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# taz.de -- GaleristInnen über Protest in Chile: „Wir standen kurz vorm Refe…
> Wie steht es um die chilenische Protestbewegung für eine
> Verfassungsreform? Ein Gespräch mit den BetreiberInnen der Galería
> Metropolitana aus Santiago.
Bild: Ana María Saavedra und Luis Alarcón (M.) im Januar 2020 in der Galeria …
Die Galería Metropolitana befindet sich in Pedro Aguirre Cerda, am
südlichen Rand von Santiago de Chile. Seit 1998 betreiben Ana María
Saavedra und Luis Alarcón den unabhängigen Kunstraum in einem industriellen
Anbau ihres Wohnhauses. Das folgende Gespräch mit der
Literaturwissenschaftlerin und dem Kunsthistoriker wurde während der im
Stadtteil verhängten Ausgangssperre via Skype geführt. Die Galerie ist
geschlossen und die Bewohner können das Haus nur für die notwendigsten
Einkäufe verlassen. Derzeit werden in Chile regelmäßig die Namen der
Kommunen veröffentlicht, die wegen erhöhter Infektionszahlen ab 22 Uhr des
Folgetages in Quarantäne gehen müssen. Oder nach Wochen wieder daraus
entlassen werden. Aktuell sind im Land über 40.000 Fälle von Covid-19
registriert.
taz: Frau Saavedra, Herr Alarcón, Ende März hat die Coronapandemie auch
Chile erreicht. Noch vor einem halben Jahr beeindruckten die Bilder der
Hunderttausenden, die in Santiago für soziale Gerechtigkeit auf die Straße
gingen, die internationale Öffentlichkeit. Was ist seitdem passiert?
Luis Alarcón: Die im Oktober begonnenen Proteste und die aktuelle Pandemie
sind zwei aufeinanderfolgende Ereignisse mit großer Wirkung für Chile,
unseren Bezirk Pedro Aguirre Cerda und die Galerie. Ende 2018 hatten wir
uns mit „Strategien zur Umleitung des Neoliberalismus“ ein neues
kuratorisches Thema vorgenommen. Die Idee war es, das ökonomische Modell,
in dem wir in Chile leben, künstlerisch zu reflektieren und alternative
Wege zu denken. Wir arbeiten eigentlich immer mit einer Art kollektivem
Programm, zu dem wir Künstler, Kuratoren, die Nachbarschaft und Besucher
einladen, um ausgehend von der Kunst gemeinsam Überlegungen anzustellen.
Ana María Saavedra: Wir konnten zuletzt beobachten, wie perfekt und fest
sich das Modell etabliert hatte und selbst wir in unseren Diskussionen uns
nicht mehr außerhalb dessen vorstellen konnten – autonom und unabhängig.
Die einzige Möglichkeit erschien uns, minimale [1][Spielräume und Brüche zu
finden]. Das System zu demontieren oder zu beseitigen, daran war nicht zu
denken. Aber mitten in diesen zögerlichen Überlegungen wurden wir dann am
18. Oktober 2019 von einem sozialen Weckruf überrascht. Das war für uns
völlig unvorhersehbar gewesen.
In jenen Tagen schriebt ihr in einer Nachricht: „Es ist unglaublich, was
passiert. Wir hatten gedacht, dass Chile für immer in tiefem Schlaf
versunken ist.“
Saavedra: Noch eine Woche vorher, am 11. Oktober, hatten wir Schweizer
Künstler empfangen, die während eines Aufenthalts in Chile zu unserem
Jahresthema recherchieren und arbeiten wollten. Ich erinnere mich an die
Unterhaltung mit ihnen, wo wir uns einig waren, dass das neoliberale System
nicht zu verändern sei. Vor allem, weil die Leute, obwohl es ihnen
miserabel ging, sich nicht zu rühren schienen. Und dann, nur eine Woche
später, passiert so etwas. Das konnten wir nicht glauben.
Alarcón: Es war beeindruckend zu erleben, wie sich von einem auf den
anderen Tag die soziale Dynamik völlig gewandelt hat. Die Menschen auf der
Straße und vor allem die jungen Leute. Wir hatten diese Generation aus der
Distanz als entpolitisiert und nur mit den Bildschirmen ihrer Smartphones
verbunden wahrgenommen. Man wusste nicht, was sie dachten, und hielt sie
für verloren. Aber zum Glück waren ausgerechnet sie es, die diese Bewegung
angestoßen und die Windrichtung geändert haben.
Wie sichtbar war der Wandel?
Es war interessant, wie sich auch das System der Kunst und Kultur
veränderte. Während die Institutionen und Museen bald geschlossen blieben,
gingen Kunststudenten und Autodidakten genauso wie viele etablierte
Künstler auf die Straße. Ganz Chile und besonders die Hauptstadt Santiago
verwandelte sich in ein einziges großes offenes Kunstwerk. Keine Wand und
kein Denkmal, das in dieser jugendlichen und sozialen Revolte nicht in
einer Intervention bearbeitet worden wäre.
Um welche Forderungen ging es bei den Protesten?
Vor allem um ganz grundlegende Bedürfnisse wie eine öffentliche
Gesundheitsversorgung und Bildung. Wenn du kein ausreichendes Einkommen
hast, wirst du eine gute Ausbildung nicht bezahlen können. Und wenn du eine
ernste Krankheit hast, aber kein Geld, dann wirst du an der fehlenden
medizinischen Behandlung in der Warteschlange oder zu Hause sterben.
Alarcón: Die [2][Grundlage für die soziale Ungerechtigkeit] im Land, die
brutal ist und sich auf wirklich alle Bereiche unseres Alltags auswirkt,
bildet die Verfassung, die während der Diktatur unter Augusto Pinochet 1980
verabschiedet wurde und bis heute Gültigkeit hat. Deshalb ist der größte
Gewinn der jüngsten politischen Ereignisse die Einigung auf ein Referendum
zur Verfassungsänderung.
Saavedra: Diese Volksabstimmung war für den 26. April angesetzt.
Und dann kam Covid-19.
Saavedra: Wegen der Pandemie wurde das Plebiszit auf den 25. Oktober
verschoben. Das hat nicht nur all die neuen Verbindungen und die
entstandene Energie unterbrochen, es hat auch den in Chile so verbreiteten
Diskurs der Angst wieder befördert.
Alarcón: Aber diese [3][soziale Revolte ist in Chile] einmalig. Nicht
einmal im Sommer, im Januar und Februar, ist die Bewegung zum Stillstand
gekommen. Ständig gab es wieder Mobilisierungen. Der Platz der Würde, die
frühere Plaza Italia, sowie Teile der Alameda wurden von den Demonstranten
besetzt.
Saavedra: Nicht nur in Santiago protestierten die Leute, sondern auch in
allen anderen Städten bis in den äußersten Süden des Landes.
Alarcón: Neben den Demonstrationen kam es zu vielfältigen Zusammenkünften.
Überall bildeten sich sogenannte Räte, um die Entwicklung einer neuen
Verfassung zu diskutieren – in den Wohnvierteln, in den Gewerkschaften, an
den Universitäten und innerhalb der Kunst und Kulturszene. Auch in unserer
Galerie fanden verschiedene Nachbarschaftsversammlungen statt. Die
Regierung und der Kongress hatten zugestimmt. Wir standen kurz vor dem
Referendum. Das Datum vor Augen ermöglichte es uns, gemeinsam über die
Zukunft des Landes nachzudenken.
Welche Auswirkungen haben nun Quarantäne und Ausgangsbeschränkungen auf den
Prozess der Demokratisierung in Chile?
Alarcón: Statt die Verbreitung des Virus zu bekämpfen und einzudämmen,
verwaltet die Regierung Piñera die Pandemie. Es ist offensichtlich, dass
die Krise ihr dient, den eingeleiteten Prozess umzukehren. Die Kanäle der
Kommunikation sind von den rechten Bürgermeistern beherrscht. Jeden Tag
sieht man im Fernsehen den Gesundheitsminister oder Piñera mit neuesten
Meldungen zu Covid-19.
Also nutzt Präsident Sebastián Piñera die Maßnahmen, um seine beschädigte
Position wieder zu festigen?
Saavedra: Natürlich. Auf der einen Seite hat er das #Bleibzuhause
eingeführt. Klar, das ist aktuell angezeigt und wird überall gemacht. Doch
darüber hinaus knüpft Piñera nun an seine während der sozialen Mobilmachung
begonnene Rhetorik an. Über die Protestierenden urteilte er, es seien
[4][lauter Kriminelle], die alles stehlen würden, und rief die Bevölkerung
dazu auf, im Haus zu bleiben, weil auf der Straße ein Krieg stattfände. Und
heute spricht er von der nationalen Einheit und einem mächtigen Feind, der
da draußen steht.
18 May 2020
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## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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