# taz.de -- Regisseur Todd Haynes zu „May December“: „Sie hat ihre Positi… | |
> Todd Haynes Film „May December“ war dieses Jahr für den Oscar nominiert. | |
> Er spricht über patriarchales Verhalten von Frauen und ambivalente | |
> Figuren. | |
Bild: Die eine kopiert die andere: Gracie (Julianne Moore) und Elizabeth (Natal… | |
Von den Grauzonen zwischen Fiktion und Realität, vom Authentischen im | |
Artifiziellen handeln alle Filme des US-amerikanischen Regisseurs Todd | |
Haynes. Sei es das Begehren in der [1][Patricia-Highsmith-Adaption | |
„Carol“], David Bowies Inkarnationen in „Velvet Goldmine“ und „I’m … | |
There“ über Bob Dylan in diversen Phasen. Auch sein neunter Spielfilm „May | |
December“ handelt nur vordergründig von einem Skandal, inspiriert von | |
realen Ereignissen. Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) taucht | |
bei Gracie (Julianne Moore) und ihrer Familie auf, deren Lebensgeschichte | |
verfilmt werden soll. Vor 23 Jahren hatte Gracie als Lehrerin eine Affäre | |
mit ihrem 13-jährigen Schüler. Trotz Haftstrafe überdauerte das Verhältnis, | |
nach ihrer Freilassung heirateten Gracie und Joe (Charles Melton), wurden | |
Eltern und führen nun ein fast gewöhnliches Familiendasein in Savannah im | |
Staat Georgia. Als sich Elizabeth in deren Alltag einnistet und ihr eigenes | |
perfides Spiel treibt, bekommt dieses Idyll bald Risse. Der 63-jährige | |
Haynes macht aus diesem Konstrukt von Melodram, Psychothriller und | |
Tragikomödie ein faszinierend rätselhaftes Vexierspiel. | |
taz: Herr Haynes, „May December“ basiert lose auf einem realen Fall, der in | |
den 1990ern in den USA für Aufsehen sorgte. Was hat Sie daran interessiert? | |
Todd Haynes: Mary Kate Letourneau war eine Lehrerin, die als 34-Jährige | |
eine Affäre mit ihrem Schüler begann, als dieser 13 Jahre alt war. Die | |
Boulevardpresse stürzte sich darauf, sie wurde schließlich verurteilt und | |
saß zunächst zwei Jahre im Gefängnis. Beim Freigang verstieß sie sofort | |
gegen die Auflagen, die beiden wurden beim Sex in einem Auto erwischt, und | |
sie musste die volle siebenjährige Haftstrafe antreten. Aber sie blieben | |
zusammen und gründeten nach ihrer Freilassung eine Familie, hatten zwei | |
Töchter. Vor zwei Jahren ist sie an Krebs gestorben. Über ihre Geschichte | |
gibt es viele Bücher und Dokumentationen, unser Film ist von diesem Fall | |
inspiriert, aber wir nehmen uns Freiheiten. Mich interessierte, wie sie | |
gegen alle Widerstände zusammengeblieben sind und was sie dabei | |
ausgeblendet haben: die Scheuklappen, die nötig waren, um ein scheinbar | |
normales Leben als Familie zu führen. | |
Im Film machen Sie daraus eine Charakterstudie zweier Frauen, die auf je | |
eigene Weise Trugbildern aufsitzen, ein Spiel um Identitäten und | |
Motivationen, bei dem Haltung und Perspektive ambivalent bleiben. Wie haben | |
Sie das konstruiert? | |
Mir hat gefallen, dass man zunächst das Gefühl hat zu wissen, was man für | |
diese Figuren empfindet, und dann verschiebt sich langsam die Wahrnehmung | |
und es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. So wie Elizabeth beginnt, | |
ihre Untersuchungen um Gracie anzustellen, werden auch die Erwartungen und | |
die moralische Haltung des Publikums infrage gestellt. „May December“ teilt | |
seine Figuren nicht in Gut und Böse ein. Noch etwas unterscheidet ihn von | |
meinen bisherigen Filmen: Die Geschichte wird von weiblichem Begehren | |
vorangetrieben, die Frauen sind die aktiven Akteure; um ihre Ziele zu | |
erreichen, verhalten sie sich auch unangemessen, nehmen Opfer in Kauf. Es | |
spiegelt Aspekte der patriarchalischen Machtdynamik wider, aber mit | |
vertauschten Geschlechterrollen. Denn auch Frauen in Machtpositionen können | |
Strukturen des patriarchalen Systems reproduzieren. Gracie hat ihre | |
Position missbraucht, keine Frage, aber mich interessiert ihre Motivation | |
dahinter. In ihrer Fantasie glaubt sie, als Prinzessin von einem jungen | |
Ritter gerettet worden zu sein, verleugnet völlig ihre eigene Macht in der | |
Beziehung. Dann erweist sich Elizabeth als nicht minder kompliziert … | |
Diese Elizabeth wird von Natalie Portman gespielt, die auch Produzentin des | |
Films ist. Wie kam es dazu? | |
Sie hatte mir 2020 das Drehbuch geschickt, während des Lockdowns. Wir | |
redeten dann viel über die Erwartungen an sie als Filmstar, die eine | |
Schauspielerin spielt, die sich auf eine Rolle vorbereitet, wie damit der | |
Geschichte eine weitere Ebene hinzufügt wird. Uns gefiel die Idee, dass | |
sich das Publikum mit ihr zunächst sicher fühlt, bis sie dann Schritt für | |
Schritt dubioser wird. Uns beiden war gleich klar, dass nur Julianne Moore | |
für die andere Hauptrolle infrage kommt. Sie sagte zum Glück sofort zu. | |
Beim Dreh war sie anfangs nervös, weil wir kaum Zeit zur Vorbereitung | |
hatten. Sie hat dann in kürzester Zeit ihre Figur mit all den kleinen | |
Gesten und der Mimik entwickelt, die sich Elizabeth dann von ihr abschaut | |
und aneignet. | |
Welche Verantwortung haben Sie als Filmemacher, wenn Sie eine Geschichte | |
erzählen, die auf realen Vorbildern basiert? | |
Wir haben es immer als fiktive Geschichte gesehen mit all den Freiheiten, | |
sie zu interpretieren und verändern. Anders als Elizabeth, die mit dem | |
Anspruch antritt, die Wahrheit zu erzählen. Was ist „die“ Wahrheit? Oder | |
wessen Version wird erzählt? Das hat viel mit Macht und Interessen zu tun; | |
die reine, objektive Wahrheit gibt es nicht. | |
Mit dem Thema beschäftigten Sie sich bereits in früheren Filmen wie „Velvet | |
Goldmine“ und [2][„I’m Not There“]… | |
David Bowie konstruierte seine eigene Fiktion, erfand all diese Personas | |
wie Ziggy Stardust und Alladin Sane. Er verstand, dass es in der Popkultur | |
um Künstlichkeit und Erfindung geht. Auch Bob Dylan erfand sich immer | |
wieder neu, verweigerte sich den Erwartungen seiner Fans, nur so konnte er | |
seinen eigenen Erfolg überleben. Dylan gab mir komplette Freiheit, weil ich | |
ihn nicht auf eine Version reduzierte. Wir durften sogar seine Musik | |
verwenden. Auch bei „May December“ stelle ich das Künstliche formal aus, | |
setzte Zooms und dramatische Musik ein, die eine Distanz zum Geschehen | |
herstellen und so dem Publikum die eigene Rolle als Zuschauende bewusst | |
macht. | |
Sie beziehen Sich in Ihren Werken immer wieder auf Douglas Sirk und Rainer | |
Werner Fassbinder. Inwieweit haben die „May December“ beeinflusst? | |
Ich dachte eher an Ingmar Bergman und „Persona“ und seine Reflexion über | |
Identitäten. Aber Sirk beeinflusst jedes Molekül meines Seins und | |
Schaffens, ob ich ein Melodram in seinem Stil mache wie „Dem Himmel so | |
fern“ oder etwas ganz anderes wie hier. Er bringt mich dazu, über die Welt | |
und das Kino nachzudenken, und wie sich durch künstliche Inszenierungen | |
authentische Gefühle herstellen lassen. Für mich ist Sirk wie höhere | |
Mathematik. | |
Ihre Filme laufen auf den Festivals in Cannes und Venedig, letztes Jahr | |
hatten Sie eine große Retrospektive im Centre Pompidou in Paris. Fühlen Sie | |
sich in Europa besser wahrgenommen als in den USA? | |
Meine Filme sind sowohl von amerikanischer als auch europäischer Kultur | |
geprägt, aber ich habe nie darüber nachgedacht, ob sie vom Publikum | |
unterschiedlich wahrgenommen werden. Im Grunde hat jeder meiner Filme seine | |
eigene Fangemeinde, die sich selten überschneiden, ob bei „Carol“ oder | |
„Velvet Goldmine“. Aber meine Karriere wäre sicherlich nicht so verlaufen, | |
wenn die Filmkritik mein Schaffen nicht von Anfang an so aufmerksam und | |
wohlwollend verfolgt hätte. | |
„May December“ ist trotz Ihrer Reputation und großer Stars mit einem sehr | |
geringen Budget entstanden. | |
Wir haben den Film in 23 Tagen gedreht. Für mehr bekamen wir schlicht kein | |
Geld. Kein Wunder: Es ist ein Film über zwei Frauen. Einen anderen Grund | |
kann ich mir nicht vorstellen. Es ist kein Blockbuster, kein Actionkracher. | |
Für Filme, wie ich sie mache, gibt es nur sehr prekäre Unterstützung, weil | |
niemand erwartet, dass sie ihre Kosten wieder einspielen. Vielleicht wird | |
sich durch [3][„Barbie“] in der Zukunft etwas ändern, wer weiß. Aber viel | |
Hoffnung habe ich nicht. | |
28 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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