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# taz.de -- Magisches Kino: Der Geier sieht dich
> Die Verwunderungsmaschine in vollem Gange: In seinem Film „Der
> Ornithologe“ verknüpft João Pedro Rodrigues heilige und erotische Bilder.
Bild: Zwischen den Felsenschluchten im Norden Portugals wird es unheimlich
Als der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues im Jahr 2000 sein
Spielfilmdebüt „O Fantasma“ präsentierte, konnte man sich in schöner
Verwunderung die Augen reiben. Die Geschichte des jungen und attraktiven
Mannes Sergio, der in Lissabon nachts für die städtische Stadtreinigung den
Müll aus den Straßen holte, war zwar auf den ersten Blick geradlinig
erzählt, beschrieb aber die langsame Transformation eines Mannes, dessen
menschliche und sexuelle Identität nicht greifbar oder zuordenbar schien.
Seine Begierde richtete sich zusehends auf Objekte, das Nicht-Menschliche,
den Müll und die Stadt. Ein Phantom im schwarzen Latexanzug, das Sergio wie
ein böser Geist heimsuchte, schien zum Ende von ihm Besitz zu ergreifen. So
war der junge Mann schließlich selbst im schwarzen Kostüm auf dem Weg in
ein urbanes Niemandsland, dessen Dreck ihn transformiert zu haben schien.
Wenn die zwei in vielerlei Hinsicht unglaublichen Filmstunden von „Der
Ornithologe“, dem neuesten Film von João Pedro Rodrigues, vorbei sind,
scheint die schöne Verwunderung, aber auch die Irritation, die sich
einstellen mag, hier um ein Hundertfaches potenziert. Es braucht einige
Zeit, um zu rekapitulieren, wie und wann die wundersame Transformation
seiner neuen Hauptfigur Fernando eigentlich seinen Anfang genommen hat.
## Zeit der Beobachtung
Auch hier haben wir es mit einem jungen, schönen Mann zu tun, dessen
Isolation aber nicht wie in „O Fantasma“ aus einem inneren Rückzug in einer
Metropole rührt, sondern in der Einsamkeit der Natur und des Berufs des
Mannes begründet liegt.
Zwischen den Felsenschluchten im Norden Portugals beobachtet Fernando (Paul
Hamy) in seinem Kajak auf dem Fluss Douro die heimische Vogelwelt. Die
Szene ist pittoresk, und Rodrigues lässt sich zunächst viel Zeit mit
Beobachtungen. Immer wieder gucken wir mit Fernando durch das Fernglas und
lassen unseren Blick dem Flug der Gänsegeier und Steinadler folgen.
Dass das Kameraauge dabei immer wieder auf zwei Gucklöcher beschränkt ist,
scheint zuerst wie eine altmodische filmische Entscheidung, durch die das
Publikum die Perspektive der Hauptfigur einnehmen soll, erweist sich im
Laufe des Films aber als eine von zahlreichen hübschen Reminiszenzen auf
die frühe Filmgeschichte und deren Vorläufer. So sollen später Körper und
geisterhafte Figuren immer wieder ihre Schatten auf Felsleinwände werfen,
und Zeltplanen werden zu Projektionsflächen von Formen und Fantasien.
Manche Teile des magischen Waldes, in den es Fernando anschließend
verschlägt, sind durch aufwändige Lichtsetzungen bewusst so artifiziell
inszeniert, als befände man sich vor gemaltem Hintergrund in einem
Studioset des alten Hollywood.
## Zwei dämonische Pilgerinnen
Der Einstieg in den Film scheint erst mal nicht verwunderlich, doch fällt
auf, dass nicht nur Fernando die Vögel zu beobachten scheint, sondern diese
aus ihrer Vogelperspektive auch ihn. Die Kamera zeigt den Ornithologen
immer wieder in seiner Einsamkeit, aber auch in einem unheimlichen Umfeld,
aus dem noch unerwartete Kreaturen schlüpfen sollen.
Mit dem immer schlechter werdenden Empfang des Handys, mit dem Fernando
noch Kontakt zu seinem Freund hatte, reißt bald auch jeglicher Kontakt zur
Außenwelt völlig ab. Sein Boot kentert, Fernando verliert das Bewusstsein
und wird von zwei jungen chinesischen Pilgerinnen gefunden, die auf dem Weg
nach Santiago de Compostela vom rechten Weg abgekommen sind – gute
Christinnen, die sich als dämonische Rächerinnen entpuppen sollen. Die
Verwunderungsmaschine ist bereits in vollem Gange.
Die Form des Films ändert sich hier zum ersten Mal merklich, als die
Bewegtbilder des Films einer Fotoserie weichen, die den bisherigen Weg der
beiden Frauen, Fei und Ling, dokumentieren. Es sind Schnappschüsse und
nicht eben meisterliche Fotografien, aber sie sind ein erster Hinweis auf
die zahlreichen Brüche, die im Film folgen sollen, ebenso wie die
zahlreichen christlichen Zitationen und Anspielungen hier beginnen, die in
einer Art Wiedergeburt des Schöpfers, in diesem Fall des Regisseurs João
Pedro Rodrigues selbst, kulminieren sollen.
## Das Mysterium bleibt
Rodrigues studierte ursprünglich Biologie an der Universität Lissabon mit
dem Wunsch, Ornithologe zu werden, bevor er seine Pläne verwarf, um sich
dem Filmstudium zu widmen. Dass das queere Kino, das er zusammen mit seinem
Partner Guerra da Mata in zahlreichen Spiel-, Dokumentar- und
Experimentalfilmen seitdem entwarf, immer auch persönliche Komponenten
enthalten hat, erklärt sich aus vielen der Werke selbst.
Bei „Der Ornithologe“ gibt er nun den Schlüssel zu dieser Lesart deutlicher
mit, was nicht bedeuten soll, dass die schöne Irritation über den surrealen
und oft absurd-komischen Kosmos des Films durch Erklärungen zerstört werden
sollte. Deutliche Hinweise auf das Religiöse oder das Autobiografische und
dessen Vermischung bieten quasi die Grundtextur eines Films, dessen
Mysterium bis zum überraschenden Ende intakt bleibt.
Der heilige Antonius, beziehungsweise der später heilig gesprochene
portugiesische Theologe Antonius von Padua aus dem 12. Jahrhundert, stand
laut Rodrigues Pate für die Figur des Fernando. Doch lassen sich aus vielen
Bildern des Films auch andere kunst- und filmgeschichtliche Fährten
aufnehmen, von denen eine sicherlich zum 1994 an Aids gestorbenen
britischen Filmkünstler Derek Jarman führt.
Jarman hatte sich schon früh in seinen Filmen einer queeren Lesart
historischer, kunsthistorischer und religiöser Figuren verschrieben, indem
er sich zum Beispiel dem Leben und Werk des italienischen Malers Caravaggio
annahm und dessen Kunst mit seinem homosexuellen Begehren deutlich in
Verbindung brachte.
## Der heilige Sebastian
Nicht nur, dass Rodrigues in vielen Einstellungen Caravaggios als
Chiaroscuro bekannte Hell-Dunkel-Malerei in seiner Lichtsetzung zu
imitieren scheint, seine Figur Fernando erscheint auch immer wieder in
Posen, die wir aus Caravaggios Gemälden oder aber Derek Jarmans Filmen zu
kennen meinen. Wie der heilige Sebastian findet sich Fernando plötzlich
gefesselt zwischen zwei Bäumen wieder, dem taubstummen Jüngling mit dem
Namen Jesus legt er seinen Finger in die Wunde wie der ungläubige Thomas.
Als eine Gruppe maskierter und kostümierter Geistertänzer unvermittelt in
einer rituellen Schlachtung den Kopf eines Wildschweins in die Höhe hält,
sind die Medusa oder Judith und Holofernes nicht weit.
Doch aus dem Dickicht des Wundersamen lassen sich immer wieder auch
filmische Zweige ziehen, die zur perversen Sexualität des Sergio aus „O
Fantasma“ zurückführen.
## Das Messer
Der Verweis auf HIV durch die Pillen, die Fernando seit Beginn schlucken
muss, die verschiedensten Formen von lustvoller Penetration von Wunden, ein
Regen aus Urin, den die Hauptfigur plötzlich zu genießen scheint, und ein
schwuler Liebesakt, der mit dem Eindringen des Messers in den Körper des
Jüngling endet – all das sind erotische Momente, die sich nicht mehr mit
identitären Begriffen wie „schwul“ begreifen lassen. Und genau in diesen
betörenden und verstörenden, merkwürdigen und wundersamen Momenten der
Inszenierung liegt das Aufregende und das Schöne dieses Films.
13 Jul 2017
## AUTOREN
Toby Ashraf
## TAGS
DVD
Schwerpunkt Berlinale
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João Pedro Rodrigues' großartig perverses Filmdebüt "O Fantasma" erzählt
von Sex zwischen Müllbergen, Mensch und Hund und einem Latexkostüm.
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