# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes 5: Rufst du mich nicht mehr an? | |
> In "Michael" wird ein Junge im Keller festgehalten, in "Play" kann man | |
> die Gewalt nur hören. | |
Bild: Im Spot der Journalisten: Regisseurin Maïwenn Le Besco. | |
Den Kindern wird übel mitgespielt. In "Play", einem Beitrag zur Quinzaine | |
des Réalisateurs, werden sie betrogen, bestohlen und verprügelt, und all | |
das von anderen Kindern. In "Michael", dem Debüt des Wieners Markus | |
Schleinzer (Wettbewerb), wird ein zehn Jahre alter Junge über Monate hinweg | |
in einem niederösterreichischen Kellerverlies festgehalten und | |
vergewaltigt; der Film indes legt den Schwerpunkt auf den Täter, einen | |
blassen Versicherungsangestellten namens Michael. | |
Der Wettbewerbsfilm "Polisse" der jungen französischen Regisseurin Maïwenn | |
kreist um eine Pariser Polizeieinheit, die sich dem Schutz von Kindern und | |
Jugendlichen verschreibt und dabei fast ausschließlich pädosexuelle Delikte | |
verfolgt. Und in "Le gamin au vélo" von den Brüdern Jean-Pierre und Luc | |
Dardenne, ebenfalls im Wettbewerb, wird ein zwölf Jahre alter Junge von | |
seinem überforderten Vater verlassen. "Rufst du mich nicht mehr an?", fragt | |
der Junge den Vater. "Nein", antwortet der und schließt die Tür vor der | |
Nase des Kindes. | |
So viel Kinderleid auf der Leinwand ist nicht leicht auszuhalten. Besonders | |
Schleinzers "Michael" will erst einmal verkraftet sein. Darf man das | |
überhaupt, einen pädophilen Mann in den Mittelpunkt eines Filmes rücken und | |
dessen Handlungen mit kühlem, detailversessenen Blick verzeichnen? Und | |
dürfen in so einem Film Elemente des Thrillers auftauchen, darf leise das | |
Echo der schwarzen Komödie hallen? | |
Schleinzer gelingen einige dichte Szenen, er beobachtet genau - etwa wie | |
der Protagonist Leberkäse für sich und den Jungen brät oder einen | |
Sonntagsausflug macht. In einer Anfangsszene steigt Michael in den Keller | |
hinunter, um den Jungen zum Abendessen zu rufen. Er öffnet die hellblaue | |
Tür, tritt zur Seite, links im Bild ist die Kellerwand mit dem | |
Sicherungskasten, rechts, wo das Zimmer des Jungen liegt, ist es schwarz, | |
weil der Strom ausgestellt ist. Bis zum Schnitt vergeht eine Weile, man hat | |
Zeit, die Dunkelheit in ihrer ganzen Undurchdringlichkeit wahrzunehmen. | |
## Truppe ständig unter Hochdruck | |
In Maïwenns "Polisse" sucht man solche ruhigen, genauen Momente vergeblich, | |
unter anderem, weil die Missbrauchsgeschichten nur einen Vorwand bilden, um | |
die innere Verfasstheit der Polizeitruppe darzustellen - und diese Truppe | |
steht ständig unter Hochdruck. Das hat in vielen Szenen einen Hautgout, | |
etwa dann, wenn eine Jugendliche, die in der Fiktion des Filmes 14 Jahre | |
alt sein mag, auf der Polizeiwache damit konfrontiert wird, dass sie ein | |
Video von sich auf eine pornografische Internetseite gestellt hat. | |
Während eine Beamtin dem Teenager ins Gewissen redet, rückt die Website mit | |
dem Video ins Bild. Man sieht also Aufnahmen, die "Polisse" der | |
Kinderpornografie zurechnet (natürlich wird die Schauspielerin volljährig | |
sein, das ändert aber nichts daran, dass die Figur erst 14 ist). Will ich | |
das sehen? Eher nicht. | |
Mehr Gedanken macht sich "Play" von dem schwedischen Regisseur Ruben | |
Östlund. Der Film folgt fünf schwarzen Jugendlichen, die anderen | |
Jugendlichen in einem miesen, manipulativen Spiel die Mobiltelefone | |
entwenden. Das eigentliche Geschehen trägt sich oft offscreen zu, wobei man | |
das, was man nicht sieht, jeweils hören und es sich deshalb gut vorstellen | |
kann. Auch "Play" erliegt manchmal einer deterministischen Idee von Gewalt, | |
schert daraus aber immer wieder aus - nicht zuletzt in einer | |
beeindruckenden Schlussvolte, in der sich schwedisches Wutbürgertum in | |
deprimierender Wucht entfaltet. | |
15 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Spielfilm | |
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