# taz.de -- Hexengeschichte aus Tschechien: Weise Frauen in den Karpaten | |
> Unter den Nazis waren sie Forschungsobjekt, nach 1945 verschwanden sie: | |
> die Heilerinnen im tschechischen Žítková. | |
Bild: Hat in Tschechien für Aufsehen gesorgt: die Autorin Katerina Tuckova. | |
Es ist wirklich eine merkwürdige, dazu noch eine zu großen Teilen wahre | |
Geschichte, die die tschechische Autorin Kateřina Tučková zu erzählen hat. | |
Das Thema mag zunächst esoterisch anmuten, aber das ist Tučkovás Roman ganz | |
und gar nicht. Der Blick der Literaturwissenschaftlerin und | |
Kunsthistorikerin auf das Wirken der Heilerinnen, der sogenannten | |
Göttinnen, aus dem mährischen Bergdorf Žítková ist ein | |
forschend-analytischer. | |
Darin trifft sie sich mit der Hauptfigur ihres Romans: Dora Ides, um die | |
40, Ethnologin und spezialisiert auf das Brauchtum Südmährens. Sie selbst | |
ist, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder, dort in den Weißen Karpaten | |
aufgewachsen. Ihre Tante Terezie Surmanová, von allen Surmena genannt, | |
hatte die Kinder zu sich genommen, nachdem deren Mutter vom Vater | |
erschlagen worden war. | |
Doch acht Jahre später, als Dora 16 ist, wird Surmena von der Polizei | |
abgeholt, da man ihr vorwirft, eine illegale Abtreibung vorgenommen zu | |
haben. Sie verschwindet in der Psychiatrie, wo Dora sie, nachdem sie die | |
Tante Jahre später endlich wiedergefunden hat, nur noch als menschliches | |
Wrack antrifft – ein tragischer Kontrast zu der eindrucksvollen | |
Persönlichkeit, die Surmena vorher gewesen ist. | |
Sie war eine der „Göttinnen“ von Žítková, einem winzigen Flecken in den | |
Karpaten, in dem seit Menschengedenken Frauen lebten, die über ein | |
besonderes Wissen verfügen, Kranke heilen, Körper einrenken und angeblich | |
sogar in die Zukunft sehen und das Wetter beeinflussen konnten. Die | |
Menschen kamen von weit her, um die weisen Frauen zu konsultieren. | |
## Verfolgte Hexen | |
Diese „Göttinnen“ hat es bis in die jüngste Vergangenheit hinein | |
tatsächlich gegeben. In früheren Jahrhunderten wurden sie immer wieder als | |
Hexen denunziert und hingerichtet. Im 20. Jahrhundert, nach der Besetzung | |
der Tschechoslowakei 1938, entdeckten deutsche Wissenschaftler die | |
ungewöhnlichen Fähigkeiten der Frauen von Žítková und machten sie zum | |
Objekt eines NS-Forschungsprojekts. | |
Die Nazis waren überzeugt davon, in der Praxis der Göttinnen Belege für | |
germanische Ritualhandlungen finden und somit das jahrhundertelange | |
Fortbestehen einer germanischen Kultur in Mitteleuropa nachweisen zu | |
können. | |
Auch diese Phase der Geschichte verwebt Kateřina Tučková. Dabei stützt sie | |
sich auf historisches Material, das sie in verschiedenen Archiven aufgetan | |
hat, und verarbeitet die Fakten souverän zu einer vielschichtigen Handlung: | |
Dora, die in ihrer ethnologischen Nische bisher ein wissenschaftliches | |
Mauerblümchendasein geführt hat, will die neue Offenheit nach der Samtenen | |
Revolution nutzen, um Einblick in Archivmaterial zu nehmen, das zu nutzen | |
ihr früher nicht möglich war. | |
Sie hat vor, die bahnbrechende Studie über die „Göttinnen“ von Žítková… | |
verfassen. Außerdem hofft sie, herauszufinden, was genau mit ihrer Tante | |
passiert ist. | |
## Liebe und Gewalt | |
Bei der Recherche entdeckt sie, dass etwas nicht stimmt mit dem Fall | |
Surmenová. Die Spur führt weit zurück in die Besatzungszeit und mündet in | |
eine komplexe Geschichte von Kollaboration und Verrat, weißer und schwarzer | |
Magie, Liebe und Gewalt. Von den letzten noch lebenden Alten erfährt Dora, | |
dass auch sie selbst eigentlich eine „Göttin“ ist. Doch hat sie ihre Gabe | |
nie entwickeln können, da ihre Tante es vermieden hatte, ihr das alte | |
Wissen weiterzugeben. | |
Weshalb? Und warum mussten sowohl die Tante als auch die Mutter ein so | |
furchtbares Ende nehmen? Schon in ihrem Romandebüt hatte die damals | |
29-jährige Kateřina Tučková vor sieben Jahren ein historisches Thema | |
aufgegriffen: „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ (eine deutsche | |
Übersetzung ist noch nicht erschienen) handelt von der gewaltsamen | |
Vertreibung der fast 60.000 Deutschen aus Brünn Ende Mai 1945. | |
Damit machte sich die junge Autorin nicht nur Freunde, sorgte aber bereits | |
für einiges Aufsehen. Mit „Das Vermächtnis der Göttinnen“, ihrem zweiten | |
Roman, landete sie in ihrer Heimat einen veritablen Bestseller. Der Roman | |
verkaufte sich in Tschechien 100.000-mal – bei einer Gesamtbevölkerung von | |
zehn Millionen. | |
## Identitätsstiftende Funktion | |
Dieser Erfolg ist darauf zurückzuführen, dass Kateřina Tučková tatsächlich | |
ein ungemein spannender, gut geschriebener und fundierter Faktenroman | |
gelungen ist, hängt aber vermutlich auch mit der identitätsstiftenden | |
Funktion seines historisch und politisch vielschichtig aufgeladenen Themas | |
zusammen. In einer postkommunistischen Gesellschaft liegt es nahe, sich die | |
These des Romans zu eigen zu machen, es seien die Kommunisten gewesen, | |
schreibt die Autorin, die die Verantwortung trügen für das plötzliche | |
Verschwinden der über Jahrhunderte praktizierten Künste der „Göttinnen“ … | |
und damit für das Verschwinden eines Teils der kulturellen Tradition. | |
Das ist sicher nicht wirklich falsch, aber letztlich verkörperten auch die | |
tschechischen und mährischen Kommunisten in dieser Hinsicht nur auf ihre | |
Weise die manchmal so furchtbar sachliche Modernität des 20. Jahrhunderts. | |
Auch im anhaltend kapitalistischen Westen sind Heilerinnen von einer derart | |
einflussreichen traditionellen Prägung schließlich schon lange | |
ausgestorben. | |
Aber noch immer gehört es überall zu den schönen Aufgaben der Literatur, | |
der Welt ein bisschen Magie zurückzubringen. Und das ist hier auf jeden | |
Fall geglückt. | |
20 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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