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# taz.de -- Das war das Filmfestival Locarno: Fischköpfe und Kunstbefragung
> Brachiale Dokumentarfilme, couragierte Debütanten, Außenseiter: Beim
> Festival in Locarno sieht und liebt man sie alle. Ein Highlight ist ein
> Film über den Atlantikfischer.
Bild: Waghalsigen Perspektiven: Die Fischereidokumentation „Leviathan“.
Eingeklemmt zwischen Cannes und Venedig, hat das Filmfestival von Locarno
eigentlich nur eine Chance: seine Konkurrenten mit Mut zu größerer Vielfalt
zu überbieten. Tatsächlich hatte man dieses Jahr den Eindruck eines breiten
Angebots zwischen Cinephilie, Arthouse und neueren Formaten;
Festivaldirektor Olivier Père vermochte seine Idee eines
abwechslungsreichen Wettbewerbs, der sich über ökonomische Gebote
weitgehend hinwegsetzt, konsequent verwirklichen.
Auf welchem anderen Festival würde man beispielsweise „Leviathan“ in der
Konkurrenz finden, einen Film, der sich zwischen viszeralem
Experimentalfilm, brachialem Dokumentarismus und mythischen Assoziationen
bewegt? Und der dabei das, was man bisher über Fischfang zu sehen bekommen
hat, mit einer wilden Geste einfach auslöscht?
Die beiden Anthropologen und Filmemacher Verena Paravel und Lucien
Castaing-Taylor haben für „Leviathan“ sechs Wochen auf einem Fischkutter
auf dem Atlantik verbracht. Eine Reihe von waghalsigen Perspektiven, die
den Zuschauer unvermittelt mit ungeschönten Bildern konfrontieren,
charakterisiert diesen Film. Die Kameras hängen gleich Bojen im Meer und
zeichnen die Blutfontänen auf, die aus dem Schiff spritzen. An Bord
dominiert körperliche Schwerstarbeit – ein Schlachten, das an Georges
Franjus legendären „Le sang des bêtes“ (1949) denken lässt.
Von den prall gefüllten Netzen bleiben nur die abgetrennten Fischköpfe
zurück, die wie empörte Zeugen eines Massakers übers Deck rutschen.
„Leviathan“ ist ein Monster von einem Film, der einen neuen Erfahrungsraum
öffnet.
Doch auch innerhalb vertrauterer Parameter gab es dieses Jahr in Locarno
viel Interessantes: Der US-Amerikaner Jem Cohen, ein aufrichtig
unabhängiger Filmemacher, hat mit „Museum Hours“ einen Wien-Film gedreht:
Es geht um das weltberühmte Kunsthistorische Museum der Donaustadt, einige
seiner zentralen Werke sowie darum, wie man institutionalisierte Kunst mit
zeitgenössischen Bildern in Beziehung setzen kann. Als Klammer dient die
Begegnung einer Kanadierin (Singer-Songwriterin Mary Margaret O’Hara) mit
einem Wiener Museumswärter (Bobby Sommer) – ein entspanntes Paar, dessen
(auch gedankliches) Flanieren man gern begleitet.
Cohens Film ist ebenso Kunstbefragung – eine zentrale Passage widmet sich
Pieter Bruegel – wie der Form nach selbst Collage von flüchtigen Bildern
und Fundstücken. Es ist schön, dass man im Tessin solchen Filmen ein
größeres Forum gewährt – und dies vom Publikum mitgetragen wird. Man muss
hier auch den Mexikaner Nicolás Pereda nennen, der mit „Los mejores temas“
(„Greatest Hits“) eine hintergründige Komödie um eine Familie gedreht hat,
die Besuch vom lang verschollenen Vater erhält: eine unmögliche Situation,
der Pereda mit verzögerter Komik abgründige Ambivalenz abgewinnt.
Auch Jean-Claude Brisseau, ein großer Außenseiter des französischen Kinos,
der überraschend den Goldenen Leoparden gewann, fällt in diese Kategorie.
In „La fille de nulle part“ variiert der bald 72-jährige Regisseur seine
bevorzugten Themen wie Glaube, Verführung und Überschreitung auf dem engen
Raum der eigenen Wohnung.
Darüber hinaus blieb Locarno dem Ruf des Festivals verpflichtet, gut für
Entdeckungen zu sein. Zwei Regiepreise gingen an Debüts. Der Chinese Liang
Ying beschäftigt sich in seinem couragierten Filmdrama „When Night Falls“
mit dem Fall von Yang Jia, einem jungen Mann, der 2008 sechs Polizisten
ermordet hat, nachdem er wegen eines nicht registrierten Fahrrads von
diesen offenbar misshandelt worden war. Liang Ying verlegt die Perspektive
auf die Mutter des Täters. In starren Aufnahmen begleitet man sie zu
Anhörungen und ist bei ganz profanen Verrichtungen des Alltags dabei:
Schikanen versteht dieser Film, der nichts vom fröhlich-kapitalistischen
China der Gegenwart hat, in einem sehr praktischen Sinn.
„Ape“ von dem US-Amerikaner Joel Potrykus, der in der Reihe „Cineasti del
presente“ prämiert wurde, ist hingegen eine räudige Punk-Komödie um einen
erfolglosen Stand-up-Comedian, der seine Zuhörer nur selten zum Lachen
bringt. Die losen Begegnungen des Helden formen sich hier zu einer Abfolge
kleiner Beschämungen und Verlegenheiten. Den daraus resultierenden Druck
lässt der junge Mann in pyromanischen Einlagen aus. Potrykus gelingt mit
seinem sehr persönlichen Debüt auch eine wunderbare
Selbstermächtigungsfantasie, bei der sogar der Teufel im Spiel ist.
12 Aug 2012
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
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