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# taz.de -- Realitätsferne und -nähe in Venedig: Vororthölle und Kindsmord
> Lidokino 9: Ein bewegender Gerichtsprozess aus Frankreich und die
> rührende Geschichte eines wieder veröffentlichten Albums auf den
> Filmfestspielen.
Bild: Rama (Kayije Kagame) verfolgt in Alice Diops „Saint Omer“ den Gericht…
Auf dem Lido neigt sich der Wettbewerb dem Ende zu, die Stars sind in der
großen Mehrheit über den roten Teppich gelaufen, und vom Zuspruch her zu
urteilen, sind die Fans mit der Ausbeute glücklich. Den englischen Musiker
und Schauspieler Harry Styles etwa erwarteten lautstarke „Harry,
Harry!“-Rufe bei der Premiere von [1][Olivia Wildes] „Don’t Worry,
Darling“. Ihr Thriller spielt in einer bis zur Realitätsferne
herausgeputzten Satellitenstadt namens „Victory“.
Verschwörung und obskure Geschäfte lauern hinter der Oberfläche dieser
50er-Jahre-Vororthölle, in der die misstrauische Perspektive der Hausfrauen
vorherrscht. Schließlich wissen diese nicht, was ihre Ehemänner für streng
geheime Projekte bei der Arbeit verfolgen. Wilde verleiht der Geschichte
einen feministischen Twist, bleibt in der Konstruktion der Handlung und der
Inszenierung aber enttäuschend flach, [2][ganz wie die Figuren, Harry
Styles inbegriffen]. Statt im Wettbewerb lief der Film passend außer
Konkurrenz.
Außer Konkurrenz finden sich überhaupt interessante Themen im Programm,
wenngleich das Ergebnis nicht in jedem Fall überzeugt. So hatte sich der
Musikfilm „Dreamin’ Wild“ von Bill Pohlad das originelle Ziel gesteckt, d…
Geschichte hinter dem gleichnamigen Album der Brüder Donnie und Joe Emerson
zu einem Drama auszugestalten. Die Brüder, in einem winzigen Dorf in
Washington aufgewachsen, nahmen in den siebziger Jahren selbst eine Platte
auf, in einem Studio, das ihr zugewandter Vater, der Donnies Talent fördern
wollte, mit eigenen Händen gebaut hatte.
Die Platte verkaufte sich nicht, John arbeitete weiter auf der Farm,
während Donnie sich erfolglos als Musiker versuchte. Bis gut 30 Jahre
später das Reissue-Label Light in the Attic die Familie aufspürte und eine
Wiederveröffentlichung vorschlug. Da hatte es in den sozialen Medien schon
einen Hype um die Platte gegeben. Nach der Neuauflage folgte unter anderem
ein Artikel in der New York Times, auf dem auch das Drehbuch beruht.
Pohlad erzählt das sehr treu und ruhig, so ruhig, wie die meisten
Mitglieder der Familie Emerson sind. Und trotz der Besetzung, bei der
Donnie von Casey Affleck und der Vater von Beau Bridges gegeben wird,
erreicht der Film selten mehr als eine gemütliche Atmosphäre für die
durchaus gelungenen Songs der Emersons und der persönlichen Last, die das
gescheiterte Talent Donnie mit sich herumschleppt.
Eine gänzlich andere Last tragen die Protagonisten in „Saint Omer“, dem
Spielfilmdebüt der [3][französischen Dokumentarfilmerin Alice Diop.] So
reist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) in die nordfranzösische
Gemeinde Saint-Omer, um einen Gerichtsprozess zu verfolgen. Eine Frau ist
angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter getötet zu haben. Sie hatte sie am
Strand der Flut überlassen. Damit gibt es in Venedig dieses Jahr gleich
drei Gerichtsfilme im Wettbewerb.
Die meiste Zeit folgt der Film dem Verfahren gegen die Angeklagte, Laurence
Coly (Guslagie Malanda), man sitzt mit Rama im Gerichtssaal, folgt den
Ausführungen Colys. Diese Szenen sind eindringlich direkt und zugleich
nüchtern gestaltet. Alice Diop hat in die Erzählung jedoch einen zweiten
Strang eingeflochten.
Denn Rama ist, wie die Angeklagte und wie auch Diop selbst, senegalesischer
Abstammung, und Rama ist schwanger. In ihrer Geschichte geht es vornehmlich
um das angespannte Verhältnis zur eigenen Mutter und Ramas Angst vor ihrer
Mutterrolle.
Leider bleibt die Figur Ramas, ein Alter Ego Diops, bis zur
Undurchsichtigkeit blass. Was die Themen, die durch ihre Perspektive
hinzukommen, unterentwickelt erscheinen lässt. Man kann nicht richtig
teilnehmen an ihren Sorgen, weil sie im Vergleich zum Schicksal von
Laurence Coly zu diffus bleiben. Ein bisschen scheint da eine Chance vertan
worden zu sein.
8 Sep 2022
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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