# taz.de -- Filmemacher Zellner zu „Kid-Thing“: „Annie sieht die Welt mys… | |
> Der texanische Independentfilmer David Zellner erzählt aus der | |
> Perspektive eines Mädchens. Einige Szenen spielen im Wald, den er als | |
> Kind selbst unheimlich fand. | |
Bild: Allein auf weiter Flur: die Protagonistin Annie (Sydney Aguirre) mit eine… | |
„Hilfe, so helft mir doch, Hilfe.“ Eine weinerliche Frauenstimme ist aus | |
einem Schacht zu vernehmen, der in David Zellners „Kid-Thing“ einfach so | |
mitten in einem Wald in Texas liegt. Das Mädchen Annie vernimmt den Ruf, | |
weiß aber nicht so recht, wie es sich verhalten soll. | |
Eineinhalb Jahre nach der Premiere im Forum der Berlinale kommt „Kid-Thing“ | |
in Deutschland in die Kinos – einer der interessantesten Filme aus der | |
ebenso heterogenen wie spannenden Szene des US-amerikanischen | |
Independentkinos. Anlässlich einer Premiere kam David Zellner aus Austin, | |
Texas, nach Berlin und fand in einem Hotel in Neukölln Zeit für ein | |
Gespräch. | |
taz: Herr Zellner, Ihr Film „Kid-Thing“ beginnt mit einer markanten Szene. | |
Was ist da eigentlich zu sehen: Automobil-Mudwrestling? | |
David Zellner: Das heißt „Demolition Derby“, ein typisches Vergnügen unter | |
Leuten wie denen, von denen „Kid-Thing“ erzählt. Auffrisierte Autos, tiefer | |
Boden, und dann geht es eben darum, welches Auto trotz aller Demolierungen | |
am längsten fährt. | |
Nicht gerade die Veranstaltung, zu der man als fürsorgliches Elternteil ein | |
halbwüchsiges Mädchen mitnehmen würde. Doch für Annie ist das Alltag. | |
Wir haben die Szene auch so gefilmt, dass es in etwa ihrer Perspektive | |
entspricht, also keine Draufsicht, sondern eher auf Höhe der Kühlerhauben. | |
Wir sehen dadurch die Lenker kaum, dafür sehen die Demolition-Autos aber | |
aus wie Bestien, die aufeinander losgehen. Und damit ist schon die | |
befremdliche Qualität der Wirklichkeiten etabliert, von denen „Kid-Thing“ | |
erzählt. | |
Genau. Wir wollten so erzählen, dass wir die Perspektive von Annie teilen | |
können, auch ihre Logik, die sich unterscheidet von der anderer Kinder und | |
von der Erwachsener sowieso. Annie sieht die Welt mysteriöser, ein wenig | |
verzerrter. Zugleich sollte der Film aber zugänglich bleiben. | |
Annie entdeckt in einem Wald einen Schacht, aus dem sie eine Stimme hört. | |
Wie kommt man auf so eine Idee? | |
Eine Geschichte braucht ein Element des Unbekannten, etwas, auf das es | |
nicht sofort eine visuell offensichtliche Antwort gibt. Wir wollten etwas, | |
das Grenzen setzt in Hinsicht auf das, was man zeigen kann. Mit | |
computergenerierten Bildern kann man heute alles zeigen, es gibt kaum noch | |
Geheimnisse. „Kid-Thing“ hat ein großes Geheimnis: unzugängliche | |
Dunkelheit, eine Höhle, eine Öffnung, die ins Offene führt, denn wir wissen | |
ja nicht, wie tief der Schacht ist. | |
Annie glaubt ja, er führe direkt in die Hölle. Sie interpretiert das | |
Problem also zuerst einmal mythologisch. Ist Ester so etwas wie eine | |
Sphinx? | |
Das rührt an einen wesentlichen Aspekt. Als ich klein war, las ich | |
begeistert Grimms Märchen, aber auch die griechischen Sagen. Ich fand dort | |
dunklere Themen, die auf eine konkrete, aber verschlüsselte Weise | |
angesprochen wurden. Kinderliteratur ist in Amerika häufig sehr | |
simplifiziert, in der Bücherei konnte man damals nur in der | |
Märchenabteilung an die interessanten Geschichten kommen. Dazu kam der | |
Wald, in dem wir auch als Kinder spielten, und der für uns immer eine | |
„frontier“ war, eine Grenze zum Unbekannten. Dort konnte immer etwas | |
passieren, was im Garten nicht denkbar war. Die Imagination | |
verselbstständigte sich. | |
Ester stellt für Annie auch eine Aufgabe dar. Sie braucht Hilfe. So wird | |
„Kid-Thing“ auch zu einer Parabel über soziales Lernen, oder auch asoziales | |
Lernen, weil Annie ja von ihrem Vater, aber auch von sonst niemand Rat | |
bekommt. | |
In diesem Alter lernt man gerade den Unterschied zwischen Gut und Böse zu | |
begreifen, und vor allem die Grauzonen dazwischen. Wie verarbeiten Kinder | |
das? Annie hat ein etwas komplizierteres Leben, weil sie sehr auf sich | |
allein gestellt ist. So ist dieses „morality play“ für sie auch komplexer. | |
Dazu kommt, dass sie mit Ester eine menschliche Interaktion hat, wie sie | |
sonst in ihrem Leben fehlt. Zugleich ist aber eben unklar, inwiefern Ester | |
menschlich ist. | |
Ist die Welt von „Kid-Thing“ – ein alleinerziehender Vater, der mit Hühn… | |
besser kommuniziert als mit seiner Tochter, ein stromerndes Kind – | |
irgendwie repräsentativ für die soziale Wirklichkeit des ländlichen Texas? | |
Das sollte man natürlich nicht verallgemeinern, aber solche Familien gibt | |
es. Uns lag aber sehr daran, dass der Vater nicht gewalttätig ist. Er ist | |
wahrscheinlich Alkoholiker, aber er tut Annie nichts. Er ist vor allem | |
abwesend, er bemüht sich ja, aber seine Bemühungen sind hilflos. Es sollte | |
auch nicht so aussehen, als wäre sie einfach das „Produkt“ dieser Familie. | |
Jedenfalls ist „Kid-Thing“ nicht sehr erhebend für Menschen, denen vor | |
allem an „family values“ gelegen ist, wie es in Amerika häufig der Fall | |
ist. | |
Es fehlt eine Mutterfigur. Ester kommt dem noch am nächsten. Wir wollten | |
Annies Isolation verstärken durch das Fehlen einer weiblichen Figur. Zu den | |
wichtigen Erfahrungen der Kindheit gehört auch, dass die Eltern nicht | |
allmächtig sind. Sie wissen auch nicht so viel mehr, sie sind nur schon | |
länger da, manchmal haben sie es aber eben auch schon aufgegeben, das Leben | |
in den Griff zu kriegen. | |
Die Schauspielerin, die Ester spielt, bekommen wir nicht zu Gesicht. Sie | |
ist aber prominent besetzt. | |
Susan Tyrell ist eine meiner Lieblingsschauspielerinnen. Denken wir nur an | |
„Forbidden Zone“, „Fat City“, „Cry Baby“. Sie spielt meistens zieml… | |
theatralisch und bombastisch, „larger than life“. Sie hat auch nie so auf | |
ihr Image geachtet, wie das andere Stars tun, sondern war sehr offen. Sie | |
lebt seit einiger Zeit in Austin, weil ihre Familie hier ist. Wir wurden | |
Freunde, und als „Kid-Thing“ konkret wurde, sagte sie gleich zu. Ich weiß | |
gar nicht, ob wir den Film ohne sie gemacht hätten. Sie fügt dieses Element | |
des Fantastischen hinzu, und eine Menge Emotion: Angst, Trauer, Zorn, | |
Staunen, und alles nur mit ihrer Stimme. | |
Originell ist auch der Soundtrack von „Kid-Thing“, der gar nicht | |
unmittelbar in diese Welt zu passen scheint. | |
Am Anfang steht eine Komposition von François de Roubaix, ein verträumtes | |
Stück, aber auch ein wenig unheimlich. Diese Balance suchte ich für den | |
Film. Für den Original Score haben wir „The Octopus Project“ gewählt, auch | |
da bleibt immer ein Rest des Unheimlichen. Wir wollten auch keinen | |
durchgehenden Soundtrack machen (keine „Wall to Wall“-Musik), das ist für | |
meine Begriffe der Sache abträglich. Bei uns kommt die Musik mit mehr | |
Bedacht, zugleich vermischen sich Musik und natürlicher Ton. Auf das | |
Sounddesign haben wir viel Arbeit verwendet. | |
Manchmal wird die Filmerzählung mit der Musik beinahe autonom, die Handlung | |
hat Pause. | |
Ein Zwischenspiel – das ist etwas, was mit sehr angelegen ist. Musik | |
inspiriert mich eigentlich mehr als andere Filme. Die Musik, die ich so | |
höre, kommt dann nicht notwendig in den Film, aber sie prägt ihn indirekt. | |
Musik ist einfach geheimnisvoll, ich komme nicht dahinter, das ist perfekt. | |
Sie arbeiten mit Ihrem Bruder Nathan zusammen, der in „Kid-Thing“ auch | |
mitspielt. Wie kamen Sie zum Kino? | |
Ich wollte immer schon Filme machen, seit ich denken kann. Mein Bruder ist | |
zwei Jahre jünger, wir haben mit Super 8 und VHS begonnen. Ganz klassisch | |
haben wir Filme, die wir irgendwo gesehen haben, daheim nachgemacht. Aus | |
heutiger Sicht ist das vielleicht ein wenig peinlich, aber eigentlich war | |
das so, wie Annie auch das Leben erforscht. Wir waren kleine | |
Wissenschaftler und haben Experimente gemacht. Und plötzlich bist du 20 und | |
machst das immer noch. Du lernst aus deinen Fehlern, es gab aber nie eine | |
Unterbrechung, also ging ich zur Filmschule und schloss sie auch ab. Nathan | |
hat Computertechnik studiert. Er ist eher technisch interessiert, ich bin | |
eher der Kreative, so ergänzen wir uns. | |
22 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Bert Rebhandl | |
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