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# taz.de -- Filmregisseur Lav Diaz: „Die Filme enden nie“
> Der philippinische Starregisseur Lav Diaz spricht über seinen neuen Film
> „Norte“. Und darüber, wie die Marcos-Diktatur sein Land geprägt hat.
Bild: Ist Fabian (rechts) ein Philosoph, ein Krimineller oder ein Reaktionär?
taz: Herr Diaz, haben Sie eine Idee von Zeit, bevor Sie einen Film
beginnen?
Lav Diaz: Es gibt keine solchen Überlegungen. Ich weiß nie, wie lange eine
Arbeit wird – ich warte einfach ab. Wenn ich das Gefühl habe, dass der Film
eine richtige Richtung nimmt, dann folge ich ihr. Wenn das acht Stunden
dauert, dann dauert es so lang. Ich werde mich keinem Druck eines Formats
anpassen, nur weil dies dem sogenannten Markt entspricht: Scheiß auf den
Markt! Wenn der Film elf Stunden dauert, was soll ich tun? In „Norte“
dauerte die Geschichte 4 Stunden und 20 Minuten.
„Norte“ beginnt mit einer Szene im Café. Freunde diskutieren, Fabian, ein
ehemaliger Jurastudent, provoziert mit seiner radikalen Idee, selbst aktiv
zu werden, statt auf das Gesetz zu warten. Ein Anfang, der das Thema des
Films wie ein Lesekreis etabliert. Wie kam es dazu?
Ich habe nach einem Anfang gesucht, in dem alles dargelegt wird – eine
Plattform für den Film. Die Tendenz der Figur sollte klar werden: Es geht
um eine neue Politik. Fabian, dieser Ideologe, der vielleicht gar keiner
ist, sollte konfrontativ sein, das Publikum gleich einmal zum Denken
animieren. An dieser Stelle ist unklar, ob er ein Philosoph, ein
Krimineller oder ein Reaktionär ist. Es geht nicht nur um Politik, auch um
Philosophie, um das Leben selbst. Die Szene ist ein Aushang für die Figur,
der erste Diskurs. Danach geht alles los, die Fäden lassen sich leichter
weiterspannen. Ich habe alles während des Drehs geschrieben.
Schreiben Sie immer erst während des Drehs?
Normalerweise ja. Aber es gibt auch Filme, in denen ich ein Buch hatte. In
„Death of the Land of Encantos“ gab es kein Drehbuch, alles entstand
während des Drehs, oft in Gedichtform. Ähnlich lief es bei „Melancholia“,
da hatte ich mich eigentlich für einen anderen Film vorbereitet, dann aber
etwas völlig anderes gemacht. Wir fuhren auf die Berge, um zu drehen, aber
ich hatte plötzlich keine Lust mehr auf diesen Film – so warteten wir ab,
was passiert. Für „Norte“ habe ich zwei, drei Monate ein Drehbuch
vorbereitet, Rody Vera schrieb es. Während des Drehs habe ich wieder alles
verworfen.
Dabei erscheint der Film sehr strukturiert.
Wir haben die Figuren, auch einige Szenen beibehalten – und ein paar
Dialoge des alten Buchs.
Was beeinflusst diese Änderungen? Kommen Sie auf neue Ideen oder überzeugen
Sie die alten nicht mehr?
Ich habe diese Methode bei „Evolution of a Filipino Family“ entwickelt. Ich
habe für den Film zehn Jahre gebraucht, ein sehr schwieriger Prozess;
manchmal glaubte ich nicht mehr daran, dass ich ihn jemals beenden würde.
Damals habe ich damit begonnen, das bereits gedrehte Material nochmals
anzuschauen: Ich versuchte herauszufinden, ob ich schon genug hatte oder ob
ich mehr brauchte. Ich konnte diversen Fährten folgen, vielleicht ergab
sich etwas, vielleicht nicht. Das funktionierte, und daraus wurde meine
Methode. Der Prozess ist viel grundlegender, intuitiver, als wenn von
Anfang an viel feststeht. Der Grundverstand entscheidet, was passieren
wird, kein theoretisches Konzept. Ich habe mich bis zu einem gewissen Grad
von theoretischen Überlegungen befreien können, die mich am Arbeiten eher
gehindert haben.
Kann man sagen, es ist ein Konzept gegen falsche Kontinuität beim Erzählen?
Ja, weil ab einem bestimmten Moment vieles möglich wird. „Encantos“ ist in
Wahrheit ein Teil von „Evolution“ – die beiden sind eigentlich ein Film. …
ist wie ein Muster, das sich immer weiterentwickelt. Und ich muss nicht der
Sklave einer orthodoxen Erzählweise sein, innerhalb deren ich mich nicht
mehr bewegen kann. Mir geht es darum, meinen Blick zu befreien, um während
des Drehprozesses Dinge entdecken zu können. Natürlich spielt das Budget
auch eine Rolle. Es ist nicht schlecht, größere Budgets zu haben, weil man
die Mitarbeiter dann auch ernähren kann.
Zurück zu „Norte“: Für mich ist es ein Film über das Scheitern von Theor…
Die Erkenntnis kommt in Bezug auf Joaquin, der zweiten Figur neben Fabian,
unerwartet.
Theorien sind auch nur Konzepte: Wenn man sie anwendet, wird etwas ganz
anderes daraus. Eine Theorie kann sich diskursiv ausbreiten, aber der
Empirismus ist auf der Seite der Anwendung. Oft wird behauptet, dass sich
der Diskurs erst nach der Anwendung befreit, aber in den meisten Fällen ist
das nicht so. Theorien sind nur für Kaffee und Zigaretten gut.
Sind die beiden Figuren Stellvertreter einer Generation?
Fabian kommt aus meiner Generation, er ist ein Kind der Ära von General
Marcos. Marcos hat den Faschismus in unsere Psyche eingeschleust: Ein
starker Mann und grundlegende Regeln, hieß es, könnten unsere Gesellschaft
ändern. Das Konzept des großen Führers. Meine Generation, die während der
Marcos-Jahre aufgewachsen ist, hat sich davon nicht befreit. Marcos hat das
Kriegsrecht 1972 ausgerufen, dann 17 Jahre lang regiert und alles geprägt.
Er war ein paradoxes Genie.
Inwiefern?
Er hatte großen Verstand und hat diese Gabe vollkommen missbraucht. Man
kann sagen, er war der böseste Filipino, der je gelebt hat. Ich wollte
unbedingt in der Gegend drehen, wo er aufgewachsen ist, im Norden des
Landes. Es gibt dort ein besonderes Licht, dieses ändert sich schnell, auch
der Himmel hat verschiedene Farben. Wie kann solche Schönheit neben diesem
Menschen sein?
Im Film konfrontieren Sie das Böse in Person von Fabian mit Joaquin und
Eliza, die die unterste Gesellschaftsschicht repräsentieren. Wie entstand
diese gegenläufige Bewegung?
Mir ging es um eine Gegenüberstellung, eine sehr fundamentale Konfrontation
zwischen Gut und Böse. Diese Auseinandersetzung ist existenziell, ein jeder
führt sie in seinem Inneren. Fabian verkörpert das reine Böse, für Joaquin
wird das Gefängnis dagegen zur Metapher der Erleuchtung. Dazwischen findet
der Kampf Elizas statt, sie ist geerdet, kämpft mit den Problemen einer
Gesellschaft, die wir heute immer noch haben: eine massive Ungerechtigkeit.
Man kann sich fragen, wer hier alles Opfer ist: das Böse, das Gute oder
jene Figur, die einfach nur da ist wie Eliza.
Diese Gegenüberstellung forcieren Sie auch visuell. Ich hatte den Eindruck,
das Gefängnis ist im Film ein ungewöhnlich offener Ort. Wie kam es zu
dieser Umkehrung?
Ja, für Fabian gibt es kein Entkommen, alles wird immer enger. Bei Joaquin
ist alles da, wir können das Leben selbst in diesen Zellen sehen. Es ist
für ihn wie ein Innen, das nach außen blickt. Auch wenn man unter den
eingeschränkten Verhältnissen leben muss, kann man ein freier Mensch sein.
Es gibt zwar keine Gerechtigkeit für Joaquin, er ist unschuldig, aber er
entdeckt, dass es an ihm liegt, mit seinem Willen die Einstellung zu
ändern.
Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ ist eine weitere Referenz von „Norte…
Begreifen Sie denn Ihre Filme als Romane?
Wenn man Dostojewski und Tolstoi liest, stößt man auf so viele
Zwischenräume. Man fragt sich: Warum hat er sieben Seiten über diesen
Unsinn geschrieben? Aber wenn man zurückgeht, in die Philosophie, findet
man Diskurse, die sich ewig um dieselben ethischen Fragen drehen. Gerade
wenn Moral erörtert wird, die Frage des Bösen, dreht man sich unaufhörlich
im Kreis. Sicher ist es die Dauer in meinen Filmen, die genau diese Räume
für Auseinandersetzungen schafft, eine Reflexion und Kontemplation. Das
Leben geht immer weiter: Auch die Filme enden nie, weil der Diskurs
weiterläuft. Das Kino ist für mich auch ein solches Kontinuum.
30 Dec 2014
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
## TAGS
Philippinen
Schwerpunkt Berlinale
Film
Filmfestival
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