# taz.de -- Schriftsteller über Literatur aus Chile: „Distanz zwischen Ich u… | |
> Alejandro Zambra spricht über seinen neuen Erzählband „Ferngespräch“, | |
> lähmende Jahre der Postdiktatur und die Teilhabe an der Geschichte. | |
Bild: Der chilenische Literaturprofessor und Schriftsteller Alejandro Zambra. Z… | |
taz.am wochenende: Herr Zambra, nach zwei Romanen liegt nun Ihr neuer Band | |
„Ferngespräch“ in deutscher Übersetzung vor. Wie entstand die Idee zu | |
diesem Format, das elf Erzählungen in einem Buch zusammenbringt? | |
Alejandro Zambra: Ich hatte immer wieder Erzählungen geschrieben und | |
dachte, ich könne sie zusammen veröffentlichen. Doch dann gefielen sie mir | |
nicht und ich begann zwei davon zu korrigieren. Dadurch veränderten sie | |
sich komplett und ich begann weitere zu schreiben. Die Anmutung, | |
gleichzeitig an verschiedenen Büchern zu arbeiten, gefiel mir. Im | |
Allgemeinen genießen Erzählungen weniger Sichtbarkeit als Romane. Trotzdem | |
mag ich dieses Buch besonders, weil die Geschichten so unterschiedlich | |
sind. | |
Vor allem die ersten Erzählungen mit deutlich biografischem Hintergrund | |
lesen sich wie mögliche Fortsetzungen oder Erweiterungen Ihrer Romane „Die | |
Erfindung der Kindheit“ und „Bonsai“, in denen Sie persönliche Kindheits- | |
und Jugenderfahrungen in Chile während der Pinochet-Diktatur der 1980er und | |
der Übergangsphase zur Demokratie in den 1990er Jahren verhandeln. Was | |
verbindet die Geschichten miteinander? | |
Ja, die Sichtweise gefällt mir, denn eigentlich schreibt man doch immer am | |
selben Buch. Was sich verändert, ist die Welt und man selbst natürlich | |
auch. | |
Aber gibt es so etwas wie einen roten Faden in „Ferngespräch“? | |
Ursprünglich hatte ich sehr viel Geschichten, die ich aber aussortierte. | |
Die elf blieben übrig, auch weil ich in ihnen etwas Wiederkehrendes | |
entdeckte. Was mich in der Literatur besonders interessiert, ist die | |
Distanz zwischen dem Ich und dem Wir. Trotzdem war mir zunächst nicht klar, | |
dass diese Texte auf die ein oder andere Weise um die Frage nach | |
Kollektivität und Individualität kreisen. Wann bedeutet beispielsweise, | |
„ich“ zu sagen, Verantwortung zu übernehmen – und wann, egozentrisch zu | |
sein. Wann bedeutet Wir das Erfüllen einer Utopie und wann eine Lüge? Diese | |
Spannung hat mich schon immer beschäftigt. Und eigentlich handeln diese | |
Erzählungen alle vom Dazugehören und Nichtdazugehören. | |
In „Eigene Dokumente“, der ersten Erzählung im neuen Band, erinnern Sie | |
sich daran, wie die fröhlichen Geschichten der Großmutter unweigerlich böse | |
ausgingen. „Bonsai“, Ihren ersten Roman von 2006, beschrieben Sie selbst | |
als „eine leichte Geschichte, die schwer wird“. Was lässt sich aus so einer | |
überraschenden Dramaturgie entwickeln? | |
Mich interessiert das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem | |
Privaten, aber auch zwischen Humor und Tragik, wie Sie es andeuten. Unsere | |
Generation war es gewohnt, nicht zu lachen, weil man sehr schnell auf | |
unsicheres Terrain geriet, auf dem das Lachen unmoralisch wurde. Das hat | |
uns irgendwie gelähmt und führte auch dazu, dass wir dachten, wir hätten | |
selbst überhaupt keine Geschichte zu erzählen. Mehr noch als eine | |
literarische Idee ist das in Chile etwas real Empfundenes – dass deine | |
Geschichte nicht dazugehört oder du sie nicht erzählen willst, weil es | |
andere viel traurigere oder wichtigere Geschichten gibt. | |
In „Ferngespräch“ schreiben Sie über die alltäglichen Ereignisse und | |
Erinnerungen, über gewöhnliche Menschen und Familien der chilenischen | |
„clase media“. In knapper Form und präzisen Bildern skizzieren Sie dabei | |
das lebhafte Porträt einer Gesellschaft, die blind gegenüber den eigenen | |
Verletzungen und Deformationen der Vergangenheit ist. In welchem Verhältnis | |
bedingen sich für Sie Inhalt und Form beim Schreiben? | |
Ich glaube, das ist eine Frage, die sich nur schreibend beantwortet. Für | |
mich persönlich ist Schreiben immer ein Ort für Erkundung gewesen. Wir | |
sprachen gerade von Spannungsverhältnissen. Es wäre irgendwie gekünstelt, | |
diese einfach durch Ansichten aufzulösen. Ich habe den Eindruck, dass meine | |
Bücher weniger mit Meinungen als mit deren Infragestellung zu tun haben. | |
Das ist das Schöne der Narration. | |
„Ich denke, dass die Geschichte so nicht enden kann … Aber so endet sie.“ | |
Immer wieder wechseln Sie die Erzählebenen und spielen so mit der | |
literarischen Form, mit Fiktion und Dokument. Warum? | |
Obwohl ich darin nicht unbedingt eine Konstante sehe, empfinde ich doch | |
Genres oft als übertrieben rein. Mir gefallen zum Beispiel keine Gedichte, | |
die zu sehr nach Gedicht klingen, oder Romane, die wie Romane geschrieben | |
sind. Doch manchmal passiert es einfach, dass der Text in eine andere | |
Richtung drängt. Das will ich nicht unterdrücken und lasse es zu. So sind | |
einige der Geschichten in „Ferngespräch“ näher an der traditionellen | |
Erzählung, andere ähneln vielleicht mehr der Chronik. | |
Einzelnen Geschichten im Buch sind Widmungen vorangestellt – „Ich rauchte | |
hervorragend“ zum Beispiel ist der mexikanischen Schriftstellerin Valeria | |
Luiselli und ihrem Partner Àlvaro Enrigue gewidmet. Was verbirgt sich | |
dahinter? | |
Das ist etwas ganz Normales. Wir sind Freunde. Gemeinsam haben wir über | |
Literatur diskutiert und dabei zu viel geraucht. Tatsächlich habe ich erst | |
vor 20 Tagen mit dem Rauchen aufgehört. | |
In einer der Erzählungen Ihres neuen Buches machen ein chilenischer | |
Literaturstipendiat und seine argentinische Freundin in Mexiko-Stadt die | |
verstörende Erfahrung einer Taxientführung. Auch Sie leben seit Kurzem in | |
der mexikanischen Hauptstadt. Brauchten Sie Abstand zur chilenischen | |
Realität? | |
Nein, die Entscheidung, hierher nach Mexiko zu ziehen, hat nichts | |
Literarisches. Und tatsächlich fühle ich mich auch gar nicht weit entfernt | |
von Chile. Aber ich erinnere mich an einen Aufenthalt 2001 in Madrid. Das | |
Leben dort war so anders. Damals fühlte man sich tatsächlich weit weg von | |
zu Hause. | |
Ihre Generation Anfang der neunziger Jahre, nach dem Ende der Diktatur, | |
beschrieben Sie als wie betäubt und Literatur als ein Mittel, um diesen | |
Zustand zu verlassen. Heute unterrichten Sie selbst an der Universität in | |
Santiago. Welchen Eindruck haben Sie von Ihren Studenten? Welches | |
Versprechen verbinden die mit Literatur? | |
Damals war es für uns wichtig zu entdecken, dass es in der Literatur, aber | |
auch in der Musik oder Kunst eine Kommunikation und eine Sprache gab, die | |
nicht an Funktion gebunden war. Heute erscheint mir die Generation der | |
Achtzehn- oder Zwanzigjährigen viel aufgeweckter. Sie behaupten ihren Platz | |
in der Welt mit viel mehr Selbstverständlichkeit. Trotzdem bedeutet sich | |
für Literatur zu entscheiden, immer noch den langsamen, unsicheren und | |
nachdenklicheren Weg zu wählen. Darin liegt eine große Schönheit. | |
12 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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