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# taz.de -- Filmfestival von Locarno: Casanova in den Karpaten
> Das Festival von Locarno hat einen neuen Leiter, Carlo Chatrian. An der
> Offenheit für Filme experimentelleren Zuschnitts hat sich nichts
> geändert.
Bild: Viel mehr als eine Antwort auf das eigene Martyrium. Szene aus dem Essayf…
Kein anderes der größeren europäischen Filmfestivals hat im letzten
Jahrzehnt so viele Direktorenwechsel erlebt wie Locarno. Anderswo wäre dies
ein untrügliches Zeichen für eine Krise. Im Tessin scheint mit dem neuen
Festivalleiter Carlo Chatrian alles beim Alten geblieben zu sein: Wie sein
Vorgänger Olivier Père setzt der Italiener auf eine ausgewogene Mischung
aus populärem Kino, Filmautoren mit persönlicher Handschrift und
Nachwuchstalenten.
Die Auswahl in dem rund 7.000 Besucher umfassenden Open-Air-Kino auf der
Piazza Grande fiel in diesem Jahr vielleicht ein wenig zu harmonisch aus.
Aber immerhin lief dort Jean-Stéphane Brons Dokumentarfilm „L’experience
Blocher“, in dem sich der Westschweizer Regisseur mit Christoph Blocher,
dem Schweizer Milliardär und Erneuerer der SVP, der Schweizerischen
Volkspartei, befasst. Brons distanzierte, durchaus von Respekt getragene
Annäherung an den Rechtspopulisten ist von einer entscheidenden Idee
geprägt: Er folgt dem Politiker – anders als es ein Vertreter des cinema
vérité wohl noch getan hätte – auf kaum eine Bühne, sondern beschränkt s…
weithin auf das Innere einer Limousine.
In dieser Blackbox, die an David Cronenbergs „Cosmopolis“ erinnert, kurvt
der Politiker auf Wahlkampftour durch die Schweiz. Interviews finden nur am
Rande statt – Bron sieht einem Mann zu, der seinen Kurs wie ein
Schachspieler ständig nachjustiert. Natürlich holt er auch die Laufbahn des
Politikers ein. Er weiß aber auch, dass diese Erfolgsgeschichte den
Volkstribun nicht hinreichend erklärt. In Off-Kommentaren beginnt Bron
selbst Lücken zu füllen. Das Ende ist wie aus Orson Welles’ „Citizen Kane…
Blochers „Rosebud“ ist ein kleines, umzäuntes Friedhofsgärtchen nahe dem
Haus, in dem er aufgewachsen ist. Ein Bild, banal und vielsagend zugleich.
## Ein gepuderter Fresssack
Im Wettbewerb erweist sich Locarno weiterhin erstaunlich offen für
vielfältige filmische Herangehensweisen, nicht selten an der Schwelle zum
Experimentellen. Die ungewöhnlich kargen Filme des Katalanen Albert Serra
liefen etwa bisher in der Quinzaine des Réalisateurs von Cannes. In
„Historia de la meva mort“ („Story of my Death“) führt der
Regie-Eigenbrötler nun zwei schillernde Figuren der Kulturgeschichte
nonchalant zusammen, um vom Übergang zweier Epochen zu erzählen: Casanova
und Dracula.
Der gealterte Libertin ist kein Verführer mehr, sondern ein gepuderter
Fresssack, der mit seiner Verdauung kämpft. Bei einem Besuch in den
Karpaten verliert sich Casanovas Anziehungskraft endgültig im Ungefähren –
ein gebrechlicher Dracula, der für die dunklen Kräfte des Romantizismus
steht, übernimmt das Regiment. Ästhetisch kehrt Serra mit diesem Film zu
seinen Anfängen zurück. In gering auflösenden Digitalbildern kombiniert er
Improvisationen von Amateuren allerdings erstmals auch mit geschriebenen
Dialogen – eine arme Ästhetik, die dem engen Regelwerk des Historienfilms
überraschende, sinnliche Freiheiten abgewinnt.
Auf einer weitaus existenzielleren Ebene beeindruckt Joaquim Pintos „E
agora? Lembra-me“ („What Now? Remind Me“): Der portugiesische Regisseur
geht in seinem sehr persönlichen Essayfilm zunächst von der eigenen
Krankengeschichte aus. Er ist HIV-positiv und leidet an Hepatitis C –
deshalb muss er sich einer Behandlung unterziehen, die ihm körperlich
zusetzt und sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt.
## Ausgelassen beim Aufforsten
Sein Film ist aber viel mehr als eine beharrliche Antwort auf das eigene
Martyrium. Einerseits erweitert er das Private auf größere
gesellschaftliche Zusammenhänge. Anderseits wird der Film Apologie des
Lebens durch Liebe und (Film-) Kunst: Pinto, der mit seinem Mann Nuno
Leonel und ihren Hunden einen Garten aufforstet und zu fröhlicher
Ausgelassenheit findet; oder Pinto, der von seinen Begegnungen mit Werner
Schroeter, João César Monteiro oder Raul Ruiz erzählt und damit auch ein
Stück Filmgeschichte ans Licht holt.
Um ein Künstlerehepaar geht es auch in Joanna Hoggs „Exhibition“, im Film
kurz und bündig D. (die Singer-Songwriterin Viv Albertine) und H. (Maler
und Konzeptkünstler Liam Gillick) genannt. Ihre Beziehung wird zuallererst
über den Raum definiert, den sie bewohnen: ein Londoner Designerhaus von
James Melvin, mit jalousienbesetzten Glasfenstern, durch Wendeltreppe
verbundene Etagen und mysteriöser Geräuschkulisse.
Hogg inszeniert Körper, aus denen erst allmählich Figuren mit erkennbaren
Anliegen hervorgehen. Die Offenheit des Gebäudes scheint dem Paar eher
geschadet zu haben. Jeder nimmt separate Räume und Etagen ein, kommuniziert
wird häufiger über Telefon als von Angesicht zu Angesicht. Hogg hat schon
in Filmen wie „Achipelago“ ihr Talent gezeigt, präzise-analytisch ein
Unbehagen an sich und anderen zu erforschen. In „Exhibition“ erweitert sie
dies nun zu einer filmischen Versuchsanordnung, in der Innen und Außen
ununterscheidbar werden.
14 Aug 2013
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
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