# taz.de -- Transgender-Komödie „Tangerine L.A.“: Stolz und Sprachwitz in … | |
> Sean Baker lässt Trans*-Menschen vom Straßenstrich in Los Angeles | |
> erzählen: humorvoll, schnell und mit minimalem technischem Aufwand. | |
Bild: „Tangerine L.A.“ wurde komplett auf dem iPhone 5 gedreht | |
Ist es nicht vielleicht Zeit für einen neuen Weihnachtsfilm? Einen, der | |
„Das Wunder der 34. Straße“ von 1947 ablöst, in dem Maureen O’Hara als | |
abgeklärte Geschäftsfrau das Vertrauen in die Liebe wiedergewinnt? Einen, | |
der „Weiße Weihnachten“ von 1954 ersetzt, in dem Bing Crosby nach langem | |
Geschmalze George Clooneys Tante Rosemary heiraten darf? Und einen, der | |
„Tatsächlich … Liebe“ von 2003 alt aussehen lässt, in dem einzig Bill N… | |
als versoffener Ex-Rockstar den Christmas-Kitschreigen voller | |
Familienseligkeiten aufmischt? | |
„Tangerine L. A“., mithilfe von neuen anamorphotischen Linsen (ein | |
Verfahren, um schwache Bildqualitäten für das Kino zu adaptieren) komplett | |
auf dem iPhone 5 gedreht, räubert zwar inhaltlich bei den Themen jener | |
Weichzeichner-Klassiker: Weihnachten als das Fest der Liebe, des | |
Vertrauens, der Familie. Doch so konsequent und rasant dekonstruiert hat | |
diese Themen noch kein Film zuvor. | |
Denn auch unter der glutroten, heißen Sonne auf Los Angeles’ Straßenstrich | |
zwischen Santa Monica Boulevard und Highland Ave droht irgendwann der | |
Heiligabend. Und während Lichterketten traurig gegen die Helligkeit | |
anblinken, auf Parkplätzen Drogen konsumiert und in niedrigen | |
kalifornischen Häusern Bäume geschmückt werden, verwandelt sich die | |
Protagonistin Sin-Dee (Kitana Kiki Rodriguez), Transfrau mit Perücke und | |
funktionierendem Penis, schon am heiligen Morgen in einen Tornado auf zwei | |
langen Beinen. | |
## Wie ein Latino-Rohrspatz | |
Ihre beste Freundin Alexandra (Mya Taylor) steckt ihr, dass Sin-Dees Freund | |
und Zuhälter Chester sie in den 28 Tagen, in denen die Straßenprostituierte | |
im Knast saß, mit einer „echten Möse“, einer biologischen Frau, betrogen | |
hat – ein Skandal für Sin-Dee. Wie ein Latino-Rohrspatz schimpfend, | |
marschiert sie los, auf der Suche nach der Konkurrentin, von der sie nur | |
weiß, dass ihr Name mit „D“ beginnt, und faucht: „Die krieg ich! Ich hab | |
auch ’ne Möse, wenn ich den Schwanz zurückdrücke!“. | |
Der aus Armenien stammende Taxifahrer Razmik (Karren Karagulian) sucht | |
derweil im Höschen einer anderen Stricherin erfolglos nach seinem | |
Lieblingskörperteil und macht dem Mädchen klar, dass diese Ecke der Straße | |
für die großen Frauen mit den Schwänzen reserviert ist. Später sitzt er mit | |
seiner Familie unter dem schwer behangenen Baum und kann das Versprechen | |
nicht vergessen, dass er Alexandra gegeben hat: bei ihrer | |
Gesangsperformance am Abend zugegen zu sein. | |
Sin-Dee findet die ominöse Frau mit „D“, eine wilde Entführung nimmt ihren | |
Lauf, die durch Alexandras Auftritt einen kurzen Ruhepunkt erlebt. Und | |
während andere Haushalte beim Gingerbread sitzen, kommt es ausgerechnet im | |
„Donut Time“ zu einem sehenswerten Eklat mit Weinen, Zetern, Lachen und | |
falschen wie echten Liebesschwüren. Sogar das Wort „Weihnachtsdonut“ | |
geistert als Menüvorschlag und Zugeständnis an den Termin kurz durch die | |
Reihen der aufgebrachten Streithähne und -hennen. | |
Doch darum geht es gar nicht mehr: Das persönliche, freundschaftliche und | |
gesellschaftliche Drama, das Sin-Dee und Alexandra erleben, und das vom | |
Regisseur Sean Baker gemeinsam mit seinem Co-Drehbuchautor Chris Bergoch | |
humorvoll, schnell und raffiniert verzahnt im reinsten | |
Independent-Kauderwelsch inszeniert wird, lässt etwa Tarantinos Werk nach | |
Establishment aussehen. | |
## Realistisch, aber lustig | |
Baker, der in seinem herausragenden Film „Starlet“ bereits eine Geschichte | |
über eine tiefe Freundschaft beiläufig und unvoreingenommen teilweise im | |
Pornobusiness ansiedelte, benutzt auch den Transenstrich von Los Angeles ob | |
seiner schrägen Vögel nicht als bloße Deko, sondern lässt die dort lebenden | |
und arbeitenden Menschen selbst erzählen. | |
So stammt die Idee für die Geschichte von den Beteiligten, die auch im | |
wahren Leben befreundet sind, gemeinsam konsumieren und gemeinsam an den | |
Ecken stehen, an denen sie sich im Film ankeifen. | |
Regisseur Baker lernte die Alexandra-Darstellerin Mya Taylor in einem | |
LGBT-Zentrum kennen und war von ihrer Präsenz fasziniert „Ich bin sehr | |
offen, was meine persönlichen Erlebnisse angeht“, sagt Taylor in einem | |
Interview dazu, und nahm dem Regisseur das Versprechen ab, den Film zwar | |
realistisch, aber „möglichst lustig“ zu erzählen. Das unauffällige kleine | |
iPhone als ständiger Begleiter wurde dadurch zum einzig angemessenen Tool | |
für Authentizität, der Rest ist genuines Darstellungstalent. Denn bis auf | |
den armenischen Teil des Casts sind sämtliche Mitwirkende | |
LaiendarstellerInnen – und Lebensprofis. | |
Gedreht wurde die Tragikomödie, die im Vorspann durch entsprechende Musik | |
auf ihre formalen Wurzeln im Screwballgenre der 30er Jahre hinweist, für | |
100.000 Dollar, die besonderen Linsen wurden der Crew von einer Firma als | |
Prototypen zur Verfügung gestellt – für Smartphones befindet sich diese | |
Technik noch in der Entwicklung. Erschwerend kam dazu, dass während des | |
Drehs ein paar Straßen weiter die Golden Globes verliehen wurden – | |
andauernd, erzählte der Regisseur, musste der Dreh unterbrochen werden, | |
weil Unbeteiligte in den Set, also beispielsweise in den Donutladen | |
hineinliefen. | |
In seinem leidenschaftlichen, aber – trotz Alexandras anrührender | |
Gesangsszene – nie pathetischen Plädoyer für mehr Liberalismus gelingt es | |
Baker, das komplexe Thema Sexarbeit zwar in vielen seine Facetten, aber | |
eben nicht ausschließlich als von hoffnungslosen VerliererInnen bevölkerte | |
Vorhölle zu malen. Denn vor allem Herzlichkeit, Stolz, Freundschaft und | |
Sprachwitz bestimmen den Ton seiner Geschichte. | |
Durch die Herkunft der DarstellerInnen unterscheidet sich Bakers Film zudem | |
von den meisten anderen Spielfilmen, in denen SexarbeiterInnen eine Rolle, | |
besser gesagt: SchauspielerInnen die Rolle von SexarbeiterInnen spielen: | |
Diese hier erzählen gleichzeitig sich selbst. Und entscheiden damit völlig | |
autonom darüber, wie und wie viel sie von sich darstellen. | |
## Waschstraße, französisch | |
Auch intime, fast romantische Momente wirken auf diese Weise glaubwürdig, | |
und nicht nur um der Fallhöhe willen ins Drehbuch geschrieben: Sogar ein | |
gemeinsamer, mit einmal „französisch“ garnierter Waschstraßenbesuch mit | |
Freier und Prostituierter kann ein schöner Moment sein, wenn die | |
Beteiligten sich dabei entspannen und miteinander befreundet sind. Genau | |
wie die richtige Droge zur richtigen Zeit vielleicht auf Dauer nicht gesund | |
ist, aber durchaus zur besseren Stimmung beitragen kann. | |
Und wenn jemand mit den Worten „How are you? Are you ready for me?“ an ein | |
Auto mit einem potenziellen Interessenten herantritt, wenn Alexandra zu | |
ihrer Freundin sagt „Aber jemanden für Geld zu vögeln ist doch kein | |
Betrug!“, oder Sin-Dee angesichts des auf Armenisch geführten Streits | |
zwischen Ramzik und seinen Verwandten so lakonisch wie ignorant | |
konstatiert: „Jetzt reden sie Chinesisch“, dann steckt in diesen Worten | |
mehr als nur ein Gag: Ja, für Sin-Dee und ihre Darstellerin Kitana Kiki | |
Rodriguez ist das Verurteilen ihres Lebensstils tatsächlich eine fremde | |
Sprache. | |
Und damit bringt die Clique aus Transprostituierten, Freiern und Zuhältern | |
am Ende doch noch eine echte Weihnachtsfilmbotschaft unter die Leute. | |
Toleranz und Akzeptanz machen sich im Kerzenschein schließlich auch nicht | |
schlecht. Und unter der heißen, unweihnachtlichen kalifornischen Sonne | |
erst recht nicht. | |
7 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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