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# taz.de -- Festival „Unknown Pleasures“: Perlen des amerikanischen Films
> Ein Festival in Berlin präsentiert ab Freitag zwei Wochen lang ungeahnte
> Kostbarkeiten des aktuellen unabhängigen US-Kinos
Bild: „Experimenter“ (USA 2015) erzählt vom Gehorsam gegenüber Autorität…
Angesichts der globalen Omnipräsenz des amerikanischen Kinos verfällt man
auch in Berlin leicht der Vorstellung, einen ganz guten Eindruck zu haben
von aktuellen Entwicklungen im US-Kino. Just dann zücken die beiden
Berliner Kuratoren Hannes Brühwiler und Andrew Grant ein Schmuckkästchen,
lassen den Deckel aufschnappen, und wie ein Springteufel kommen lauter
Perlen des unabhängigen US-Kinos zum Vorschein.
Auch das achte „Unknown Pleasures“-Festival der beiden Kuratoren verzückt
vom ersten bis zum letzten Film. „Experimenter“, der Eröffnungsfilm, stammt
von Michael Almereyda. Er ist eine Art Werkbiografie Stanley Milgrams.
Milgram wurde in den 1960er Jahren schlagartig bekannt mit einer Reihe von
Experimenten zum Gehorsam gegenüber Autoritäten.
Probanden wurden aufgefordert, im Rahmen eines Rollenspiels als „Lehrer“
„Schülern“ für falsche Antworten Elektroschocks zu verabreichen. Die
Probanden wussten nicht, dass die „Schüler“ die Schocks nicht wirklich
bekamen und stattdessen mit vorher einstudierten Reaktionen reagierten.
Nahezu alle Probanden nahmen lieber in Kauf, dem „Schüler“ Schmerzen
zuzufügen, als sich der Autorität des Versuchsleiters zu widersetzen.
In „Experimenter“ gelingt Almereyda nicht weniger, als das Biopic aus dem
Zombiestadium der Hyperkonventionalität ins Leben zurückzuholen. Ausgehend
von den Milgram-Experimenten, zeichnet Almereyda das berufliche Leben
Milgrams nach. Spielszenen werden durchbrochen von Szenen, in denen Milgram
selbstreflexiv in die Kamera spricht, während die Handlung im Hintergrund
weitergeht.
Einige der Szenen spielen vor Fotos der Handlungsorte. Die theatrale
Verfremdung, derer sich Almereyda bedient, blockiert die im Biopic übliche
Naturalisierung, in der trotz der unvermeidlichen Reduktion vermeintlich
alles Wissenswerte über die Person im Film erzählt wird. Indem Almereyda
die Inszenierung sichtbar macht, ohne visuell allzu spröde zu werden,
gelingt ihm ein biografischer Film, der seine höhere Komplexität mit einer
besseren Verortung im Zeitkontext belohnt.
Wie in „Experimenter“ gelingt es auch Trevor Wilkerson in seinem Essayfilm
„Machine Gun or Typewriter?“ eine vielschichtige Ästhetik aus Spielszenen,
grafischen Elementen, assoziativen Aufnahmen und Archivmaterial zu einer
Erzählung zu verweben. Im Zentrum von „Machine Gun or Typewriter?“ steht
die fiktive letzte Sendung eines Piratenradiosenders, in der der
Protagonist sich in einem Monolog an die einstige Geliebte erinnert.
Entlang der Lebensgeschichte schweift Wilkersons Film durch Erinnerungen
und diverse Exkurse in die Geschichte von Los Angeles und der rassistischen
Repression. Indem die Tonspur mit dem Monolog des Protagonisten, der nur
wenige Male von Musik unterbrochen wird, die ganze Zeit im Zentrum von
„Machine Gun or Typewriter“ bleibt, fügen sich die disparaten Teile des
Films, die den Monolog mit begleiten, zu einem filmischen Ganzen.
Der neueste Film des Dokumentarfilmers Frederick Wiseman „In Jackson
Heights“ nähert sich in sorgfältig montierten Beobachtungen dem
schwirrenden Leben der diversen Initiativen und Gruppen des Viertels
Jackson Heights im New Yorker Stadtteil Queens.
Aus dem Nebeneinander und Miteinander der unzähligen Gruppentreffen in
Nachbarschaftszentren, Auftritten von weiblichen Mariachis, Gottesdiensten
und politischen Aufklärungskampagnen formt Wiseman ein Porträt einer
Nachbarschaft, die sich nach den Gangkämpfen der 1970er und 1980er Jahre
neu erfunden hat.
„Unknown Pleasures“ ergänzt den Überblick über das amerikanische
Independentkino der Gegenwart um eine Miniretrospektive zu Ed Pincus, einem
der Pioniere des amerikanischen Direct Cinema. Pincus war ein Pionier in
der Nutzung von direktem Ton, schrieb Ende der 1960er Jahre eines der
meistgelesenen Handbücher für unabhängiges Filmemachen in den USA und
realisierte bis in die 1980er Jahre eine Reihe zentraler Filme des Direct
Cinema.
Nach seinem Hauptwerk „Diaries“ zog sich Pincus auf eine Farm zurück und
züchtete jahrelang Pfingstrosen, bevor er sich 2007 nach dem Hurricane
„Katrina“ wieder dem Film zuwandte. Ed Pincus starb 2013 an Leukämie. Die
Begegnung mit Pincus’ Werk ist eines der zentralen unbekannten Vergnügen
des diesjährigen Festivals.
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
1 Jun 2016
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Kinofilm
Rezension
Filmfestival
Los Angeles
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