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# taz.de -- Rezension zu Filmdrama „Waves“: Therapie in Wellenform
> Trey Edward Shults erzählt in „Waves“ die Geschichte einer
> afroamerikanischen Familie aus der Perspektive eines jungen, obsessiven
> Sportlers.
Bild: Renée Elise Goldsberry und Kelvin Harrison Jr. in „Waves“
Es ist ein Leben im Taumel. Ob die junge Sportskanone Tyler (Kelvin
Harrison Jr.), Stolz des Highschool-Ringer-Teams und seines Vaters Ronald
(Sterling K. Brown), mit Freund*innen durch Florida cruist, beim Training
Runden läuft oder Kampfpartner auf die Matte drückt: Um das Talent, den
Ehrgeiz, den Druck des 18-Jährigen dreht sich alles. Im wahrsten Wortsinn
auch die Kamera – in der ersten Hälfte von Trey Edward Shults’ drittem
Langspielfilm bildet die Bewegung den Rahmen der Geschichte.
Tyler, obsessiv, begabt, testosterongesteuert, scheint über genug
jugendliche Energie zu verfügen, um mit dem Kameratempo, mit den Kreisen
und Wellenformen, die sie beschreibt, mitzuhalten. Waghalsig, aber
selbstbewusst jongliert er die Probleme an den Schnittstellen seines
Lebens: seinen Vater, der ihm einbläut, immer nur das Beste zu geben, der
selbst ein Top-Ringer war und dem täglichen, anstrengenden Schultraining
noch ein paar Stunden zu Hause dranhängt. Seine Freundin Alexis (Alexa
Demie), die er weder als Lover noch als Sportstar enttäuschen will. Seine
zunehmenden körperliche Probleme, die er – in Form einer verletzten
Schulter – in seinem rigiden Netz aus Zwängen nur durch Schmerzmittel
ignorieren kann.
Tyler, der Ringer, ringt auf seine Art um sein Verbleiben auf der
Sonnenseite dieses sonnigen Staats. Im Hintergrund fühlt man die Konflikte,
die diese gutsituierte afroamerikanische Familie durchleben musste, um
überhaupt dort anzukommen, wo sie ist. Am Sohn hängt viel. Dass dieser
Druck sich irgendwann entlädt, ahnt man.
Jene Explosion endet für Tyler im Gefängnis. Und Shults, der auch das
Drehbuch schrieb und seine ineinanderfließenden Geschichten mit einem
prominenten, durch Beats und Rhymes geprägten Soundtrack vom
Nine-Inch-Nails-Gründer Trent Reznor und dem Produzenten Atticus Ross
untermalen lässt, schlägt in der zweiten Hälfte ein anderes Kapitel auf:
Wenn Tyler der König seiner Highschool war, dann ist seine jüngere
Schwester Emily (Taylor Russell) höchstens eine untergeordnete Hofdame.
Der Duft von Familienaufstellung
Shults’ Film wird – in der zweiten Hälfte noch mehr – zu einer emotional…
Familienaufstellung, einer genauen Beobachtung der Rollen, die Geschwister
oft schon als Kleinkinder antizipieren, in denen sie sich festsetzen. Denn
Emily ist ruhig, strebsam, zurückhaltend – in der ersten Filmhälfte hätte
man sie fast übersehen können, weil ihr Bruder sämtliche Aufmerksamkeit
inhaliert.
Aber Emily beginnt zu blühen, als ihr Bruder verschwindet, wo für ihn die
Zukunft vorbei zu sein scheint, sieht sie Land und erfährt Hoffnung. Sogar
eine erste und wunderschön tollpatschig inszenierte Liebe durch den weißen
Mitschüler Luke (Lucas Hedges) lässt Shults sie erleben. Der linkische
junge Mann spricht sie eines Tages vor der Schule an, lädt sie auf einen
Kaffee ein – die Kamera bleibt dabei auf ihrem verwunderten Gesicht, Lukes
liebenswertes Gestammel hört man nur aus dem Off. „Awesome“, wiederholen
die beiden Schüchternen am Ende immer wieder in Ermangelung weiterer
Kommentarideen, „awesome“ – sie scheinen gleichermaßen überrascht, dass…
tatsächlich klappt.
Der Duft von Familienaufstellung verschwindet in der Liebesgeschichte nicht
– auch Lukes Vaterbeziehung ist kompliziert bis dramatisch, auch hier muss
gelernt, gerungen, geweint werden. Emily wird durch ihn und seine
Erlebnisse ein Weg gezeigt, der eigenen, traumatisierten Familie zu
begegnen.
Themen wie Rassismus und Klassenunterschiede
Shults, an dessen [1][eigenwilliger Independent-Handschrift] und großer
Begabung viele Hoffnungen hängen, konzipiert in „Waves“ eine fulminante
Ästhetik – anders als seine beiden Filme zuvor, „It comes at night“ und
„Krisha“, erinnert „Waves“ an die elastischen Kameraflüge von Terrence
Malick und dessen intuitive Erzählform. Doch Shults’ ästhetische
Entscheidung hat auf die Dauer auch etwas Manieriertes und Anstrengendes.
Der Film scheint sich geradezu in seinen Bildern zu suhlen. Und verliert
damit auch die Sinnhaftigkeit der Motive etwas aus den Augen: Ist das
Drama, das Tyler zustößt, wirklich plausibel? Ist der Vater, der seine
eigenen Erfahrungen rücksichtslos und besessen auf die kaputten Schultern
seines Sohnes überträgt, tatsächlich derartig unsensibel? Müssen jene
klassischen Familienkonflikte immer in tränenreichen, dramatischen
Aussprache-Höhepunkten aufgelöst werden – diffundieren sie in vielen Fällen
nicht auch eher unauffällig in das Vergessen? Und wieso braucht Emily
wiederum einen männlichen Helfer, einen Ersatzbruder in Form ihres
Freundes, um ihr Lösungen für die eigenen Probleme anzubieten?
Dennoch funktioniert „Waves“ als sinnliche Gestaltungstherapie – vor jeder
Analyse oder Lösung steht schließlich die emotionale Einsicht, die
emotionale Erfahrung. Darüber hinaus berührt der Film Themen wie Rassismus
und Klassenunterschiede auf einer rein instinktiven Ebene und dringt damit
vielleicht sogar tiefer ein, als es ein klassischer Diskurs geschafft
hätte: am Bewusstsein vorbei. Direkt ins Herz.
15 Jul 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Jenni Zylka
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