| # taz.de -- Neuer Roman von Alejandro Zambra: Ein chilenischer Poet | |
| > „Fast ein Vater“ erzählt von Liebe, Dichtung und Vaterschaft. Zambra | |
| > verknüpft darin individuelles Handeln mit der Realität in Chile. | |
| Bild: Ein Microbus fährt durch den Stadtteil Providencia, Santiago de Chile | |
| In seinem jüngsten Roman „Fast ein Vater“ setzt der chilenische | |
| Schriftsteller Alejandro Zambra seine virtuose Auseinandersetzung mit | |
| Literatur und den biografisch inspirierten Erfahrungen der Postdiktatur in | |
| die Gegenwart fort. | |
| Carla und Gonzalo lernen sich um 1990 nach einem Konzert der chilenischen | |
| Band Electrodomésticos in Santiago kennen. Den herrschenden sozialen | |
| Widrigkeiten zum Trotz – sie wohnt im bürgerlichen Stadtteil La Reina und | |
| besucht eine private Mädchenschule, er lebt in Maipú und geht auf eine | |
| staatliche Schule im Zentrum – werden die beiden Teenager ein Paar. | |
| Während sie die winterlichen Nachmittage vor dem Fernsehprogramm im | |
| Wohnzimmer der Eltern verbringen, erkunden sie, gemeinsam unter einem | |
| schweren Wollponcho aus Chiloé sitzend, heimlich ihre Körper. Nach diesem | |
| lustvollen Spiel ist der erste Geschlechtsverkehr besonders für Carla eine | |
| riesige Enttäuschung. Bald darauf trennt sie sich von Gonzalo. Erfolglos | |
| versucht er, seine Freundin mit eigenen Gedichten zurückzugewinnen oder | |
| zumindest zu beeindrucken. | |
| In „Frühwerk“, diesem ersten Teil des 459-seitigen Romans, gelingt es | |
| Zambra überzeugend, die Stimmungslage jugendlichen Erlebens seiner | |
| Generation in den Jahren des zögerlichen Übergangs zur Demokratie | |
| festzuhalten. Thematisch knüpft der 1975 in Santiago de Chile geborene | |
| Autor damit [1][an frühere Veröffentlichungen wie „Bonsai“] oder | |
| „Ferngespräch“ an. | |
| ## Wiedersehen nach neun Jahren | |
| Neun Jahre später begegnen sich Gonzalo und Carla zufällig wieder beim | |
| Tanzen in einem in Santiagos Nachtleben beliebten Gay-Club. Sie gehen | |
| danach zu ihm. Dieses Mal können beide den Sex ungezwungen und ausdauernd | |
| genießen. Interessiert findet Gonzalo heraus, dass Carla alleinerziehende | |
| Mutter des sechsjährigen Vicente ist und notgedrungen in der Anwaltskanzlei | |
| ihres Vaters als Sekretärin arbeitet. Mit ihrem Sohn lebt sie wieder in dem | |
| Haus, das Gonzalo bereits aus seiner Jugend kennt. | |
| Leidenschaftlich verliebt, zieht er bei ihnen ein. Er will immer noch | |
| Dichter werden und unterrichtet in einem Vorkurs für die Universität. Für | |
| Vicente ist Gonzalo mal der große Bruder, mal der nachsichtige Onkel und | |
| irgendwann in der Patchworkfamilie auch fast ein Vater. | |
| Zambra erzählt diese Geschichte mit Humor und lässt sie unvermittelt in | |
| Tragik umschlagen. Unbedacht entgleitet dem Paar das gemeinsame Glück. | |
| Allein geht Gonzalo mit einem Promotionsstipendium nach New York. | |
| Vicente ist inzwischen achtzehn Jahre alt und kann sich an das | |
| Zusammenleben mit Gonzalo kaum noch erinnern. Doch träumt auch er, wie | |
| einst sein Stiefvater, davon, Dichter zu werden. | |
| Dem Drängen seines leiblichen Vaters, sich für ein Studium zu entscheiden, | |
| will er nicht nachgeben und liefert überzeugende Argumente: „Es hat keinen | |
| Sinn, dass du dich verschuldest, um mir die Universität zu bezahlen. Ich | |
| habe gesagt, ich studiere, sobald die Universität gratis ist.“ | |
| ## Musterland des Neoliberalismus | |
| Bemerkenswert nebensächlich lässt Zambra gesellschaftliche Konditionen und | |
| die realen Debatten darüber im Roman durchscheinen. Die umfassende | |
| Privatisierung der Bildung im Musterland des Neoliberalismus hatte in Chile | |
| bereits vor zehn Jahren [2][zu massiven Studentenprotesten geführt]. Doch | |
| erst Ende 2019, ausgelöst durch die Erhöhung der Metropreise, [3][formierte | |
| sich ein so breiter sozialer Widerstand, der das historisch längst | |
| überfällige Verfassungsreferendum durchsetzte.] | |
| Auch wenn der chilenische Schriftsteller, der seit einigen Jahren in | |
| Mexiko-Stadt lebt, diese überraschenden Ereignisse nicht vorhersehen | |
| konnte, gelingt ihm doch eine präzise Beschreibung jenes | |
| Spannungsverhältnisses zwischen dem individuellen Handeln seiner | |
| Protagonisten und der sie prägenden kollektiven Verhältnissen. | |
| Vicente verliebt sich in die etwa zehn Jahre ältere New Yorker Journalistin | |
| Pru, die nach persönlicher Krise und Odyssee in Santiago gelandet ist, um | |
| für einen Magazinbeitrag über chilenische Lyriker zu recherchieren. (Im | |
| Original erschien der Roman unter dem Titel „Poeta chileno“). Bereitwillig | |
| bietet sich Vicente an, Prus Vorhaben als ihr Dolmetscher zu begleiten. | |
| Diese Episode nutzt der Autor für eine genauso provokante wie liebevolle | |
| Annäherung an die Dichtung seines Landes. Mit spürbarem Vergnügen lässt | |
| Zambra in diesem dritten Teil bekannte oder weniger bekannte real | |
| existierende Personen der lokalen Literaturszene zu Wort kommen und dabei | |
| die Grenzen zwischen Doku und Fiktion ineinanderfließen. | |
| ## Fiktives Treffen mit Nicanor Parra | |
| In der Erzählung gelingt es Pru sogar, ein Treffen mit dem hundertjährigen, | |
| 2018 verstorbenen Lyriker Nicanor Parra zu arrangieren. Und Vicente lernt | |
| nach einer turbulenten Dichterparty den Poeten und Bohemien Sergio Parra | |
| kennen, der im Roman wie in der Realität eine Szenebuchhandlung in Santiago | |
| betreibt. Dort beginnt der Junge bald darauf auszuhelfen. | |
| Auch Gonzalo und Vicente treffen am Ende wieder aufeinander – nicht als | |
| Ex-Stiefvater und -sohn, sondern als gleichgesinnte Bewohner „eines | |
| literarischen Landes, in dem die Lyrik auf kuriose, irrationale Weise | |
| Bedeutung hat“. | |
| 5 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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