# taz.de -- Abschluss des Filmfestivals Locarno: Reiswein lässt Gefühle torke… | |
> Das Filmfestival Locarno bot wenig Konventionelles, viel Eigensinn und | |
> viele Entdeckungen. Das Konzept des neuen Leiters Carlo Chatrian geht | |
> auf. | |
Bild: In "Historia de la meva mort" versinkt Casanovas Welt in Dekadenz | |
„Was Locarno jetzt braucht, ist Kontinuität und keine Revolution“, wurde | |
Festivaldirektor Carlo Chatrian dieser Tage im Branchenblatt Screen | |
International zitiert. Manchmal liegt allerdings gerade im beharrlichen | |
Festhalten an einem einmal getroffenen Kurs ein radikales Moment: Dem neuen | |
Leiter des größten Schweizer Filmfestivals gelang zum Einstieg eine | |
bemerkenswert vielseitige Ausgabe, die Locarno endgültig zum Pflichttermin | |
für all jene macht, die an einem ästhetisch eigenwilligen Kino interessiert | |
sind. | |
Schon mit der Besetzung des Jurypräsidenten durch den Philippinen Lav Diaz | |
setzte man ein Zeichen. Diaz gilt durch seine epischen Filmdramen – die | |
längsten füllen einen ganzen Tag – als einer der ungewöhnlichsten Autoren | |
der Gegenwart. | |
In den am Samstagabend präsentierten Entscheidungen der Jury spiegelt sich | |
seine Leidenschaft für ein persönliches, avanciertes Autorenkino wider: Der | |
Katalane Albert Serra gewann mit seinem dritten Spielfilm, „Historia de la | |
meva mort“ („Story of My Death“), den Goldenen Leoparden. In betont | |
langsamen Einstellungen erzählt der Film davon, wie die Welt des Verführers | |
und Kosmopoliten Casanova in Dekadenz versinkt, während mit Dracula eine | |
neue, diabolisch-romantische „Leitfigur“ am Horizont erscheint. | |
## Origineller Umgang mit filmhistorischen Vorbildern | |
Der Portugiese Joaquim Pinto wurde für seinen Essayfilm „E agora? | |
Lembra-me“ („What now? Remind Me“) hochverdient mit dem Spezialpreis der | |
Jury bedacht. Wie Serras Arbeit geht auch Pinto originell mit | |
filmhistorischen Vorbildern um. | |
Der Film ist der Versuch, das eigene Ich, die eigene Vergangenheit auf ein | |
gesellschaftliches Umfeld auszuweiten, um daraus auch ein Verständnis, | |
einen Platz für die Gegenwart zu gewinnen: queeres Filmemachen, Rückschläge | |
und Zwänge der eigenen Krankengeschichte – Pinto ist mit HIV infiziert und | |
leidet an Hepatitis C –, die Beständigkeit seiner Beziehung mit Nuno | |
Leonel, die Liebe zu Hunden – alles hat bald mit allem zu tun. Pinto bleibt | |
das Zentrum der vielen Verästelungen des Films, der bewundernswert offen | |
aufs Dasein blickt. | |
Nicht viele andere Festivals sind derzeit bereit, ähnlich variantenreiche | |
Wettbewerbe zusammenzustellen, selbst wenn sich mit der | |
Charlotte-Roche-Adaption „Feuchtgebiete“ und dem US-Indie-Erfolg „Short | |
Term 12“ auch Konventionelleres fand. Mittelpunkt von Destin Crettons | |
Spielfilm ist ein Heim für Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen. | |
## Charismatische Figuren | |
Obwohl er über starke, charismatische Figuren verfügt, die viel Sympathie | |
wecken, macht es sich der Film in der Abwicklung der Konflikte ein wenig zu | |
leicht – die Narben mögen tief sein, die Wundsalbe Crettons haftet | |
garantiert besser. Die US-Schauspielerin Brie Larson wurde für ihre | |
energetische Verkörperung einer Betreuerin mit traumatischer Kindheit als | |
beste Darstellerin prämiert. | |
Bemerkenswert ist der Preis für den Koreaner Hong Sang-soo als bester | |
Regisseur. Es ist eine Entscheidung für einen beiläufig wirkenden, in | |
Wahrheit aber rigiden, ökonomischen Stil, der schon einen Kamerazoom als | |
starke Hervorhebung wirken lässt. „Our Sunhi“ ist eine weitere von Hong | |
Sang-soos komisch-melancholischen Auseinandersetzungen mit fehlgeleitetem | |
Begehren. | |
Drei Männer schwärmen für dieselbe Frau, die jedoch gegen deren | |
Verführungskünste immun erscheint. Mit einer an Marivaux erinnernden Freude | |
an der Geometrie wiederholt der Film nahezu gleiche Szenen – | |
Tischgespräche, bei denen unter dem Einfluss von Cheongju, von koreanischem | |
Reiswein, auch Gefühle zu torkeln beginnen. | |
## Filmisch unerschöpflich | |
Zu den Entdeckungen des diesjährigen Festivals gehört „Manakamana“, | |
Stephanie Spray und Pacho Velez wurden dafür mit dem Leoparden der | |
Nachwuchsschiene „Cineasti del presente“ ausgezeichnet. Simpel, aber | |
filmisch unerschöpflich ist die Idee dieser Produktion des Sensory | |
Ethnography Lab in Harvard: Einziger Schauplatz des Films ist das Innere | |
von Seilbahnkabinen, die Passagiere zu einem hochgelegenen Hindutempel in | |
Nepal befördern. | |
Die Fahrtstrecke über dem Dschungel bleibt ungeschnitten, erst im Dunkeln | |
der Windungen wechseln die Passagiere, nicht selten mit komischem Effekt. | |
Die Gesichter der Pilgerinnen und Pilger, die wenigen Dialoge wirken wie | |
choreografiert. In „Manakamana“ eröffnet sich ein spiritueller Reigen aus | |
ungeduldiger Erwartung, Andächtigkeit oder sogar böser Vorahnung – auf die | |
Opfertiere wartet am Ziel ein blutiges Ende. | |
Ein weiteres prämiertes Debüt eines Regieduos ist Gilles Deroos und | |
Marianne Pistones „Mouton“: In dokumentarisch anmutenden Szenen erzählen | |
sie von einem Jugendlichen aus desolaten Verhältnissen, der als Küchenhilfe | |
eine zweite Chance bekommt. Er findet bald Freunde unter seinen | |
Arbeitskollegen und verliebt sich in eine junge Kellnerin. | |
## Unwägbarkeiten des Lebens | |
Gerade als einen das Gefühl beschleicht, ähnliche Geschichten schon öfters | |
gesehen zu haben, ereignet sich ein unerwarteter Bruch: Mouton, das Schaf, | |
wie der Spitzname des Protagonisten lautet, wird zum Opfer einer | |
unmotivierten Gewalttat, bei der er einen Arm einbüßt. Deroo und Pistone | |
erzählen in ihrem räudigen kleinen Film eben keine Erbauungsgeschichte, | |
sondern eine der Unwägbarkeiten des Lebens. | |
Der Bruch des Films ist auch typisch für Locarno: Hier gilt das | |
Hinterfragen bewährter Formen mehr als deren noch so souveräne Einhaltung. | |
19 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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