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# taz.de -- Feministisches Manifest aus Chile: In der Wut vereint
> Die Performance des feministischen Kollektivs LASTESIS ging 2019 viral um
> die Welt. Nun erscheint ihr Manifest „Verbrennt eure Angst!“
Bild: Kollektiv LASTESIS: Ihre Performance „Un violador en tu camino“ wirkt…
Am 20. November 2019 luden Sibila Sotomayor, Daffne Valdés, Paula Cometa
und Lea Cáceres, das Künstlerinnenkollektiv LASTESIS, Mitstreiterinnen zu
einer gemeinsamen Performance auf die Plaza Aníbal Pinto in Valparaiso ein.
Die dort Versammelten skandierten lautstark „Ein Vergewaltiger auf deinem
Weg“, einen Auszug aus einem unvollendeten Theaterstück: „Y la culpa no era
mía ni dónde estaba ni cómo vestía“ (Und es war nicht meine Schuld, nicht
wo ich war, nicht was ich trug).
Wenige Tage später inszenierten abermals Tausende die wütende Anklage mit
verbundenen Augen auf den Straßen der chilenischen Hauptstadt Santiago.
Rasant verbreiteten sich die Aufzeichnungen über die sozialen Netzwerke und
machten die feministische Aktion zu einer internationalen Meldung in den
Nachrichten. [1][Das vereinte die Forderungen der Frauen unüberhörbar mit
der chilenischen Revolte.] Die sozialen Proteste hatten sich im Oktober
2019 zunächst an der Erhöhung der U-Bahn-Preise entzündet.
Trotz vielfältiger Repressionen und den Einschränkungen durch die
Covid-19-Pandemie mündeten sie ein Jahr später erfolgreich in einem
Referendum zur Verfassungsänderung.
[2][Doch auch in anderen Ländern und Städten wie Mexiko, Lima, Paris,
Madrid oder Buenos Aires übernahmen Frauen die Choreografie] von „Ein
Vergewaltiger auf deinem Weg“, um gegen sexuelle Gewalt und Femizid zu
protestieren. Das internationale Medienecho traf die Initiatorinnen
unvorbereitet – beförderte andererseits aber auch Abwehr und allerhand
Verschwörungstheorien im Land.
## Geteilte Erfahrung
Obwohl die Künstlerinnen die vielfache Übernahme ihrer Aktion begrüßen,
wollen sie in dem Zusammenhang von „Erfolg“ nicht sprechen. Zeigt doch die
große Resonanz deutlich, wie sehr die Erfahrung patriarchaler Gewalt von
Frauen geteilt wird – nicht nur in Lateinamerika.
Für LASTESIS (Dt.: die Thesen) geht es um die Verbreitung feministischer
Theorien und deren Übersetzung in Formen der Kunst und des Aktivismus. Für
ihre Forderungen benutzen sie die Straße und den öffentlichen Raum als
wichtigste Bühne. Darüber hinaus hat das Kollektiv nun ein 160-seitiges
Manifest verfasst, das am 8. März zum Weltfrauentag erscheinen wird.
In „Verbrennt eure Angst“ verknüpfen Sotomayor, Valdés, Cometa und Cácer…
ihre Alltagserfahrungen mit denen anderer Frauen und Personen, die sich
nicht binär definieren oder sich als Mitglied der LGBTQIA+ Community
begreifen. Sie erlebten psychische, sexualisierte oder ökonomische Gewalt,
auf der Straße, bei der Arbeit, in der Familie oder in ihrer Beziehung. Sie
kennen überhebliche Belehrung und demütigende Bevormundung. Als Jugendliche
wurde ihnen die Rocklänge der Schuluniform abgemessen.
Mit einem programmatischen WIR reflektieren die Autorinnen die eigene
Sozialisation und die gesellschaftlichen Bevorzugung von Männern. Und sie
erinnern an die Ermordungen von Lucía Pérez in Argentinien, Jessica Tejeda
in Peru oder Nicole Saavedra in Chile. Wie zahlreiche andere Femizide in
Lateinamerika blieben diese Verbrechen ungestraft oder wurden von der
Justiz nur schleppend verfolgt.
## Plötzliches Aufbegehren
„Chile wacht auf“ – Ende 2019 brachte die Losung auch Erstaunen über das
plötzliche Aufbegehren gegen soziale Ungerechtigkeit im Land zum Ausdruck.
Zu perfekt erschien das neoliberale Modell etabliert, um eine Veränderung
des politischen Systems noch für möglich zu halten.
„Patriarchat und Kapital – dieses Bündnis ist fatal“. So hatte LASTESIS,
inspiriert von der feministischen Theoretikerin Silvia Frederici, ein
frühes Theaterstück benannt. In einem Lied darin hieß es: „Der Klassenkampf
ist nicht zu verstehen, solange wir nicht sehen, dass die Arbeiterklasse
aus zwei Klassen besteht: die Männer privilegiert, die Frauen dominiert.“
Dieser Aspekt wird auch in der aktuellen gesellschaftlichen
Auseinandersetzung in Chile von einigen aus der Linken immer noch gerne
ignoriert und der Feminismus als ein zweitrangiges, weniger dringliches
Anliegen angesehen, so die Erfahrungen der Künstlerinnen. Auf die männliche
Borniertheit reagieren sie genervt. „Sie haben noch nicht begriffen, dass
wir uns nicht noch einmal am Katzentisch abspeisen lassen, dass wir Teil
der Diskussion sind (…)“
Für ihre subversive Praxis dissidenter Körper gibt es historische
Vorbilder. So erinnert LASTESIS auch [3][an den 2015 verstorbenen
Schriftsteller und Performance-Künstler Pedro Lemebel]. Als homosexueller
Künstler und Aktivist richtete er [4][den Blick auf das marginale Chile]
und provozierte mit seinen divenhaften Auftritten nicht nur das reaktionäre
Lager, sondern auch seine kommunistischen Parteigenossen.
## Repressive Gewalt
In den zurückliegenden Monaten ging die chilenische Polizei oft mit roher
Gewalt gegen die Demonstrant*innen vor. Mindestens 23 Menschen starben,
über 2300 wurden verletzt, davon [5][fast die Hälfte durch Gummigeschosse].
Viele von ihnen wurden an den Augen getroffen. Manche erblindeten für
immer.
Unter diesem Eindruck veröffentlichte das Kollektiv im Mai 2020 ein Video,
in dem sie in roten Latzhosen vor der Polizeiwache in Valparaiso stehen.
„Und die Bullen verfolgen uns, blockieren die Ausgänge unserer Häuser,
provozieren, mischen sich unter die Protestierenden und setzen alles in
Brand …foltern, vergewaltigen, zerstören, machen uns blind.“ Aus dem Off
sprechen sie ihren zornigen Text.
Dass Performances und aktivistische Interventionen in der aktuellen
Auseinandersetzung nicht in einem geschützten Raum stattfinden und dadurch
auch drastische institutionelle Reaktionen hervorrufen, erfuhren LASTESIS
in diesem Fall postwendend. Die Carabineros erstatteten Anzeige gegen sie
wegen „Beleidigung der Ordnungsmacht“ sowie „Aufruf zur Gewalt“.
In wenigen Wochen, am 11. April, werden in Chile die 155 Delegierten
gewählt, die gemeinsam den Entwurf zu einer neuen Verfassung ausarbeiten
sollen. Dann wird das Gremium zur Hälfte von Frauen besetzt sein.
7 Mar 2021
## LINKS
[1] /GaleristInnen-ueber-Protest-in-Chile/!5683801
[2] /Feministischer-Protest-aus-Chile/!5644620
[3] /Nachruf-auf-Pedro-Lemebel/!5022525
[4] /Autor-Seplveda-gestorben/!5679244
[5] /Gewalt-gegen-Proteste-in-Chile/!5643053
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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