# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Ich möchte lieber nicht | |
> Jafar Panahi erhält die Carosse dor, und bei Nanni Moretti wird der | |
> Kardinal Melville Papst. | |
Bild: Am schönsten an "Habemus papam" ist, dass Regisseur Nanni Moretti auf Me… | |
Um zum Théâtre Croisette zu gelangen, muss man viele Treppen hinabsteigen; | |
der Saal liegt im zweiten Untergeschoss. Das Meer ist nicht weit, die | |
Luftfeuchtigkeit sorgt dafür, dass es nach nassen, getragenen Socken | |
riecht. Am Donnerstagabend wird hier die unabhängige Nebenreihe "Quinzaine | |
des réalisateurs" eröffnet. Bevor die belgische Slapstick-Komödie "La fée" | |
beginnt, wird die Carosse dor verliehen, der Preis des französischen | |
Regie-Verbandes. In diesem Jahr geht er an Jafar Panahi, der nicht | |
persönlich anwesend ist, weil er in Iran zu sechs Jahren Haft verurteilt | |
wurde. Auf der Bühne finden sich mehrere Filmschaffende ein, unter ihnen | |
Agnès Varda, Michel Piccoli, Olivier Assayas und der syrische Regisseur | |
Oussama Mohammed. Eine Verbandssprecherin betont, die Auszeichnung würdige | |
die künstlerischen, nicht die politischen Verdienste des Filmemachers. | |
Varda, bald 83 Jahre alt, trägt den für sie so charakteristischen, | |
zweifarbigen Pagenschnitt: oben grauweiß, unten tiefrot. Sie hält eine | |
kurze Laudatio auf Panahi. Er gebe "allen inhaftierten, bedrohten, | |
zensierten Künstlern ein emblematisches Gesicht". Varda versichert ihrem | |
iranischen Kollegen "unsere kollektive Unterstützung und unsere | |
Freundschaft", bevor sie dem Kulturminister Frédéric Mitterand das Wort | |
überlässt, und auch der findet die angemessene Tonlage zwischen Trauer und | |
Hoffnung, Pathos und aufmunternden Worten. "Es ist für uns alle | |
unvorstellbar", sagt er, "dass Jafar Panahi in den nächsten Jahren | |
eingesperrt sein wird." | |
Michel Piccoli taucht am Freitagmorgen wieder auf, diesmal allerdings nicht | |
leibhaftig, sondern auf der Leinwand des Grand Théâtre Lumière. In Nanni | |
Morettis Wettbewerbsbeitrag "Habemus Papam" spielt er einen Kardinal, der | |
zum Papst gewählt wird. Doch dieser Papst, der nicht zufällig Melville | |
heißt, ist von Gottes und der Kardinäle Votum so überfordert, dass er im | |
entscheidenden Moment nicht auf den Balkon des Petersdoms treten und die | |
Gläubigen begrüßen kann. Die Kardinäle sind ratlos, er selbst ist ratlos, | |
ein von Moretti selbst gespielter Psychoanalytiker wird konsultiert, doch | |
auch der ist ratlos: Wie soll er seine Arbeit machen, wenn beim | |
therapeutischen Vorgespräch mehr als hundert Kardinäle zuschauen? Wenn er | |
weder über die Kindheit, die Sexualität noch die Träume seines Patienten | |
reden darf? Wenn ihm schon im Vorfeld unmissverständlich klargemacht wird, | |
dass die katholische Vorstellung der Seele und die psychoanalytische | |
Vorstellung des Unbewussten unvereinbar sind? | |
Beim streng geheim gehaltenen Besuch einer anderen Analytikerin entkommt | |
Melville seiner Entourage; er vagabundiert nun durch Rom, schaut sich die | |
Berichterstattung zum Konklave im Fernsehen an, spricht im Autobus mit sich | |
selbst und lernt schließlich eine Theatertruppe kennen, die Tschechows | |
"Möwe" einstudiert. Im Vatikan wird unterdessen eine Farce inszeniert. | |
Damit niemand die Abwesenheit bemerkt, agiert ein Mitglied der | |
Schweizergarde im Apartment des Papstes als Stand-in, das von Zeit zu Zeit | |
die Vorhänge öffnet und schließt. Es gibt hinreißend komische Szenen in | |
"Habemus papam" - etwa die, in der die inneren Stimmen der drei, vier | |
Kardinäle, die für das Amt des Papstes favorisiert werden, zu hören sind. | |
Sie alle beten, dass die Wahl nicht auf sie fallen möge. Oder die, in der | |
sich die Kardinäle im Takt einer weichgespülten Version von Mercedes Sosas | |
Latinohymne "Cambia, todo cambia" wiegen. Alles, alles ändert sich. Am | |
schönsten an "Habemus papam" aber ist, dass Moretti in einer Zeit, der | |
nichts so heilig ist wie die Affirmation, auf den guten alten Schreiber | |
Bartleby aus Melvilles Erzählung vertraut: "Ich möchte lieber nicht." | |
13 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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