| # taz.de -- Filmfestspiele Venedig: Geister und Gesetze | |
| > Lidokino 8: Gespensterdämmerung in Venedig. Tilda Swinton brilliert in | |
| > der Doppelrolle als Mutter und Tochter in einem Film von Joanna Hogg. | |
| Bild: Kuckuck, ist da wer? Tilda Swinton mit Spiegelbild | |
| In Venedig sind die Genres im Wettbewerb durchaus vertreten. Mit | |
| [1][„Bones and All“ von Luca Guadagnino gab es einen, wenngleich | |
| untypischen, Horrorfilm] zu begutachten, und die britische Regisseurin | |
| Joanna Hogg hat mit „The Eternal Daughter“ einen Gespensterfilm | |
| beigesteuert. | |
| Mit allem, was dazugehört: konstant durch nächtliche Wälder ziehender | |
| Nebel, dazu hallende Eulenrufe und ein entlegenes Anwesen, in dem es nachts | |
| knarrt.Könnte man albern finden, doch [2][Joanna Hogg, die zuvor in ihren | |
| beiden „The Souvenir“-Filmen] ihr eigenes Leben als Studentin erzählte, hat | |
| anderes im Sinn als schlichten Grusel, selbst wenn es auf den ersten Blick | |
| so aussieht. Ihre Protagonistin hört wie die Hauptfigur in „The Souvenir“ | |
| auf den Namen Julie Harte und ist Filmemacherin. | |
| Mit ihrer Mutter verbringt sie ein paar Tage in einem herrschaftlichen Haus | |
| auf dem Land, das früher im Besitz der Familie war, inzwischen aber zum | |
| Hotel umfunktioniert wurde. Mutter und Tochter spielt Tilda Swinton, die in | |
| „The Souvenir“ ebenfalls als Mutter mitspielte. Der bürgerlichen Etikette | |
| gehorchend, pflegen beide eine förmlich herzliche Beziehung. | |
| ## Die Fassung verlieren | |
| Allein Julie verliert hin und wieder die Fassung, wenn die Mutter von | |
| traurigen Erinnerungen erzählt, die sie mit dem bis auf zwei | |
| Hotelangestellte menschenleeren Haus verbindet. Hogg erhält dabei die | |
| spukhafte Atmosphäre elegant aufrecht, nutzt die gediegene Kulisse für ein | |
| Familiendrama, das in größter Zurückhaltung von schwierigen, zugleich | |
| beständigen Familienbanden erzählt. | |
| Eine gescheiterte Familiengeschichte hingegen ist eines der Themen von „Il | |
| signore delle formiche“, mit dem der italienische Regisseur Gianni Amelio | |
| im Wettbewerb antritt. Im Zentrum steht der Prozess gegen den | |
| Schriftsteller und Dramatiker Aldo Braibanti (Luigi Lo Cascio) in den | |
| sechziger Jahren. Braibanti wurde wegen „plagio“, Unterwerfung, angeklagt, | |
| ein Straftatbestand aus der Zeit des Faschismus. | |
| Wie Ennio (Elio Germano), ein Reporter, der beauftragt ist, den Prozess zu | |
| beobachten, im Film zu Protokoll gibt, war der Sinn dieses Paragrafen, | |
| Schwule vor Gericht stellen zu können, ohne vor der Welt eingestehen zu | |
| müssen, dass es auch im machistischen Italien schwule Männer gibt. | |
| ## Wieder ein Gerichtsfilm | |
| Nach „Argentina, 1985“ von Santiago Mitre, der von den Ermittlungen gegen | |
| die Hauptverantwortlichen der Verbrechen in der argentinischen | |
| Militärdiktatur handelt, ist „Il signore delle formiche“ der zweite | |
| Gerichtsfilm im Wettbewerb. Amelio erzählt zunächst die Vorgeschichte des | |
| Prozesses, zeigt Braibante als Intellektuellen, der in den fünfziger Jahren | |
| Schauspielunterricht an einer freien Kunstschule in der provinziellen | |
| Region Emilia gibt, wo er seinen späteren Freund Ettore kennenlernt. | |
| Die Familie Ettores hält nichts von den künstlerischen Interessen ihres | |
| Sohnes und noch weniger von den Interessen des als „Päderast“ beschimpften | |
| Braibanti. Nach diversen Konflikten entscheidet sich Ettore, mit seiner | |
| Familie zu brechen und dafür mit Aldo nach Rom zu ziehen, wo dieser sich | |
| ein weniger feindliches Klima erhofft. Die Eltern intervenieren und lassen | |
| ihren Sohn in eine psychiatrische Anstalt einweisen, wo er mit | |
| Elektroschocks behandelt wird. | |
| Trotz seiner Tragik erzählt der Film eine Erfolgsgeschichte: Der ominöse | |
| Articolo 603 zum Delikt des „plagio“ wird wenige Jahre nach dem Prozess | |
| gegen Braibanti aus dem Gesetzbuch gestrichen. Ungeachtet der frohen | |
| Botschaft und der starken Besetzung, bei der besonders Elio Germano seinen | |
| leise skeptischen Part als Journalist nutzt, um dem Film ein Kraftzentrum | |
| zu geben, macht „Il signore delle formiche“ nicht so recht glücklich. | |
| Zu brav ist der Fall als Historiendrama heruntererzählt, zu wenige Einfälle | |
| hat sich Amelio gestattet, vielleicht aus Angst, seiner Chronistenpflicht | |
| nicht Genüge zu leisten. Er selbst wurde in der Pressekonferenz persönlich | |
| ausfällig gegen einen italienischen Journalisten, der kritische Nachfragen | |
| zum Film stellte. | |
| 7 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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