# taz.de -- Spielfilm „The Souvenir“ im Kino: Wahrer geht es nicht | |
> Der Spielfilm „The Souvenir“ fragt auf unangestrengte Weise nach der | |
> Wirklichkeit von Erinnerung. Fiktion und Realität treten darin in einen | |
> Dialog. | |
Bild: Stilvoll gelangweilt: Anthony (Tom Burke) und Julie (Honor Swinton Byrne)… | |
Erinnerung ist ein dehnbares Material. Wie man sich an die eigene | |
Vergangenheit erinnert, welche Momente, Ereignisse oder Personen im | |
Gedächtnis hängen bleiben, ist eine sehr persönliche Sache. In diesem | |
immateriellen Kosmos der Erinnerung und deren Interpretationen bewegt sich | |
[1][Joanna Hoggs] Film „The Souvenir“, und er tut es mit einer wunderbar | |
unangestrengten Tiefe. | |
Honor Swinton Byrne, die Tochter der schottischen [2][Schauspielerin Tilda | |
Swinton], spielt darin Julie, eine junge englische Filmstudentin aus | |
reichen Verhältnissen auf der Suche nach ihrer künstlerischen Stimme und | |
ihrem Platz in der Gesellschaft. Keine so einfache Aufgabe. Es sind die | |
frühen achtziger Jahre. Ihr Filmprojekt soll die Geschichte eines Jungen | |
und seiner Mutter in der einst florierenden Hafenstadt Sunderland erzählen, | |
einer Stadt im Nordosten Englands, die heute noch ein Symbol für den | |
wirtschaftlichen Zusammenbruch zu Beginn der Thatcher-Ära ist. | |
Die ersten Bilder, die Hogg für „The Souvenir“ gewählt hat, sind | |
dokumentarische Super 8-Momentaufnahmen von Sunderlands Tristesse in | |
Schwarz-Weiß. Der Zuschauer wird so direkt mit einem „Film im Film“ | |
konfrontiert: Was wir sehen, sind nämlich gleichzeitig die Bilder von | |
Julies Filmprojekt: ein Spiel- und kein Dokumentarfilm, wie sie mehrmals | |
den Dozenten der Filmakademie deutlich zu machen versucht. | |
Was sie aber eigentlich mit dem Film sagen möchte, scheint Julie selber | |
nicht so genau zu wissen und ist etwas verstört, als einer der Prüfer sie | |
fragt, ob es nicht doch besser sei, sich in vertrauteren Milieus zu | |
bewegen. Der Versuch, sich mit ihrem „soft-politischen“ Projekt für ihr | |
privilegiertes Leben zu rechtfertigen oder irgendwie zu entschuldigen, ein | |
Leben, in dem es reicht, einmal die Mutter anzurufen, passenderweise | |
gespielt von Tilda Swinton, um genug Geld für teure Ausrüstung zu bekommen, | |
überzeugt die Kommission nicht wirklich. | |
Der in „The Souvenir“ geschilderte Dialog zwischen Fiktion und Wirklichkeit | |
hat ein reales Vorbild. Wie Hogg 2019 bei einer Pressekonferenz auf der | |
Berlinale, wo der Film lief, sagte, basiert der Stoff auf ihren eigenen | |
Erfahrungen als junge und naive Filmstudentin. Zudem verbindet sie seit | |
fast fünfzig Jahren eine tiefe Freundschaft mit Tilda Swinton, und Honor | |
kennt sie von Geburt an. | |
## Improvisation spielte die Hauptrolle | |
Dieses Gefühl von kompromissloser Authentizität ist aber nicht bloß der | |
engen Beziehung der drei Frauen im echten Leben zu verdanken. Man findet | |
dafür auch ganz konkrete Gründe in Hoggs Arbeitsweise als Regisseurin: Bei | |
den Dreharbeiten gab es kein Drehbuch, Improvisation spielte die | |
Hauptrolle, und alle Szenen wurden chronologisch gedreht. | |
Musik benutzt Hogg nie als „Emotions-Trigger“, ganz im Gegenteil: Die | |
Songs, die zum Teil nicht genau zu den abgebildeten Jahren passen, wurden | |
von Hogg gewählt, weil sie der eigenen Erinnerung ihrer damaligen Gefühle | |
heute noch entsprechen. Die Musik wird von ihr also eher „antidramatisch“ | |
eingesetzt. | |
Oft wechselt Hogg zu Super 8, dem Format der Erinnerung par excellence. | |
Ihre Kamera ist meistens statisch, die Figuren bewegen sich ins Bild hinein | |
und wieder hinaus. Nach und nach wird dabei deutlich, dass „The Souvenir“ | |
auch ein Film über das Kino ist. Das Kino als Möglichkeit, Erinnerung zu | |
dokumentieren und festzuhalten, selbstverständlich die eigene, flexible | |
Version davon. | |
## Lüge und Ehrlichkeit | |
Wenn Anthony (magnetisch stark: Tom Burke) seinen unerwarteten Eintritt in | |
Julies Leben hat, öffnet sich für sie eine andere Welt. Oder besser gesagt, | |
öffnet sie ihm die Tür in ihr geschütztes, elitäres Studentenleben. Er | |
zieht bei ihr ein. Anthony ist älter, hat eine Position im britischen | |
Außenministerium, und sein Charme ist für Julie außergewöhnlich. Mieder aus | |
Paris und Reisen nach Venedig sind für sie neue Erfahrungen. | |
Er schenkt ihr eine Postkarte und geht später mit ihr in ein Museum, um ihr | |
das kleine Bild im Original zu zeigen. Es ist „Le Souvenir“ (1778) des | |
französischen Malers Jean-Honoré Fragonard: Im Profil stehend, schnitzt | |
eine elegante Rokoko-Dame den Namen ihres Liebhabers in einen Baumstamm. | |
Für Julie sieht sie traurig aus, für Anthony dagegen entschlossen und sehr | |
verliebt. | |
Es sei hier nicht verraten, wie sich die Beziehung zwischen Anthony und | |
Julie verändern wird, vielleicht reicht es zu sagen, dass der Dialog | |
zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Lüge und Ehrlichkeit eine große | |
Rolle dabei spielen wird. | |
Der von Anfang an geplante „The Souvenir: Part II“ soll schon abgedreht | |
sein und 2021 – hoffentlich – in die Kinos kommen. Teil I hat, trotz | |
internationaler Auszeichnungen, in Deutschland leider keinen Verleih | |
gefunden. Dafür ist er jetzt im FSK Kino – unbedingt – zu sehen. | |
1 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sara Piazza | |
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