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# taz.de -- Cruising in „Der Fremde am See“: Wer hat Angst vorm Wels?
> Wer sich hingibt in der Liebe, gibt seine Grenzen auf. Davon erzählt
> Alain Guiraudies Spielfilm „Der Fremde am See“ - sonnig, körperlich und
> unheimlich.
Bild: Selbstpreisgabe ist lustvoll, die Bilder dazu abgründig und körperlich …
Vielleicht gibt es ein Ungeheuer. Einen Wels, der auf dem Boden des Sees
lauert. Vielleicht ist er fünf Meter lang. Oder zehn. Franck (Pierre
Deladonchamp) glaubt das nicht: „Das ist doch Blödsinn.“ Henri (Patrick
dAssumçao) ist sich nicht so sicher.
Die beiden Männer lernen sich in Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“
zu Anfang kennen und schließen Freundschaft. Franck ist jung und attraktiv,
er kommt zum Cruisen an den See; Henri ist eher füllig, etwas älter, er
trägt klobige Sandalen und T-Shirts, die über dem Bauch spannen. Bislang
habe er immer am anderen Ufer gesessen, erzählt er, da, wo die Familien
sind. Aber seine Freundin habe sich von ihm getrennt, jetzt habe er Ferien
und sitze gerne hier.
Etwa 50 Meter entfernt von seiner Lieblingsstelle treffen sich schwule
Männer, um sich zu sonnen, zu schwimmen und zu flirten. Regelmäßig
verschwinden sie in dem Wäldchen, das zwischen dem Strand und dem Parkplatz
liegt, haben Sex oder beobachten die anderen dabei. Guiraudie hat dabei
keine Scheu vor den expliziten Momenten. Man hat nicht den Eindruck, dass
er mit den Bildern von Erektionen, Blowjobs und Analverkehr schockieren
oder provozieren wollte.
Eher schaut er so neugierig hin, weil Sexualität eine Form von
Kommunikation, von menschlicher Begegnung ist, die es verdient, in all
ihren Formen und Nuancen erforscht zu werden. Und so behände wie Guiraudie
die Topografie seines Films ausmisst, den Parkplatz, das Wäldchen, den
Strand, das Wasser, Henris favorisierte Stelle, so behände filmt er die
Körper der cruisenden Männer.
## Ein Reigen des Wohlgefallens
„Der Fremde am See“ hat viel von einem Reigen sanft-sommerlichen
Wohlgefallens: Das Sonnenlicht bricht sich auf der Wasseroberfläche, der
Wind zaust an den Baumkronen, Vögel zwitschern, Kieselsteine knirschen
unter den Schritten, in der Dämmerung schwinden die scharfen Konturen aller
Gegenstände, und die Kamera schaut sich all dies mit gleich bleibendem
Interesse und in verlässlich sich wiederholenden Einstellungen an.
Aber die Idylle trügt, das lässt Henris und Francks Gespräch über den Wels,
diese vieldeutige Kreatur, ahnen. Michel (Christophe Paou) ein gut
aussehender, draufgängerischer Typ, wird zur Attraktion der Cruising-Zone;
er sieht aus wie ein Wiedergänger Tom Sellecks. Franck ist nicht der
Einzige, der auf ihn abfährt, und das ändert sich auch dann nicht, als er
eines Abends beobachtet, wie Michel seinen Geliebten unter Wasser drückt,
bis der nicht mehr auftaucht.
## Lust und Furcht
Spätestens in dieser Szene, die die Kamerafrau Claire Mathon aus der
Distanz heraus filmt, fährt in die sanfte Bukolik des Films etwas hinein,
was düster ist, etwas, was aus einer alten Fabel zu stammen scheint, aus
einer jener wuchtigen Erzählungen, mit denen sich Menschen über nicht
lösbare, existenzielle Verunsicherungen hinweghelfen. Die Soziologin Eva
Illouz hat einmal notiert, Sexualität sei unter anderem deshalb eine
beunruhigende Sache, weil sie ein Moment des Selbstverlusts umfasst.
Wer sich hingibt, verliert sich, gibt seine Grenzen auf, hört auf, ein klar
umrissenes Ich zu sein. Diese Selbstpreisgabe ist lustvoll, aber sie flößt
auch Furcht ein. Guiraudie findet dafür Bilder, die unbeschwert wirken,
aber abgründig sind und zugleich zu körperlich bleiben, als dass sie sich
durch Interpretation zähmen ließen.
“Der Fremde am See“ zählte im Mai beim Festival von Cannes zu den großen
Überraschungen. Als er im Juni in Frankreich in die Kinos kam, bewarben ihn
bunte, im Stil naiver Malerei gehaltene Plakate, der Künstler Tom de Pékin
zeichnete für sie verantwortlich. Im Vordergrund küsst sich ein Männerpaar,
im Hintergrund ist der Strand zu sehen, darauf Männer, die sich sonnen, und
weit hinten, eher hingetupft denn ausgemalt, ein Paar, das etwas tut, was
man als Oralsex werten kann. In den Gemeinden Versailles und Saint-Cloud,
beide wohlhabend, beide von Bürgermeistern, die der konservativen UMP
angehören, regiert, wurden die Plakate entfernt. Hat etwa jemand Angst vorm
Zehn-Meter-Wels?
19 Sep 2013
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Spielfilm
Film
Venedig
Filmfestival
Preisverleihung
Goldene Palme
Steven Soderbergh
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