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# taz.de -- Film über politische Landschaft Chiles: Schatztruhe der Erinnerung
> Regisseur Patricio Guzmán nähert sich mit seinem Dokumentarfilm „Die
> Kordillere der Träume“ erneut seiner Heimat Chile, diesmal von den Bergen
> aus.
Bild: Die für Chile konstitutiven Berge der Kordilleren
Der Flug einer Kameradrohne über die mit Graffiti verzierte dachlose Ruine
eines ehemaligen bürgerlichen Wohnhauses zeigt Schrott und Gerümpel
zwischen den frei liegenden Mauern. Die „Ruinen meiner Kindheit“ nennt die
sanfte Stimme des chilenischen Filmemachers Patricio Guzmán aus dem Off
diesen Ort. Hier in Santiago de Chile wurde er 1941 geboren und machte
seine ersten Schritte in diese Welt.
Nach dem Militärputsch 1973 musste er wie viele andere das Land verlassen
und ging ins Exil, erst nach Kuba und Spanien und dann nach Paris, wo er
auch heute noch lebt und arbeitet. Sujet fast all seiner Filme blieb aber
das ferne Heimatland in Dokumentarfilmen wie „Chile, la memoria obstinada“
(1997), „El Caso Pinochet“ (2002) oder „Salvador Allende“ (2004).
Zuletzt entstand seit 2010 eine Trilogie, die aus dezidiert persönlicher
Perspektive einzelne markante Landschaften Chiles und die politische
Geschichte des Landes mit den Grundlagen des Lebens und des Universums
verknüpft. In „Nostalgia de la Luz“ (Nostalgie des Lichts) waren das die
Atacama-Wüste im Norden und das Licht ferner Galaxien im dortigen
Observatorium Paranal, in „[1][El botón de nácar“ (Der Perlmuttknopf)] der
von unzähligen Meereskanälen durchzogene chilenische Süden und die dortigen
Indigenen.
Und nun kommen in seinem jüngsten Film die Berge in den Blick, die das Land
von Nord bis Süd durchziehen und Geografie wie Mentalität seiner
Bewohner*innen prägen: Schutz und Sicherung nach außen wie Abschottung
zugleich. „Es gibt den Berg und den Ozean. Du bewegst dich in einem
Korridor, und dieser Korridor ist das, was unsere ziemlich sonderbare
Persönlichkeit formt“, sagte Guzmán in einem Interview.
## Die Kordilleren als Metapher
Die Kordilleren sind auch eine gute Metapher für die aktuelle Situation des
Landes, wo die Zeit langsamer geht als anderswo auf der Erde und sich
politisch seit Langem wenig bewegt. Doch für Guzmán sind sie auch eine
Brücke in das Land seiner Kindheit, wenn er von Europa in die alte Heimat
fliegt, wo er 1997 ein Dokumentarfilmfestival gegründet hat und immer
wieder arbeitet.
In Szene gesetzt werden die Berge im Film von Guzmán selbst und von
Kameramann Samuel Lahu in erhabenen Totalen als Panorama und aus der
Vogelschau auf Felsen und Gletscherbäche. Immer wieder schweift der Blick
aus den Lüften auch über Guzmáns zwischen zwei dieser Bergketten liegende
Geburtsstadt Santiago.
Doch es gibt auch eindrückliche Nahblicke auf schrundiges Gestein und
raschelndes Grün oder die aus den Bergen gewonnenen Pflastersteine am Boden
der Stadt, die erste Zeugen von Gewalt und politischer Verfolgung waren.
Dazu findet der Film immer wieder starke, oft auch überraschende, Bilder,
die die Berge und die Stadt mit Guzmáns ganz eigenen Erinnerungen
verknüpfen.
Wenn das Pinochet-Regime sich mit blutiger Gewalt an die Macht putscht,
visualisiert Guzmán dies mit dem Schnitt von einer spiegelnden
Straßenpfütze auf einen gewaltigen Vulkanausbruch, dessen Wolken den Himmel
verdunkeln.
## In der Aufbruchstimmung der Allende-Zeit
Und er besucht sein Wohnhaus jener Tage, wo er Anfang der 1970er in der
Aufbruchstimmung der Allende-Zeit mit Freunden an seinem großen
Dokumentarfilm „La Batalla de Chile“ arbeitete und das unversehens zum Ort
des Abschieds wurde: Nach dem Putsch habe er wie benommen zwei Tage zu
Hause mit seinen Töchtern gespielt, um diese abzulenken, erzählt er im
Kommentar.
Dann verhaftet ihn das Militär und bringt ihn wie so viele andere in das
berüchtigte Estadion Nacional, wo er zuvor schon einmal 1962 zu einem
Spiel der Fußball-WM gewesen war. Nach etwa zwei Wochen kommt er frei – und
kann die schon abgedrehten Filmrollen des begonnenen Projekts unversehrt
retten und zur Weiterbearbeitung nach Kuba bringen. So konnte „La Batalla
de Chile“ – ebenfalls als Trilogie – ab 1975 der Welt von den Ereignissen
in Chile erzählen.
Der jetzt fertiggestellten zweiten Trilogie gibt „Die Kordillere der
Träume“ mit dichten motivischen Verknüpfungen einen stimmigen Abschluss und
wurde dafür 2019 beim Filmfestival von Cannes als bester Dokumentarfilm
ausgezeichnet. Doch sie ist – nicht nur, wenn er Bilder der eigenen Familie
zeigt – auch Guzmáns persönlichster Film.
Dennoch kommen auch hier neben der eigenen Stimme einige andere Menschen zu
Wort, um die Spannungen zwischen der Poesie des Gesteins, blutiger
Unterdrückung und der Plünderung der Schätze der Natur auf die Leinwand zu
bringen. So der nach Spanien emigrierte Maler Guillermo Muñoz Vera, der
Bilder der Kordilleren für die Metrostation La Moneda gemalt hat. Die
Bildhauer Vicente Gajardo und Francisco Gazitúa, die den Grundstoff für
ihre Arbeiten mit schwerem Gerät dem Berg abringen.
## Schwer, nicht an USA von heute zu denken
Die Sängerin Xaviera Parra (Enkelin der großen Violeta) erzählt – als
jüngste und einzige weibliche Protagonistin im Film – davon, wie sie als
Kind zur Zeit der Diktatur von den vergeblich unterdrückten Ängsten und
Heimlichkeiten der Erwachsenen, den Razzien und der latenten Gewalt
verstört wurde. Und wenn der Schriftsteller Jorge Baradit von der
Dämonisierung des politischen Gegners unter Pinochet berichtet, fällt es
schwer, nicht an die USA oder Polen von heute zu denken.
Zum Kraftzentrum des Films wird aber früh der Kameramann und Filmemacher
Pablo Salas, der seit 1982 die Repression der Macht und den Widerstand
dagegen auf Video festhält und dabei „wundersamerweise“, wie es Guzmán
nennt, selbst nie in die Fänge der Repression geriet.
Salas ist ein Alter Ego Guzmáns, der in Chile bis heute die dokumentarische
Arbeit von „La Batalla de Chile“ fortführt. Sein riesiges Archiv bewegter
Bilder ist auch eine bedeutende Schatztruhe für die historische Erinnerung
des Landes. Oft wurden seine Aufnahmen bisher von anderen für TV-Dokus und
Filme genutzt.
Jetzt gewährt Guzmán – zwischen ausführlichen, oft schwer erträglichen
Ausschnitten aus Salas Filmsammlung – dem Mann Präsenz auch vor der Kamera.
Der verweist auf den systematischen Charakter der Gewalt und darauf, dass
gerade die extremen Grausamkeiten wie Folter und Morde nicht gefilmt werden
konnten.
## Kämpfe längst nicht zu Ende
Und er zeigt eine 20-Minuten-Videokassette aus den Zeiten, als das
Filmen noch eine gewichtige Materialschlacht war. Heute allerdings sei das
professionelle Filmen schwieriger geworden wegen der vielen jungen
Menschen, die ihr Handy zücken und dann im Bild herumstehen: So wird es
langsam Zeit für die Dokumentaristen, die Stafette an Jüngere
weiterzugeben.
Denn die Kämpfe sind längst nicht zu Ende. Die von Pinochet begründete
radikale neoliberale Wende wirke mit ihren Folgen von krasser sozialer
Ungleichheit, Vereinzelung und der kommerziellen Aneignung von Allgemeingut
und Bodenschätzen bis heute fatal, sagt Salas.
So sitzt der knapp 80-jährige Guzmán, der am Dokumentarfilm besonders das
ständige Improvisieren liebt, derzeit an einem neuen Projekt, das sich der
Jugendrevolte der letzten Jahre gegen diese Ungerechtigkeiten wie die
Privatisierung der Bildung und die noch aus der Pinochet-Zeit stammende
Verfassung widmet.
„Ein riesiges und gewichtiges Thema, das mich an die Bilder von damals in
Pablos [Salas] Archiv erinnert“, sagt Guzmán. Die Reisebeschränkungen wegen
Corona haben die Proteste und den geplanten Dreh erst mal gestoppt. Doch
danach werde das Aufbegehren weitergehen, ist er sich sicher. Das Filmteam
jedenfalls ist schon gebucht.
15 Jul 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Silvia Hallensleben
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