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# taz.de -- Kampf gegen DuPont als Filmthriller: Besser leben mit Chemie
> Ein echter Umweltskandal: Todd Haynes schickt in seinem Thriller
> „Vergiftete Wahrheit“ Mark Ruffalo gegen den Chemiekonzern DuPont ins
> Rennen.
Bild: Der Bauer und der Anwalt, gemeinsam kämpfen sie gegen das Gift des Chemi…
Die Kuhweide ist übersät mit Grabhügeln. 190 seiner Rinder seien tot, sagt
der Farmer Wilbur Tennant (Bill Camp) aufgebracht – bis jetzt jedenfalls,
das Sterben gehe weiter. Die Organe, unter anderem die Gallen, seien stark
vergrößert, die Zähne braun, die Hufe der Kälber wüchsen krumm, die Tiere
verhielten sich merkwürdig aggressiv. Sein Gast, der junge Rechtsanwalt Rob
Bilott ([1][Mark Ruffalo]) bekommt schnell einen Eindruck: Plötzlich kommt
eine Kuh bedrohlich auf die beiden zugewankt. Tennant muss sie erschießen.
Schwer sackt sie auf den schmierigen Boden.
Die Umgebung, in der ein Rechtsanwalt einem der größten Umweltskandale der
US-Geschichte auf die Spur kommt, ist so schmutzig grau wie der Himmel über
West Virginia. Nichts an „[2][Vergiftete Wahrheit]“, im Original „Dark
Waters“, lässt an satte Felder neben majestätischen Blue Ridge Mountains,
an „almost heaven“ und den malerischen „misty taste of moonshine“ denke…
den John Denver in „Take Me Home, Country Roads“ besang.
Dass der Song dennoch irgendwann zu hören ist, als Bilott mit seinem Auto
durch das Bundesland kurvt, macht den musikalisch aufkommenden
Heimatfilm-Vibe zu einem kalten Schauer. Denn Todd Haynes’ Drama nach einer
wahren Geschichte ist ein „Legal Thriller“ – ein Krimi, in dem die Justiz
und ihre Tücken und Haken selbst eine Rolle spielen.
In diesem Fall ist die Rechtsprechung der Gegen-, aber auch Mitspieler von
Bilott, einem – zu Beginn des Rechtsstreits – jungen Juristen aus Ohio, der
als Unternehmensanwalt arbeitet. Als Bauer Tennant ihn wutschnaubend in der
Großstadtkanzlei aufsucht und die Untersuchung des mysteriösen Kuhsterbens
verlangt, er verdächtigt eine nahegelegene Mülldeponie, giftige Abfälle in
den Bach zu verklappen, muss Bilott zunächst abwägen: Seine Kanzlei
vertritt auch Firmen wie [3][den Chemiekonzern DuPont], der jene Deponie
betreibt. Und DuPonts Anwalt Phil Donnelly (Victor Garber) ist nicht nur
ein guter Freund von Bilotts Kanzlei, sondern versichert stante pede die
Umweltverträglichkeit sämtlicher Produkte sowie seine Hilfe bei der
Aufklärung des Verdachts.
Doch Bilott, dessen Oma unweit von Tennants Farm ein Haus hat, entscheidet
sich, der Sache nachzugehen. Daraus entsteht ein Verfahren, das 17 Jahre
lang dauern wird und bei dem der langen Zeitraum wegen der schweren, durch
DuPonts Gifte entstandenen Erkrankungen vieler Kläger*innen doppelt
skandalös ist: Einige starben, bevor der Großkonzern im Jahr 2015 über 617
Millionen Dollar an die verbleibenden Opfer zahlen musste.
Regisseur Todd Haynes und die Drehbuchautoren Matthew Michael Carnahan und
Mario Correa erzählen die Adaption eines 2016 erschienenen Artikels aus dem
New York Times Magazine nach dem in US-Heldensagas beliebten
David-gegen-Goliath-Prinzip: anhand der Entwicklung des Anwalts, der alles
ins Rollen brachte. Ruffalos Rob Bilott ist ein bibeltreuer, integrer,
nicht besonders großer Mann, dessen politische Haltung wächst, je
gramgebeugter sein Körper wirkt.
Bilotts Frau Sarah (Anne Hathaway), die ihre eigene Karriere zugunsten der
Kindererziehung zurückgestellt hat, sieht man mit einem, zwei, dann drei
Söhnen; Autos, Moden und Handys ändern sich dezent, aber stetig, die Kinder
werden zu Teenies, während Bilotts Haare ergrauen und die Nerven seine
Hände zittern lassen – doch die Sache mit DuPont entwickelt sich nur
langsam. Zunächst schickt der DuPont-Anwalt Donnelly, den Bilott inzwischen
gegen sich aufgebracht hat, Hunderte Boxen mit Papierkram zur Akteneinsicht
– und rechnet nicht mit Bilotts stoischem Fleiß: Dieser setzt sich hin und
sortiert.
Er kann schließlich die Spur, welche die Chemikalie PFOA
(Perfluoroctansäure, auch „C8“ genannt) bei den Menschen hinterlässt, bis
in die 50er Jahre zurückverfolgen: Damals, als die antihaft-beschichtete
Teflonpfanne ihren Siegeszug durch die Haushalte antrat, wurde PFOA in der
DuPont-Erfindung Teflon eingesetzt. Der Stoff ist – neben vielen anderen
Dingen – beim Menschen schwer krebserregend und verursacht Missbildungen
bei Föten im Mutterleib. DuPont wusste das von Anfang an, beauftragte sogar
eigene Studien.
Bilott dagegen weiß am Beginn seiner Recherche nicht einmal, was die
Abkürzung bedeutet und sitzt in einer Szene aus der Prä-Google-Ära der
1990er vor einem dunkel flackernden Bildschirm, um die Buchstaben erfolglos
bei der Umweltbehörde EPA einzutippen: Dort sind sie ebenfalls nicht
bekannt, darum gibt es keine Regularien zu deren Einsatz. In authentischer
Retro-Ästhetik zeigt der Film auch, dass das Recherchieren langwierig, der
Informationsfluss schleppend und das Vergleichen aufwendig war.
Nicht, dass das heutige blitzschnelle World Wide Web Anwält*innen faul
macht. Aber Ausdauer ist definitiv die Hauptqualität des ansonsten
unscheinbaren Bilott, dessen Gesichtsfarbe sukzessiv den Ton der grünlichen
Homecomputer-Buchstaben annimmt, während sein Kampfesmut in Verzweiflung
umschlägt.
Die Geschichte der Fehde gegen die unmoralische Industrie hat Regisseur
Haynes in drei Teile gegliedert – am Ende jedes Teils stehen immer wieder
die schneckengleich mahlenden Mühlen des Gesetzes: Als ein einziger Fall
erkrankter Tiere nicht mehr reicht, macht Bilott seine Erkenntnisse
öffentlich, damit statt einer Einzelperson die Behörde klagt. Und als ein
übergeordnetes Gericht nach Jahren endlich anerkennt, dass der Kontakt mit
PFOA gefährlich sein könnte, wird die Wissenschaft eingeschaltet.
Den längsten Teil des Prozesses wartet Bilott auf die Ergebnisse, die
unabhängige Wissenschaftler*innen aus Tausenden von Blutproben gewinnen.
Erst dann können Schmerzensgelder bewilligt werden. Und erst dann, so sieht
es die auf Entschädigung ausgerichtete US-Justiz, können die Opfer
aufatmen.
„Vergiftete Wahrheit“, der in Spannungsbogen und Inhalt Filmen wie Mike
Nichols’ „Silkwood“, Steven Soderberghs „Erin Brockovich“ oder Gus van
Sants „Promised Land“ ähnelt, in denen es ebenfalls um den Kampf des
Individuums gegen die Umweltzerstörung von Konzernen geht, ist auch ein
Politthriller. Einer, der trotz des Informationsgewinns und der
gigantischen Ausgleichszahlungen wenig Hoffnung macht, dass es in Zukunft
besser laufen könnte.
Denn immer noch werden Chemikalien verwendet, die nicht bei der
Umweltbehörde gemeldet sind; noch immer kämpfen Biobauern und -bäuerinnen
auf der ganzen Welt, auch in den USA, gegen den Einsatz von Giften; noch
immer werden problematische Verbindungen von Behörden als Düngemittel oder
Zusatzstoffe zugelassen. „Das System ist korrupt“, sagt Bilott irgendwann,
als er fast aufgeben will, „ein Industriegigant kann machen, was er will.“
Diese Erkenntnis ist eine Binsenweisheit – sie ist dennoch die vergiftete
Wahrheit und das Armutszeugnis einer Gesellschaft. Bilotts überstandener
Kampf passt in unsere Zeit, in der die Fronten zwischen den Misstrauischen
und den Allesschluckern härter werden, während esoterisch bedingte
Abwehrhaltungen gegen Schulmedizin die Diskurse heftig aufmischen.
Der von DuPont in den 1940ern ausgegebene Happy-Housewive-Slogan „Better
living through chemistry“ wird inzwischen schon lange nur noch ironisch im
Zusammenhang mit chemischen Spaßdrogen benutzt, die sedationsfreundliche
Stonerrockband Queens of the Stone Age nannte einst sogar einen Song so. Am
Ende von „Vergiftete Wahrheit“ singt jedoch Johnny Cash seine
Widerstandsballade „I won’t back down“ – es ist ein kurzer Moment der
Hoffnung.
7 Oct 2020
## LINKS
[1] /Superhelden-in-Avengers-Infinity-War/!5501225
[2] https://www.youtube.com/watch?v=gYkEKJgD_Gc
[3] /Schnaken-Plage-im-Nordwesten/!5668725
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Kino
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