| # taz.de -- Biografie in Briefen: Malerin Emma Reyes: Lernen, was Ungerechtigke… | |
| > „Das Buch der Emma Reyes“ macht mit einer Malerin aus Kolumbien bekannt. | |
| > Ihr rätselhaftes Leben begann in den Elendsvierteln Bogotás. | |
| Bild: Emma Reyes – uneheliches Kind und Künstlerin. Ihre Briefe traten eine … | |
| Aufgewachsen in einem fensterlosen Verschlag in der Nähe einer Müllkippe | |
| verbrachte Emma Reyes, 1919 geboren, ihre ersten Lebensjahre. Zusammen mit | |
| der älteren Schwester Helena und einem kleinen Jungen namens „Floh“ wurde | |
| sie dort nur mit dem Nötigsten versorgt, in einem Viertel Bogotás und von | |
| einer Frau, die sie Señora Maria nannten. Und die möglicherweise ihre | |
| Mutter war. | |
| Doch während einer gemeinsamen Reise verlässt Señora Maria die Kinder | |
| endgültig. Die beiden Mädchen bleiben als Waisen zurück und landen in einem | |
| von Nonnen mit harter Hand geführten Kloster ohne Kontakt zur Außenwelt. | |
| Erst nach viele Jahren, schon fast erwachsen, gelingt es Emma schließlich, | |
| diesem Leben hinter Mauern zu entfliehen. Nach einer Odyssee durch | |
| verschiedene Länder Lateinamerikas gelangt sie Anfang der 1940er Jahre nach | |
| Argentinien. Dort, in Buenos Aires, beginnt sie zu malen. | |
| Dank eines Stipendiums kann sie 1947 nach Frankreich reisen. Später wird | |
| ihre Adresse in Paris zum Treffpunkt und zur Anlaufstelle für zahlreiche | |
| kolumbianische Schriftsteller und Künstler in Europa. Diego Rivera, Rufino | |
| Tamayo oder Atahualpa Yupanqui zählen zu ihren Freunden. | |
| Doch über ihre Vergangenheit und traumatische Kindheit schweigt die | |
| Malerin. Bis 1969 ein langjähriger Freund, German Arciniegas, Emma | |
| vorschlägt, ihm in Briefen über diese Zeit zu berichten. Sie akzeptiert – | |
| jedoch nur mit dem Versprechen, dass ihre Korrespondenz nicht an Dritte | |
| weitergereicht und erst zehn Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht werden | |
| darf. | |
| ## Die Vergangenheit in Briefen | |
| Bis 1997 schreibt die ehemalige Analphabetin so dem kolumbianischen | |
| Romancier und Kulturwissenschaftler 23 außergewöhnliche Briefe, die nun | |
| auch in einer deutschen Übersetzung – von zahlreichen ausdrucksstarken | |
| Zeichnungen begleitet – unter dem Titel „Das Buch der Emma Reyes: Eine | |
| Kindheit in 23 Briefen“ vorliegen. | |
| „Nichts entging uns, keine Miene, kein Wort, kein Geräusch, keine Farbe, | |
| wir sahen alles ganz klar.“ So erklärt Emma Reyes im 10. Brief die | |
| überraschend detaillierten Erinnerungen an den Alptraum ihrer Kindheit. | |
| Trotz der zeitlichen Distanz versucht Reyes der frühen Wahrnehmung kein | |
| nachträgliches Wissen hinzuzufügen. Sie schildert aus der unmittelbaren, | |
| schmerzlichen aber auch überwältigend selbstverständlichen Perspektive des | |
| Kindes das Elend, die Vernachlässigung und die Ausbeutung – jedoch auch die | |
| wenigen kostbaren und genossenen Momente der Freude. | |
| „Das Buch ist ein Wunder“, schrieb der Schriftsteller Daniel Alarcón und | |
| Übersetzer der englischsprachigen Ausgabe des Originaltitels „Memoria por | |
| correspondencia“ in seinem Vorwort 2015. „Allein dass dieses Buch | |
| existiert, ist außergewöhnlich.“ Und tatsächlich war die | |
| Erstveröffentlichung der Briefe in Kolumbien knapp zehn Jahre nach Emma | |
| Reyes’ Tod glücklichen Umständen geschuldet. Über Umwege in einem kleinen | |
| Kunstbuchverlag in Bogotá erschienen, wurde das literarische Werk der | |
| unbekannt gebliebenen Künstlerin in Kolumbien überraschend zum besten Buch | |
| des Jahres 2012 gewählt. | |
| ## Uneheliche Kinder | |
| Eindrücklich und lebendig erzählt geben Reyes’ Kindheitserinnerungen einen | |
| Einblick in die von Gewalt und Vorurteilen geprägte Klassengesellschaft | |
| jener Zeit in Kolumbien. Oligarchie und katholischen Kirche kultivierten | |
| ihre Doppelmoral und verteidigten ihre Privilegien. Aus einer | |
| außerehelichen Verbindung hervorgegangen wuchsen Emma Reyes und ihre | |
| Geschwister vernachlässigt in ärmlichsten Verhältnissen auf – in der | |
| sozialen Hierarchie ganz unten, nur noch von der indigenen Bevölkerung | |
| gefolgt. | |
| Vornehm gekleidete Herren tauchten sporadisch bei ihnen auf. Keiner dieser | |
| Männer gibt sich als Erzeuger zu erkennen. Und eines Tages wird der neu | |
| geborene Sohn der Señorita Maria vor einer fremden Haustür abgelegt. Reyes | |
| beschreibt den Schmerz: „Ich glaube, in dem Moment habe ich mit einem | |
| Schlag gelernt, was Ungerechtigkeit ist und dass ein Kind von vier Jahren | |
| sehr wohl den Wunsch verspüren kann, nicht mehr weiterzuleben …“ | |
| Doch während das Leben mit Señora Maria noch winzige Freiräume bot, bestand | |
| der Alltag im Kloster für Emma nur noch aus unsichtbar verrichteter Arbeit. | |
| Von früh bis spät – immer den Teufel im Nacken – nähten und stickten die | |
| Mädchen unermüdlich in den Werkstätten für das kolumbianische Militär, die | |
| Damen der Bourgeoisie, den Bischof oder sogar den Papst. | |
| ## Vor den Sünden der Welt schützen | |
| Zu ihnen allen unterhielten die Nonnen enge Beziehungen. „Unser aller Leben | |
| war ausgerichtet auf zwei Ziele, die miteinander einhergingen: so viel wie | |
| möglich arbeiten, um uns unser Essen zu verdienen, und unsere Seele zu | |
| retten, wie die Nonnen sagten, indem wir uns vor den Sünden der Welt | |
| schützten.“ | |
| 1997 hat Emma Reyes ihren autobiografischen Bericht mit der gelungenen | |
| Flucht aus dem Kloster im 23. Brief an German Arciniegas beendet. Trotz | |
| bemühter Recherchen nach der erfolgreichen Veröffentlichung blieb die | |
| Rekonstruktion ihres ungewöhnlichen Lebenswegs lückenhaft und ihre | |
| tatsächliche Herkunft ungeklärt. Die Rechte an der Veröffentlichung ihrer | |
| Briefe vermachte Emma Reyes einem Waisenhaus in Bogotá. | |
| 29 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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