnige, persönliche Filme bewiesen. | |
Viele stammen dieses Jahr aus den USA – etwa „Starlet“: Der New Yorker Se… | |
Baker erzählt in erstaunlich sicherem Tonfall von einer unkonventionellen | |
Annäherung zwischen zwei Frauen, die gleich mehrere Generationen trennen. | |
Dree Hemingway spielt die 21-jährige Jane, die im sonnendurchfluteten San | |
Fernando Valley selbstvergessen durch den Tag driftet, bis sie auf die | |
viermal so alte Sadie (Beredka Johnson) trifft, die sehr zurückgezogen | |
lebt. | |
Aus einem Schuldgefühl heraus – Jane hat eine Thermosflasche von ihr | |
gekauft, darin Geld gefunden, ihr aber nichts davon gesagt – bietet sie ihr | |
Botendienste an. Und zwar so hartnäckig, dass die unwirsche Sadie | |
schließlich einwilligt. Was schnell in eine Wohlfühlkomödie kippen könnte, | |
wird in Bakers behutsamer Regie der Zwischentöne zum stimmigen Porträt | |
zweier auf sich allein gestellter Frauen. Kontraste werden nicht für | |
schnelle Pointen ausgebeutet, sie ergeben sich einfach aus den jeweiligen | |
Lebenswelten, erzählen von Orten und deren Anforderungen: egal, ob es der | |
herrlich verlotterte Bingo-Club Sadies oder die langen Arbeitseinheiten bei | |
einer Pornofilm-Messe sind. | |
Auch im österreichischen Film „Der Glanz des Tages“ steht ein | |
ungewöhnliches Duo im Mittelpunkt: Der Schauspieler Philipp Hochmair | |
bekommt Besuch von einem Onkel, von dem er bislang nichts wusste. | |
Bühnenerfahrung hat dieser Walter Saabel, ein grauhaariger | |
Schnauzbartträger, auch. Als Bärenkämpfer und Messerwerfer hat er früher | |
beim Zirkus gearbeitet. Es liegt wohl an dieser Gemeinsamkeit, dass die | |
beiden schnell ein zwangloses Miteinander finden. Philipp, der die | |
Kunstglatze für seinen Woyzeck-Part am Hamburger Thalia-Theater anfangs | |
auch privat trägt, scheint ohnehin ein recht einzelgängerisches Dasein zu | |
führen. | |
## Zwischen Fiktion und Doku | |
Wo die Kunstfigur beginnt und der real existierende Mensch aufhört, das ist | |
im Film von Tizza Covi und Rainer Frimmel („La Pivellina“) in Wirklichkeit | |
jedoch nie klar. In bester österreichischer Tradition bewegen sich sich | |
zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Hochmair ist tatsächlich ein gefragter | |
Bühnenschauspieler und verkörpert sich hier gewissermaßen selbst: ein | |
Selbstporträt als obsessiver Theatermensch, für den seine Rollen das wahre | |
Leben sind. | |
Der von Covi und Frimmel fein gewobene Film kreist aber auch in einem | |
grundsätzlicheren Sinn um Identität, Freiheit und die Möglichkeit, sich | |
selbst zu entwerfen. So bildet der bodenständige Walter, die eigentliche | |
Hauptfigur, einen Gegenpol zum Schauspieler, der bis zu acht Figuren auf | |
einmal in sich herumträgt. Der alte Tierbändiger will sich nach Jahrzehnten | |
mit seinem Bruder versöhnen, findet dann aber als Dauergast seines Neffen | |
in dessen unmittelbaren Nachbarschaft neue Aufgaben. | |
## Es werden auch Experimente gemacht | |
Die Stärke von „Der Glanz des Tages“ liegt wie schon bei früheren Filmen | |
des Regiepaares in einer genauen Beobachtungsgabe und einer Liebe zu | |
marginalen Figuren und Schauplätzen. Wien erscheint hier als Sammelsurium | |
lebensnaher Existenzen, eine Bühne, die in Kontrast zu jenen steht, auf | |
denen Hochmair reüssiert. | |
Wie weit man sich im Wettbewerb in Richtung experimentelle Formate bewegt, | |
beweist „The last Time I Saw Macau“ („A ultima vez que vi Macau“) von d… | |
beiden Portugiesen João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata. Der | |
Film erscheint fast wie eine Hommage an den gerade verstorbenen | |
Film-Essayisten Chris Marker. Einen Mann ereilt aus Macao der Hilferuf | |
seiner ehemaligen Geliebten Candy, eines Transvestiten, der in eine | |
mysteriöse Mordserie verstrickt ist. Einmal angekommen, gelangt der | |
„Retter“ jedoch immer zu spät zu den Treffen. Der Lauf der Dinge ist nicht | |
zu verändern. | |
Rodrigues und da Mata belassen diese Noir-Erzählung im Off der Bilder. Im | |
Grunde ist sie nur der Vorwand für ein Porträt der südostasiatischen Stadt, | |
die, ehemals portugiesische Kolonie, an China zurückgefallen ist. Die | |
nebelverhangenen Bilder der neonbeleuchteten Metropole vermag der Erzähler | |
mit seinen Erinnerungen nicht in Deckung zu bringen: Die Stadt wird zum | |
Sinnbild eines unwiderruflichen Verlusts – ein typischer Fall von saudade, | |
der portugiesischen Spielart der Nostalgie. | |
9 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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Filmrezension | |
Los Angeles | |
Filmfestival | |
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