# taz.de -- Film über Hochseefischer: Erfasst vom nächsten Wellengang | |
> Ein Jahr verbrachten die Regisseure Castaing-Taylor und Paravel bei den | |
> Fischern vor Neuenglands Küste. Daraus wurde ihr Film „Leviathan“. | |
Bild: Manchmal wirft eine der Kameras einen Blick in den nachtschwarzen Himmel,… | |
Ein mythisch aufgeladener Titel und als Vorspann ein Bibelzitat aus dem | |
Buch Hiob. Dennoch gehen die Bilder und Töne des Films „Leviathan“ zunäch… | |
einen ganz anderen Weg. Mit robusten kleinen Digitalkameras haben die | |
Anthropologen und Dokumentarfilmer Lucien Castaing-Taylor und Vérèna | |
Paravel für ein Jahr Fischerboote vor der rauen Küste Neuenglands | |
begleitet. In „Leviathan“ treffen zwei Gewalten aufeinander, eine | |
unberechenbare Natur und eine Industrie, die die Weltmeere leer fischt. | |
Doch geht es dem Regieduo gerade nicht darum, diese Mächte gegeneinander | |
auszuspielen, vielmehr wollen die beiden ihre Beobachtungen, Eindrücke, | |
ihren Trip als physische Erfahrung weitergeben. Konsequent verzichten sie | |
deshalb auf Einstellungen, die dem Zuschauer einen Überblick geben. Sie | |
entmythologisieren. Oder einfacher gesagt: das Meer darf einfach nur Meer | |
sein, der Wind nur Wind und die Welle nur Welle. | |
Pechschwarz ist die Leinwand zu Beginn, nur die stürmisch gegen den | |
Schiffsrumpf schlagenden Wellen lassen erahnen, dass man sich auf dem | |
offenen Meer befindet. Wie die Männer an Bord muss man sich an die | |
Dunkelheit gewöhnen, folgt dann ihren routinierten Handgriffen, ihrem | |
präzisen Zusammenspiel beim Einholen von Leinen, Anker und Netz, ihrem | |
Kampf gegen Gischt und Wind. | |
## Fischherzen und andere Abfälle | |
Später sieht man sie in einer anderen langen Einstellung das Fanggut | |
filetieren, Rotbarben, Makrelen, Krebse, Berge von Jakobsmuscheln werden in | |
vorbereitete Eistonnen geworfen. Klopfende Fischherzen, Gräten, Schalen, | |
Blut und andere Abfälle werden wiederum durch eine Klappe ins Meer gespült. | |
Eine Möwe hat sich hierhin verirrt, mit ihren goßen Füßen hält sie nur | |
mühsam die Balance, rutscht immer wieder aus, dennoch pickt sie gierig nach | |
abgeschnittenen Flossen und Fischschwänzen. | |
Manchmal wirft eine der Kameras auch einen Blick in den nachtschwarzen | |
Himmel, auf einen Schwarm Möwen, der das Boot stets begleitet. Weiße Punkte | |
vor einem ewig dunkel erscheinenden Hintergrund – ein fast schon abstraktes | |
Bild. | |
Allmählich gewöhnt man sich an das Schaukeln, atmet gemeinsam mit den | |
Fischern durch, wenn sich der Wellengang etwas beruhigt, nimmt zu | |
aufgewärmten Konserven und wabbeligem Weißbrot Platz in der kargen | |
Schiffskombüse und geniesst die Pause. Minutenlang begegnet man dem Blick | |
eines der Männer, bis man versteht, dass er auf einen Bildschirm schaut. | |
Das permanente Dröhnen der Schiffsmotoren verschluckt unter Deck alle | |
anderen Geräusche. Ohnehin wird an Bord kaum gesprochen. | |
## Die Jagdgründe von Kapitän Ahab | |
Hat man sich einmal an den Rhythmus des Fischeralltags gewöhnz, fängt man | |
langsam an, das titelgebende biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan | |
aus den Wogen auferstehen zu lassen. Andere Assoziationen schließen sich | |
an. Ist es Zufall oder Absicht, dass Lucien Castaing-Taylor und Vérèna | |
Paravel die Küste Neuenglands gewählt haben? | |
Hier machte Hermann Melvilles legendärer Kaptäin Ahab Jagd auf den weißen | |
Wal, im Kino gespielt von einem grimmigen Gregory Peck. Auch Melville Roman | |
ist gespickt mit Bibelzitaten und schildert die Fischerei als existenziell | |
mit den Elementen verbundenes Handwerk, mit allen komplizierten und | |
beschwerlichen Details. Für den hinkenden besessenen Kapitän, für den | |
archaischen Kampf zwischen Mann und Tier wäre an Bord moderner Schiffskähne | |
in „Leviathan“ kein Platz. | |
„Keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“ – mit diesem | |
ebenfalls aus dem alttestamentarischen Buch Hiob stammenden Bibelzitat | |
beginnt Thomas Hobbes 1651 entstandene Schrift „Leviathan“, in der das | |
Ungeheuer die absolutistische Macht des Staates ist, gegen den sich der | |
einzelne nicht widersetzen kann geschweige denn sollte. | |
## Die Domestizierug der Natur | |
Eine andere Assoziation ist: Die ewige Domestizierung der Natur durch den | |
Menschen. Vielleicht wurde der Filmtitel gewählt, um auf die die Urmacht | |
des Meeres zu verweisen, das in der Moderne nur noch als Fischlieferant und | |
touristische Plantschbrühe zu dienen hat. Doch irgendwann wird man vom | |
nächsten Brecher erfasst, von einem weiteren mächtigen Wellengang, verliert | |
das Gefühl von oben und unten. | |
Die Möwen steigen auf, die Netze werden wieder ausgeworfen, nach kurzen | |
Schlaf kommen die Männer wieder auf das nachtschwarze Deck. Endlos blickt | |
die Kamera auf das aufgewühlte Meer. Die ewige Tiefe als Bedrohung und | |
Verlockung. Die Gischt spritzt. Frei nach Franz Kafka lässt sich nur sagen: | |
Im Kino auf hoher See gewesen! | |
„Leviathan“, R: Lucien Castaing-Taylor, Verna Paravel; | |
USA/Großbritannien/Frankreich; 87 Minuten | |
22 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
## TAGS | |
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