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# taz.de -- Afroamerikanische Feministin: Maryland Underground
> In den USA ist Harriet Tubman eine Legende. Die „Underground
> Railroad“-Tour führt zu den Schauplätzen ihres Lebens.
Bild: Harriet Tubman wird zur bekanntesten Fluchthelferin für Sklaven
Maryland, September 1849: Eine junge Frau liegt im Gras und träumt sich in
die Freiheit. Araminta Ross ist 27, schwarz und Sklavin, seit sie auf der
Brodess Farm geboren wurde. Wie ihre Mutter arbeitet sie als Pflügerin auf
einer Plantage. So beginnt „Harriet“: kein Action- oder Abenteuerfilm, kein
Rache-Italo-Western wie „Django Unchained“, kein Blockbuster mit den
üblichen Verdächtigen wie Halle Berry, Lupita Nyong’o, Morgan Freeman,
Chiwetel Ejiofor oder Christoph Waltz. Im Verlauf des Films wird Araminta
Ross von der Farm fliehen. Sie wird sich fortan Harriet Tubman nennen, zur
bekanntesten Fluchthelferin für Sklaven werden, sich für Frauenrechte und
die Rechte der Schwarzen einsetzen.
Die Brodess Farm gab es wirklich, genauso wie den General Store in
Bucktown, das Courthouse und den Anleger für Sklavenschiffe aus Afrika in
Cambridge – Orte, die nicht nur Teil der Filmhandlung sind. Sie sind
Etappen einer 230 Kilometer langen Rundfahrt, die Historiker
zusammengestellt haben: den „Harriet Tubman Byway“. Washington, D.C. liegt
nur gut zwei Autostunden entfernt, doch es ist eine Zeitreise.
„Tubman Country“ – so nennen die Bewohner stolz diesen Landstrich an der
Ostküste der USA. Hier, auf einer Landzunge zwischen Chesapeake Bay und
Atlantik, wurde Tubman 1822 geboren, hier wurde sie misshandelt und zur
Knochenarbeit auf den Feldern gezwungen. Hier fand sie zu körperlicher wie
mentaler Stärke und fasste den Entschluss, zu fliehen. Das Bild auf dem
Buchdeckel der berühmten Biografie von Sarah H. Bradford zeigt eine
zierliche, nur 1,50 Meter große Frau mit entschlossenem Blick.
## Durch Sumpfgebiete und Marschland
Der „Harriet Tubman Byway“ führt vorbei an verlassenen Sklavenorten und
Sumpfgebieten, durch Kiefernwälder und Marschland. Erste Station und
Herzstück der Tour ist das „Harriet Tubman Underground Railroad Visitor
Center“. Das Museum liegt südlich von Church Creek auf einer Waldlichtung.
Vor der Einfahrt zum 2017 eröffneten Gebäudekomplex mit Holzfassaden,
Glasfronten und zinkverkleideten Dächern ist der Rasen frisch angelegt.
Heute pilgern täglich Menschen aus der ganzen Welt hierher. Als Barack
Obama vier Jahre zuvor persönlich den Startschuss gab, war die Euphorie
groß: Der Präsident hatte den gesamten 190 Hektar umfassenden Landstrich
östlich der Chesapeake Bay zum „Harriet Tubman National Historical Park“
erklärt.
Die Obama-Administration war es auch, die das Konterfei von Harriet Tubman
auf den neuen 20-Dollar-Greenback bringen wollte – anstelle des
umstrittenen einstigen Präsidenten und Sklaverei-Befürworters Andrew
Jackson. Der Gedanke elektrisierte die afroamerikanische Gemeinschaft in
den USA. Doch die Trump-Regierung machte die Pläne rückgängig und verschob
die Entscheidung auf 2028.
Rangerin Angela Crenshaw trägt die typisch beige-grüne Nationalpark-Uniform
mit Wappen. Immer wieder werde sie gefragt: „Wo ist denn die U-Bahn? Wo
sind die Tunnel und Züge?“ Die Mittdreißigerin blickt belustigt durch ihre
goldgerahmte Sonnenbrille. „Ich erkläre dann, dass es sich um eine
Untergrundbewegung handelt, die sich für die Befreiung der Sklaven und die
Rechte der Afroamerikaner einsetzte.“
## Ein Netz von Helfern
Underground Railroad ist eine Metapher für ein Netz von Helfern, geheimen
Verstecken und verschlüsselten Nachrichten. Die Organisation diente dazu,
entlaufene Sklaven in sichere Staaten zu schleusen. Sie existierte Mitte
des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Bürgerkriegs. Das Vokabular des
Eisenbahnwesens diente als Tarncode: Man sprach von Bahnhöfen,
Stationsvorstehern, Passagieren und Schaffnern. Genau hier im Niemandsland
verlief die wichtigste Verbindung zwischen den Südstaaten, wo es die
Sklaverei gab, und den Nordstaaten, wo Ex-Sklaven wie Harriet Tubman in
Freiheit leben konnten.
Im Museum zeigt Crenshaw ein Ruderboot, mit dem Sklaven einst flüchteten,
dazu Exponate wie Ketten und Peitschen der Aufseher. Der nächste
Ausstellungsraum ist spärlich beleuchtet. Unter einem Nachthimmel mit
Polarstern hat man die nächtliche Landschaft nachempfunden. Alles soll so
aussehen wie zu Tubmans Zeiten.
Im kleinen Kino läuft „Harriet“. Hier haben wir uns mit Tina Wyatt
verabredet. Sie ist die Urururgroßnichte von Harriet Tubman. Für die
65-Jährige hat sich ein Lebenstraum erfüllt: Der erste abendfüllende
Spielfilm über ihre berühmte Verwandte hat es in die Kinos geschafft –
weltweit! Eine späte Genugtuung, mehr als 100 Jahre nach dem Tod der
Sklavenbefreierin: „Der Film geht mir sehr nah, auch wenn er allein auf den
Widerstand von Harriet Tubman fokussiert ist. Sie hat schließlich noch so
viel mehr erreicht.“ Tina Wyatt spricht mit fester Stimme. Sie strahlt
freundliche Entschlossenheit aus – ähnlich wie ihre Verwandte auf den
Fotos.
„Harriet konnte weder lesen noch schreiben, aber sie war eine
ausgezeichnete Strategin. Sie hatte diese Bauernschläue und konnte auch
witzig sein, und sie führte jeden in die Freiheit, der mitkommen wollte.“
Sie wisse, dass der Hollywood-Streifen kein Dokumentarfilm sei, sagt Tina
Wyatt mit Blick auf die eindimensionale Herangehensweise der Filmemacher.
Aber sie hoffe auf die Strahlkraft des Films: „Er animiert dazu, die ganze
Geschichte rund um die Underground Railroad zu erfahren – am besten, indem
man sich die Schauplätze östlich von Washington, D.C. anschaut.“
## Blick zurück
Tina Wyatt erinnert sich: „Die Museumsleitung kam auf meine Familie zu, lud
uns zu Workshops ein, fragte nach unseren Erinnerungen.“ Harriet Tubman und
ihre Mitstreiter der Underground Railroad erhielten eine erste, wenn auch
späte Würdigung. Jahrelang engagierte sich Tina Wyatt auch für die neue
20-Dollar-Note mit Tubmans Konterfei – erfolglos. „Das erinnert mich an
meine Jugend. Damals wurden wir ganz offen unterdrückt.“ Sie habe das
Gefühl, unter Trumps Präsidentschaft zurückversetzt zu werden in die
Vergangenheit.
In der Ausstellung tönen aus Kopfhörern die Erklärungen zu den Exponaten.
Immer wieder erzählte die Ex-Sklavin von Visionen. Seit einer schweren
Kopfverletzung litt sie an Schlafanfällen. Verlor sie das Bewusstsein,
glaubte Tubman in die Zukunft blicken zu können.
Auf dem zweispurigen Asphaltband geht es weiter nach Bucktown. Immer dabei:
die App zum Harriet Tubman Byway, die 36 Schauplätze der Sklaverei ausweist
– Marktplätze, auf denen Sklavenauktionen stattfanden, Wohnhäuser von
Fluchthelfern, Kanäle, die als Geheimweg dienten. Das Dorf Bucktown besteht
aus einer Farm, ein paar Häusern und dem „Bucktown General Store“. Drinnen
räumen Susan Meredith und ihr Mann auf, sie haben das kleine Holzhaus in
Eigenregie restauriert. Die Einrichtung ist original aus dem 19.
Jahrhundert.
Auf einem Herd steht noch die Teekanne, im Regal stapeln sich Schachteln
für Saatgut. Susan Meredith erzählt die Geschichte von Tubmans schwerer
Verletzung, als sei sie dabei gewesen: „Ein Sklavenjunge kam in den Laden
gerannt, hinter ihm der Aufseher Thomas Barnett. Um den Jungen aufzuhalten,
warf Barnett ein Zwei-Pfund-Gewicht nach ihm, traf aber Harriet an der
Stirn.“
Die tiefe Wunde über der Schläfe blutete zwei Tage lang. Aber Tubman
überlebte. Zeit ihres Lebens plagten sie Schmerzen, Ohnmachtsanfälle,
gleichzeitig wuchs ihr Gottvertrauen. „Das war nicht ich“, antwortete sie
auf die Frage, wie sie nachts auf ihren Befreiungsaktionen den Weg fand,
„Gott hat ihn mir gezeigt“.
Vom General Store von Bucktown geht es weiter westlich in den Blackwater
National Park. Nach einer knappen halben Stunde erreicht man das
Naturschutzgebiet. Der Zufluchtsort für Zugvögel beherbergt viele bedrohte
Pflanzen- und Tierarten. Der zentrale Aussichtspunkt endet an einem großen
Steg mit Holzgeländer und Ferngläsern. Es ist eine wilde, grüne
Marschlandschaft. Weißkopfadler haben hier ihr Revier. Kahle, abgestorbene
Baumstämme ragen in den Himmel. Zu Harriet Tubmans Zeiten bauten die Farmer
an den trockeneren Stellen Tabak, Baumwolle, Flachs und Mais an.
Die Sonne steht jetzt fast senkrecht am Himmel. Im Hintergrund durchkämmt
ein Reiher mit langen Schritten den Sumpf. Die App leitet über ein paar
einsame Straßenkreuzungen gen Osten. In der gleißenden Sonne taucht das
Gelände der Brodess Farm auf. Doch nur ein windschiefes Hinweisschild und
ein Zaun erinnern an die historische Bedeutung. Der Farmer Edward Brodess
war der „Besitzer“ von Harriets Mutter. Laut Kaufvertrag gehörten ihm damit
auch ihre Kinder.
## Die afroamerikanische Gemeinschaft
„Sklaven werden immer Sklaven bleiben, und deine Kinder werden mir gehören,
genau wie du mir gehörst“, sagt Edward Brodess im Kinofilm – und spricht
damit aus, was die damals knapp 27-Jährige aufbegehren ließ:
menschenverachtende Ungerechtigkeit. Ihre Kinder sollten als Sklaven
geboren werden? Für sie undenkbar.
Araminta Ross kehrte nach der Feldarbeit nicht zurück, sondern schlug sich
allein gen Norden durch. Die Handy-App verleiht dem Abschiedsschmerz
Ausdruck mit einem bekannten Gospel-Song. Eine Frauenstimme singt: „I will
meet you in the promised land!“ Dieses Land hieß Freiheit.
Harriet begab sich auf die Underground Railroad – auf eine
lebensgefährliche Reise durch wadentiefe Sümpfe, Kanäle und Wälder – von
Spürhunden und von Kopfgeldjägern gehetzt. Nur im Schutz der Nacht kam sie
vorwärts. Im Morgengrauen versteckte sie sich. Ihr Ziel: Philadelphia, das
den Sklaven Freiheit gewährte. Auf den unsichtbaren Gleisen flohen andere
über die Nordstaaten bis nach Kanada.
Die Spurensuche führt weiter nach Cambridge an der Chesapeake Bay, der
größten Flussmündung der USA. Die Kleinstadt mit Hafen war einst ein
wichtiger Sklavenhandelsplatz. Im 17. Jahrhundert machten hier die ersten
Sklavenschiffe fest. Heute dümpeln am Anleger Fischerboote vor sich hin.
Austernfischer hatten Reichtum gebracht. Heute sind die natürlichen
Muschelbänke leergefischt. Fluchthelfer werden diesen Ort auf ihren
Rettungsaktionen gemieden haben. Die Staatsmacht saß hier. Vor dem
Gerichtsgebäude im Stadtzentrum fanden regelmäßig Sklavenauktionen statt.
Zeitzeugenberichte auf der Tour-App beschreiben tumultartige Szenen.
Familien wurden auseinandergerissen, einige nutzten das Durcheinander zur
Flucht.
Am Ortseingang zeigt ein 50 Quadratmeter großes Wandgemälde Tubman in
Überlebensgröße. Um sie herum gruppiert sind weitere Persönlichkeiten der
afroamerikanischen Gemeinschaft. Maler Michael Rosato sagt, er habe Tubman
ins Zentrum seines Bildes gesetzt, weil sie für viele Afroamerikaner eine
Inspiration war: „Viele dachten: Wenn sie das kann, dann kann ich das auch.
Harriet hat ein geistiges Erbe hinterlassen.“
## Eine Kämpferin
Und so schließt sich der Kreis in Cambridge. Hier, wo heute die
Hauptstädter Erholung suchen, haben Verwaltung und Historiker ein Fenster
in die Vergangenheit weit aufgerissen. Tubmans Blick vergisst kaum ein
Besucher. Dabei geht es auch um die Würde der Afroamerikaner und um eine
späte Wiedergutmachung, mit der sich die jetzige US-Regierung so schwertut.
Tubman verhalf nicht nur Hunderten Landsleuten in die Freiheit, sie kämpfte
im Amerikanischen Bürgerkrieg für die Union gegen die Südstaaten,
kundschaftete Stellungen der Konföderierten aus und befreite Gefangene.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs hat man ihr trotz ihrer Verdienste eine
Pension verweigert. Erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod 1913, erhielt
sie eine monatliche Rente für ihre Arbeit als Krankenpflegerin. Sie wurde
91 Jahre alt.
In den Sümpfen von Maryland liegen heute keine Toten mehr, keine
Peitschenschläge sind mehr zu hören, keine Schreie des Schmerzes, der
Willkür, nicht die Hetzjagd der Hunde. Nur die Geräusche des Wagens, mit
dem man unterwegs durch eine idyllische Landschaft ist.
5 Apr 2020
## AUTOREN
Anja Steinbuch
Michael Marek
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